Fressen und fressen lassen |
||
Gefährliche Intimitäten | ||
(Foto: 79. Filmfestspiele Venedig | Bones and All) |
Von Janick Nolting
Die schmerzhaftesten Passagen in diesem Film haben nichts oder nur am Rande etwas mit physischer Gewalt zu tun. Es sind vielmehr die seelischen Wunden, die zu bluten beginnen. Wenn Ausgestoßene ihre gesellschaftliche Obdachlosigkeit erkennen, ihr Verlorensein in der Welt. Wenn Begehren mit Verboten konkurriert. Luca Guadagnino weiß solche Szenen erneut mit einer andächtigen Wucht zu inszenieren, die ihresgleichen sucht. Bones and All ist ein unendlich grausames, herzzerreißendes Werk, das von ähnlicher zwischenmenschlicher Raffinesse und Empathie zeugt wie Guadagninos populärste Arbeit Call Me by Your Name.
Taylor Russel und Timothée Chalamet spielen in diesem Film zwei junge Menschenfresser. Russels Figur, Maren heißt sie, lebt zu Beginn noch mit ihrem Vater zusammen. Als sie einem anderen Mädchen im spontanen Appetit den Finger abbeißt, müssen beide von ihrem Wohnort fliehen. Wenig später ist der Vater fort. Zurück bleibt nur eine Kassette, auf der er sie über ihre grausamen Gelüsten aufklärt. In dem umherstreunenden Lee (Chalamet) findet Maren nun einen Gleichgesinnten, mit dem sie ihre Biographie und ihre Triebe erforscht.
So ist es im Kern die Geschichte einer Entwurzelung, die Guadagnino erzählt. Ein Coming-of-Age-Drama, das die Romanvorlage von Camille DeAngelis in facettenreiche Momentaufnahmen und charakterliche Entblößungen zerlegt. Bones and All ergreift, weil das ein Film ist, der mit Understatements arbeitet, seine Geschichte mit Sanftheit, Entschleunigung erzählt, der sich Zeit lässt. Hinterher schlägt die finstere Konsequenz umso härter zu.
Guadagninos neuer Film ist gleichermaßen radikale Verzahnung von Sexualität und Gewalt wie Streifzug durch eine Gesellschaft, die normiert und diszipliniert, bis immer mehr Menschen von ihrem Getriebe zermahlen oder treffender: aufgefressen werden. Bones and All ist dabei als Roadmovie aufgezogen, quer durch die amerikanischen Bundesstaaten. Nirgendwo hält es die beiden Hauptfiguren lange, immer müssen sie weiterziehen. Auch dann, wenn sie an gewissen Endpunkten angekommen zu sein scheinen.
Es sind die 1980er-Jahre. Das ist eine Zeit, die in der heutigen Populärkultur Hort der Verklärung und Mystifizierung geworden ist. Guadagnino zeichnet ein anderes, karges Bild: eine Welt von heruntergekommenen, speckigen und miefigen Räumen mit spießigen Blümchentapeten. Eine nicht enden wollende Ödnis.
Und natürlich ist das weiterhin eine Zeit, die mit der Aids-Krise verknüpft ist, bei der gesellschaftliche Diskriminierungen mit Versehrungsängsten Hand in Hand gehen. Solche Parallelen und Bilder werden in Bones and All ebenfalls wachgerufen, auch ohne expliziten Kommentar: von Alleingelassenen, von einer unsicheren Konfrontation mit allem, was körperlich eindringen und herausquellen kann. Guadagnino schreckt vor drastischer Gewalt nicht zurück, wenngleich sich seine Bilder wesentlich schneller an den Gräueltaten sattfressen, als es im Vorfeld vielleicht zu erwarten war. Ohnehin ist der Ekel in diesem Film weniger mit Schrecken als vielmehr mit erdrückender Melancholie verknüpft. In seiner Tragik erinnert das Verletzen und Verzehren an Claire Denis` Trouble Every Day. Es ist gerade in der brutalen Pointe der letzte verzweifelte Versuch, einen Teil von Zweisamkeit in sich aufzunehmen. Ein Einverleiben, um weiterzuleben.
Bones and All ist herausragendes queeres Filmemachen. Nicht etwa durch eine Fokussierung auf geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung, sondern ganz allgemein: Erfahrungen der Marginalisierung, des Herausfallens aus der sogenannten Norm. Guadagnino konzentriert sich dabei auf das Drama verlorengegangenen Wissens. Die ältere Generation macht sich aus dem Staub, ist selbst unter die Räder geraten, hat sich weggesperrt oder ist verendet. Die Heranwachsenden stehen allein da, haben nie gelernt, was es heißt, anders zu sein. Nur gedrillt, sich anzupassen oder zu verstecken. Gewalt schwelt. Das Hereinwagen in eine Community (verkörpert durch einen weiteren Kannibalen, den Mark Rylance spielt) geht ebenfalls mit neuen Regeln und Normierungen einher. Man kannibalisiert sich gegenseitig.
Wie Guadagnino den Versuch eines Ankommens in diesen Spannungsverhältnissen scheitern lässt, ist nicht nur anrührend erzählt, sondern auch stilistisch faszinierend konzipiert. Die Sensibilität von Bones and All speist sich ebenso aus der fragilen Form, die der Regisseur findet. Sie liebt die Ästhetik der Nacht, aber auch die kargen Landschaften, ist vernarrt in die Gesichter eines Ensembles, das Guadagnino eindrucksvoll in Szene zu setzen weiß.
Gedankenwelten sind von einbrechenden Traumfragmenten zerrissen. Guadagnino hat schon in Suspiria gekonnt mit diesem Mittel gespielt. Gegen Ende zeigt er ein Schlachtfeld, das sich in der Montage der Bilder selbst aufräumt. Besudeltes Mobiliar, verstreute Gegenstände wie Installationen in einem Museum. Menschenleere, dann verwandelt sich alles, spuckt aus. Die gewohnte Ordnung rekonstruiert sich immer wieder selbst, lässt ihr Anderes verschwinden. Verbannt sitzen irgendwann zwei in der Wildnis, nackt in jeder Hinsicht. Einmal versuchen sie, sich der Norm für eine Weile anzupassen. Natürlich muss es scheitern. Ihnen bleibt nur ihre eigene Zivilisation, weit weg von allen anderen.