Alain, der im Jahr 2022 93 Jahre alt geworden wäre |
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Alain Tanner (re.) und André S. Labarthe in der Cinémathèque française beim Symposium »Mai 68 a-t-il été filmé?«, 2008 | ||
(Foto: CC BY-SA 3.0 – Roman Bonnefoy) |
Von Axel Timo Purr
Zu Anfang versucht es der junge Tanner – vielleicht weil ihm die Schweiz so fremd war wie später dem jungen Fritz Zorn – es mit dem vielleicht beliebtesten Gegengift gegen diese nagende Fremdheit, der Fremde selbst. Er siedelte 1955 nach London über, arbeitet für das British Film Institute (BFI) und drehte mit dem ebenfalls 1929 geborenen Schweizer Filmemacher (und späteren Produzenten) Claude Goretta seinen Kurzfilm Nice Time, der auf dem Filmfestival in Venedig auch gleich einen Preis gewann.
Nach dieser Initiation zog es Tanner nach Paris, wo sich das Kino gerade neu erfand. Er lernte den dieser Tage ebenfalls verstorbenen Jean-Luc Godard kennen, der wie er aus der französischen Schweiz stammte, und Robert Bresson und all die anderen Baumeister der Nouvelle Vague, assistierte in großen Produktionen, fühlte sich aber auch im Umfeld der Novelle Vague fremd und entschied sich im Laufe der 1960er Jahre wieder in die Schweiz zurückzukehren.
Statt weiter Fremde mit Gegenfremde zu kurieren, machte Tanner die Fremde nun in seinen großen Filmen der nächsten Jahre zum Thema. In Charles, tot oder lebendig (1969) folgt er der Flucht eines von seinem Leben entfremdeten Fabrikanten, doch schon bald löste sich Tanner auch mit Unterstützung des Schriftstellers John Berger, der mit ihm die Drehbücher seiner nächsten Filme schrieb, aus dem Privaten, Familiären und erkennt die Schweiz und den Kapitalismus selbst als Wurzel allen Übels. In seinen Filmen Der Salamander (1971), Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird (1976) und Messidor (1979) setzt sich Tanner leidenschaftlich mit der »Krankheit« Schweiz auseinander und den Utopien der 1968er und was davon übrigblieb. Seine Kunst bestand dabei vor allem mit konkreter Bildpoesie und einer leidenschaftlichen Empathie gegenüber seinen Hauptdarstellern, den schwierigen Weg aus ihrem Befremden zu begleiten und nach konkreten Hilfsmitteln, einer »realen« Utopie zu suchen.
Als die Schweiz als Reibungsfläche nicht mehr ausreichte, die politische Wut Tanners sich vielleicht auch schon ein wenig erschöpft hatte, ging Tanner mit seinen Filmen wieder auf Reisen und erreichte mit Werken wie Lichtjahre entfernt (mit dem er 1981 den Großen Preis von Cannes gewann) und vor allem mit seiner wunderschönen, zärtlichen Introspektion In der weißen Stadt (1983) immer größeren Zuspruch auch außerhalb der Schweiz. Denn statt einer abstrakten Ideologie oder der Misere eines Landes standen nun einsame, entfremdete Männer auf der Suche nach Erlösung im Zentrum von Tanners Werk. Und den fast schon lyrischen Spuren von Bruno Ganz als Schiffsmechaniker auf Landgang in Lissabon zu folgen, schien dann auch fast so, wie der Lösung von Tanners Grundproblem, der großen Fremdheit, beizuwohnen und dabei selbst gleich miterlöst zu werden. Denn Fremde sind wir irgendwann im Leben ja alle einmal gewesen.
Denn hier, auf diesen somnambulen Spaziergängen durch die weißen Straßen Lissabons auf der Suche nach Identität und der »wahren« Liebe, und dann noch stärker und eindeutiger in seinen späteren Filmen wie Eine Flamme in meinem Herzen (1987, hier der Link auf die damalige Kritik von Michael Althen), in denen er sich von der französischen Schauspielerin und Drehbuchautorin Myriam Mézières inspirieren und unterstützen ließ, wird die Fremdheit zwar weiterhin als unauslöschlich eingestanden, gibt es durch Liebe, Körperlichkeit, vor allem aber Begehren immerhin so etwas wie eine Auszeit, Fragmente des Glücks.
Doch auch das schien am Ende keine echte Lösung darzustellen. Tanner kehrte zu alten Stoffen zurück, besuchte in Jonas und Lila (1999) den (fiktiv) erwachsen gewordenen Helden aus seinem Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird und spürte dem alten Befremden über eine neue Generation noch einmal nach, eine Generation mit neuen Problemen, neuen Technologien und neuen Entfremdungen.
Auch in seinem letzten Film Paul s’en va (2004) versuchte Tanner noch einmal den Graben zwischen seinen alten Erfahrungen, einer unausweichlich verschwindenden Welt und einer immer komplexer (und fremder) werdenden Gegenwart zu überbrücken, mit einem Alter Ego, das eindeutiger Tanner nicht hätte sein können, dem Philosophieprofessor, Schauspiellehrer und Alt-68er Paul, der eines Tages spurlos verschwindet und siebzehn SchülerInnen einer Genfer Schauspielschule – die in diesem Stück die Rollen spielen – eine Reihe von philosophischen und revolutionären Texten zur Lektüre und zum Theaterspielen hinterlässt.
So wie Paul ist auch Tanner nun spurlos verschwunden, wie am Ende jeder von uns verschwinden wird. Und auch uns hat er etwas zurückgelassen. Seine Filme und ein Modell der Suche, das gerade in unseren sich so schnell wandelnden Zeiten aktueller und dringender nicht sein könnte. Filme sind natürlich nie Antworten, gerade Tanners Filme nicht, sie eröffnen stattdessen die Möglichkeit neue Fragen zu stellen.
Hat das Fremde am Ende gesiegt oder hat Tanner es in seinen letzten Jahren dann doch noch endlich besiegen gelernt, dieses Mal ganz ohne den Film oder mit ganz anderen, uns unbekannten Hilfsmitteln? Ich wünsche es ihm von ganzem Herzen.