79. Filmfestspiele von Venedig 2022
Julius Caesar gegen Nero |
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Leoparden in Venedig, der Löwenstadt | ||
(Foto: privat) |
»I know my life is not a crime
I’m just a victim of my time
I stand defenseless.«
Charles Aznavour, »What make a man a man« in: »All the Beauty and the Bloodshed«
Bei der Fahrt mit dem Vaporetto auf dem Canale Grande entdecke ich vor der Kirche Santa Maria della Salute ein großes Werbeplakat des Mostra-Sponsors Cartier. Dort blickt ein Leopard neugierig Richtung Lido. Warum eigentlich ein Leopard und kein Löwe? Oder will man uns damit subtil zu verstehen geben, dass Giona A. Nazarro, der noch recht neue Leiter des Locarno-Filmfestivals, bereits auf die Nachfolge von Mostra-Chef Alberto Barbera zielt?
Nazarro, langjähriger Chef der
Nebensektion Settemana, ist hier am Lido jedenfalls sehr präsent und fortwährend in Gesprächen, auch mit deutschen Festivalprogrammern. Und er ist ein Thema bei den Gesprächsrunden am Abend, wenn es gelegentlich auch um die irgendwann anstehende Barbera-Nachfolge geht.
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In dem argentinischen Historienthriller Argentina 1985 von Santiago Mitre geht es um den Umgang des Landes mit seiner eigenen Vergangenheit: Nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 wurde hier erstmals in der Geschichte eine Diktatur von Zivilgerichten abgeurteilt. Der Prozess war »das Nürnberg Lateinamerikas«.
Mitre erzählt das in fiktionaler, konsumierbarer, aber nicht unnötig vereinfachender Form, als Spielfilm, der mit Archivmaterial versetzt ist. Sein Held ist der Staatsanwalt Julio Cesar Strassera, der unbeirrt und voller Mut gegen Todesdrohungen der alten Mächte seinen Weg ging, Beweise sammelte und Zeugen zum Reden bewog und vor allem durch deren erschütternde Aussagen in dem öffentlich übertragenen Prozess die anfangs skeptische Mehrheit der argentinischen
Gesellschaft auf seine Seite zog.
Es ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte.
Die filmischen Mittel Mitres sind die eines klassischen US-Gerichtsfilms: Gut kämpft gegen Böse. Es gibt persönliche Konflikte, es gibt die familiären Hintergründe der Hauptfiguren, aber auch Augenblicke der Heiterkeit. Zwischendurch ist der Film ein sehr menschlicher Polit-Thriller, der aber in der Tradition eines Costa Gavras den Ernst der Sache nie an die Konsumierbarkeit verrät.
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Dieser historische, auf den ersten Blick spezielle Film ist gerade heute weit über Argentinien hinaus von Interesse. Denn er entfaltet die Prinzipien, auf denen man Diktaturen aburteilen kann, und er macht klar: »Sadismus ist keine politische Idee. Er ist auch keine militärische Strategie. Sondern eine moralische Perversion.«
Dies gilt universell. Und man kann diesen Film nicht sehen, ohne auch an gegenwärtige Diktaturen und ihre Schergen zu denken.
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Auch manche Dokumentarfilme, von denen es in Venedig viele gibt, stellen solche Helden der politischen Wirklichkeit vor, die mit bewundernswürdigem Mut versuchen, in ihrer jeweiligen Heimat bessere Verhältnisse zu schaffen. Ob der bereits erwähnte Afrikaner Bobi Wine, der schließlich den Präsidenten herausforderte.
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Oder Nan Goldin, die nicht nur US-Popikone und Photographin ist, sondern auch eine Polit-Aktivistin: Laura Poitras' Dokumentarfilm All the Beauty and the Bloodshed hat sich mit diesem Leben erkennbar zu viel aufgebürdet, und mäandert ein bisschen sehr zwischen seinen vielen Themen.
Aber die sind gut! Es geht dabei schon um das Herausfordern der politisch Mächtigen, insbesondere der Pharmaindustrie. »We should take this people down!!« Es geht auch darum, wie aus Nan Goldin überhaupt das wurde, was sie ist: wie aus einer eher unscheinbaren normalen Tochter einer braven amerikanischen Suburbia-Familie eine wichtige Fotografin und Künstlerin wurde. Die Antwort lautet: Trauma. Es ist das Trauma der Schwester, die genial war und schön, das große Vorbild für Nan, und die sich mit 18 umbrachte, weil sie den Druck der Familie nicht mehr ertrug.
Es gibt auch lustige Szenen, wie etwa den Moment, in dem Nan Goldin einerseits für die Abschaffung von Gefängnissen kämpft und andererseits sehr froh ist, wenn eine Familie reicher Pharmaindustrieller ins Gefängnis kommt. »Sie sollten die letzten sein, die rauskommen, wenn die Gefängnisse abgeschafft werden«, sagt sie.
Die Regisseurin zeigt, wie andere Filme auch, welchen Preis Demokratisierung kostet, und Menschen, die bereit sind, ihn zu zahlen. Ihre Generation sei »running away from America«, erklärt Goldin.
Und Aznavour singt dazu im Off:
»I know my life is not a crime
I’m just a victim of my time
I stand defenseless
Nobody has the right to be
The judge of what is right for me
Tell me if you can
What make a man a man.«
Nan Goldin ist in diesem Sinne unbedingt »a man«. Take gender down!
(to be continued)