01.09.2022

Der Einbruch des Schicksals in die Banalität

White Noise
The Ad(d)am(s) Driver Familiy
(Foto: © Netflix/ Filmfestspiele Venedig)

Eine überraschend zeitgemäße Don-De-Lillo-Verfilmung White Noise von Noah Baumbach eröffnet Venedig – Notizen aus Venedig, Folge 01

Von Rüdiger Suchsland

»Die Abteilung für Popkultur... ein kurioser Haufen. Der Lehr­körper setzt sich fast ausschließ­lich aus New Yorker Immi­granten zusammen, die clever und brutal sind, verrückt nach Kino und Filmen. Sie sind hier, um die natür­liche Sprache der Kultur zu dechif­frieren, und die glän­zenden Vergnü­gungen, die sie in ihrer Europa-geprägten Kindheit genossen haben, zu einer formalen Methode zu machen, einem aris­to­te­li­schen Gedan­ken­ge­füge aus Kaugummi-Papier­chen und Margarine-Reklame. Zusammen sehen sie aus wie Funk­ti­onäre an der Last­wa­gen­fah­rer­ge­werk­schaft, die sich versam­melt haben, um den vers­tüm­melten Körper eines Kollegen zu iden­ti­fi­zieren. Sie vermit­teln einen Eindruck von alles durch­drin­gender Bitter­keit, von Verdacht und Intrigen.«
Aus: »White Noise« von Don DeLillo

Noah Baumbach ist ein New Yorker Filme­ma­cher. Eine Weile hat man ihn für einen Nach­folger von Woody Allen gehalten, weil er jüdische Milieus porträ­tiert hat, bildungs­bür­ger­liche und intel­lek­tu­elle Milieus.
Sein neuer Film White Noise, der am gestrigen Mittwoch das Festival von Venedig eröffnete, ist etwas völlig anderes. »White Noise« (»Weißes Rauschen«) ist nämlich auch ein Roman von Don DeLillo. Das Buch stammt aus den 80er Jahren und es spielt im Middle West in einem imaginären Kaff namens Blacksmith, das auch eine kleine, durch­schnitt­lich unbe­deu­tende Univer­sität hat. Und es erzählt von einer kleinen durch­schnitt­li­chen Familie, die etwas besser als der Durch­schnitt situiert ist. Die Haupt­figur ist ein Univer­si­täts­pro­fessor namens Jack, der auf Hitler-Studien spezia­li­siert ist.

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Wie das Buch ist der Film eine sarkas­ti­sche Beob­ach­tung und Dekon­struk­tion des ameri­ka­ni­schen Traums. Baumbach hält sich weit­ge­hend an die Handlung von DeLillos Vorlage, aller­dings dreht er die Schraube noch ein bisschen weiter in Richtung sarkas­ti­scher abgrün­diger Humor. Er verein­facht auch den Humor eher, visua­li­siert ihn. Manche Subti­li­täten des Romans gehen dabei verloren, weil sie sich auf der Leinwand nicht entfalten können. Gleich­zeitig sind die Haupt­fi­guren ein bisschen jünger und schöner als im Roman. Sie werden gespielt von Adam Driver, der offenbar jetzt in jedem zweiten Festival-Eröff­nungs­film mitspielen muss, und von Greta Gerwig, die auch im wahren Leben Baumbachs Ehefrau ist – und ein Star des US-Inde­pen­dent-Kinos. Hier spielt sie die Frau von Adam Driver.
Dies ist das Paar in der Mitte der Geschichte. Beide sind Mate­ria­listen, beide haben insgeheim große Angst vor dem Tod. Und als dann in dieser Stadt etwas passiert, es zu einem Chemie­un­fall kommt und eine mögli­cher­weise giftige schwarze Wolke über der Stadt schwebt, wie zuvor jeder Tag dem anderen in seiner Lange­weile und Banalität glich, da bricht in dieses Leben dann plötzlich das Schicksal hinein und erschüt­tert diese Familie, erschüt­tert den ameri­ka­ni­schen Traum, dem diese Familie irgendwie anhängt, und bringt die versteckten und verdrängten Ängste zum Vorschein. Das ist die eigent­liche Geschichte bei Don DeLillo, wie bei Noah Baumbach. Hier wird sie als Komödie, als sarkas­ti­sches Porträt dieser Lebens­ver­hält­nisse auf die Leinwand geworfen – in mancher Hinsicht entpuppt sich dieser 40 Jahre alte Stoff als ein Film, der sehr sehr zeitgemäß ist, denn er handelt von Phäno­menen, die wir alle kennen: Das, was wir Paranoia nennen, Verschwörungs­theo­rien, er handelt vor allem von der latenten Angst in der weißen wohl­si­tu­ierten Mittel­stands­ge­sell­schaft der west­li­chen Länder. Die Geschichte spielt eigent­lich in den 80ern, vor Tscher­nobyl. Aber wenn man ihn heute sieht, denkt man: Wie brennend aktuell ist das denn!

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Wir haben diese Corona- und Lock­dow­n­er­fah­rungen mit der latenten Angst und unsicht­baren, womöglich tödlichen Bedro­hungen hinter uns; wir haben im Alltag des west­li­chen Wohl­stands­le­bens als eine Art Hinter­grund­rau­schen den Ukraine-Konflikt – und das »weiße Rauschen« des Titels ist das Rauschen unter der Hörschwelle. Bereits im Roman spielt es eine große Rolle in Form von Geräu­schen: Geplärr, Gedudel, Dröhnen der Auto­bahnen; es spielt auch im Film eine große Rolle. Geräusche sind wichtig, ein latentes Hinter­grund­rau­schen hört und spürt man hier sehr oft. Zugleich ist dieses Rauschen natürlich nicht nur wörtlich gemeint, sondern als Metapher: Es ist das Hinter­grund­rau­schen der latenten Kata­strophe, des Welt­un­ter­gangs, der Apoka­lypse. Eigent­lich spüren wir es auch in unserem realen Leben, es ist schon längst in den Köpfen drin, wir spüren es im eigenen Leben fort­wäh­rend. Dafür muss man noch nicht einmal die Nach­richten anschauen. Um diesen Zustand geht es und um diese latente Angst in uns allen, die erstickt wird in Konsum und Mate­ria­lismus.

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Die kommenden andert­halb Wochen werden uns in Venedig sehr viel ameri­ka­ni­sche Filme zeigen. Venedig ist seit jeher die Start­platt­form für das Rennen um die Oscar-Vergabe im kommenden Frühjahr. Es ist eine Art Start­rampe für die gesamte Herbst­saison, hier laufen natürlich auch Filme aus Frank­reich, aus Italien und allen möglichen Ländern der Welt. Es gibt einen argen­ti­ni­schen und einen irani­schen Film, von Jafar Panahi. Es gibt sehr viel Filme von Netflix und anderen Streaming Services. Der halbe Lido ist an Netflix-Mitar­beiter vermietet.

Geld ist das, was hier eine Haupt­rolle spielt: Es geht ums Geschäft und um ganz viel Geld. Viele Film­händler hoffen, dass sich ihre Filme gut verkaufen, haben zugleich Angst, dass das nicht der Fall ist – das ist die Haupt­sache.

(to be continued)