79. Filmfestspiele von Venedig 2022
Wuchernde Haut, verschlungene Orte |
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Diaz für Einsteiger... | ||
(Foto: 79. Filmfestspiele Venedig · When the Waves are Gone) |
Von Janick Nolting
Mit drei Stunden ist When the Waves Are Gone eines der kürzeren Werke von Lav Diaz. Man wird ja kaum müde, die Länge zu betonen! Das ist schließlich ein Regisseur, dessen umfangreichste Filme gerne zur Tagesaufgabe werden. Ein weiterer neuer Film von ihm, der 2022 in Deutschland erstmals beim Filmfest Hamburg gezeigt werden wird, dauert etwa knapp sieben Stunden. Festivalvorführungen sind ohnehin meist die einzige Gelegenheit, Diaz' Vielstünder zu sehen. Meist verschwinden sie im Anschluss sang- und klanglos. Um den grandiosen When the Waves Are Gone wäre es jedoch besonders schade, weil er sich nicht nur hinsichtlich seines Umfangs zugänglicher, niedrigschwelliger als sonst entpuppt – ohne auf die gewohnten Lav-Diaz-Zutaten verzichten zu müssen.
Alles ist wieder da: das Spiel mit der Zeit, das Pfeifen auf Aufmerksamkeitsökonomie, das Aufarbeiten historischer Vergehen, ein Verlieren in Räumen und Landschaften, in welche vom Leben gezeichnete Körper platziert sind. Nur erzählt Diaz dieses Mal viel stringenter und stärker verdichtet als in so manch anderer seiner Arbeiten. Die Kontemplation, das Aushalten von einzelnen Kameraeinstellungen wird deutlicher von einem kompakten Handlungsgerüst zusammengehalten, das konsequent auf die Konfrontation zweier getriebener Männer zusteuert. Als einen Einsteigerfilm in Diaz' Oeuvre könnte man dieses Werk bezeichnen, ohne es damit schmälern zu wollen.
Der philippinische Regisseur hat hier den Grafen von Monte Christo adaptiert. Es geht um offene Rechnungen, eine Rückkehr aus der Isolation in den Alltag. Eine Gefangenschaft ersetzt die andere. Da ist auf der einen Seite Lieutenant Hermes Papauran, der früher am Anti-Drogenkrieg teilgenommen und seine Familie im Stich gelassen hat. Nun taucht er bei seiner Schwester auf und wird von der Vergangenheit heimgesucht. Und da ist auf der anderen Seite Primo Macabantay, sein ehemaliger Mentor und Kollege, den Hermes hinter Gitter gebracht hat. Jetzt will er Rache für die jahrelange Haft.
Lav Diaz führt beide Handlungsstränge fortwährend zusammen. Er verfolgt ausgiebig die Wege der beiden Männer, bevor er sie überkreuzt. Sein Talent offenbart er ebenso im Schreiben und Inszenieren von gesprochenen Dialogen wie im Spiel mit dem rein Visuellen. Man kommt leicht in Versuchung, das Überdeutliche besagter Dialoge als plakativ beiseitezuschieben. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Sie zeugen in diesem üppigen Werk einfach von einer enormen Effizienz, die mit wenigen Worten viel auszudrücken und zu skizzieren weiß.
Diaz verflicht einmal mehr die düsteren Kapitel philippinischer Geschichte mit der Gegenwart und zeigt sich als einer der großen politischen Filmemacher der Gegenwart. Es ist eine Anprangerung des Regimes von Präsident Rodrigo Duterte und seines brutalen Kampfes gegen Drogen und Kriminalität, ein Verzweifeln an einem hoffnungslos verlorenen System, das sich mit Gewalt, Falschinformationen und Machtmissbrauch am Leben erhält. Lav Diaz findet umwerfende, allegorische Bilder für einen erstarrten, traumatisierten Zustand, der daraus resultiert. Ihre grobe Körnung legt sich wie ein erstickender Dunstschleier über die finstere Welt, die der Regisseur auf die Leinwand bringt.
So viel ist sicher: When the Waves Are Gone gehört zu den herausragendsten Titeln der 79. Filmfestspiele von Venedig, wo er seine Uraufführung feierte. Das war ein Festival, welches jede Menge Pomp versammelte. Man kann etwa von einem magisch-realistischen Zauberfilm wie Alejandro González Iñárritus Bardo mit seinen protzenden Tricks nun halten, was man will: Von der tiefschürfenden Wirkmacht von Lav Diaz' Film kann ein technizistisches Werk wie jenes von Iñárritu, von denen es mehrere im Programm zu sehen gab, nur träumen. When the Waves Are Gone besitzt schlicht und ergreifend etwas, das vielen Biennale-Werken fehlte: Zurückhaltung. Lav Diaz' Schwarz-Weiß-Bilder sind eigentlich so simpel gestrickt. In ihnen sind weder ausufernde Budgets noch große digitale Effekte oder aufwendig konstruierte Sets erkennbar. Ihnen reichen ein schmuckloses Haus am Strand, ein Korridor im Gegenlicht, durch den sich Menschen bewegen, oder ein nackter Körper in einem Hotelzimmer, um eine ungemein hypnotische Kraft freizusetzen. Das sind keine Aufnahmen, die überwältigen wollen, aber sie atmen eine bestimmte Lebenswirklichkeit und Geschichte, eine Schönheit im Ungeschönten. Sie erzählen, studieren, wissen, wie man Kino beeindruckend in Licht und Schatten zerlegt – gerade in ihrer rauen, teils morbide anmutenden Schmucklosigkeit.
Immer wieder verharrt die Kamera auf der Stelle und sieht diesen in sich gefangenen Menschen zu. Allen voran dem wahnsinnigen Primo, der als religiöser Fanatiker die Welt vom Sündhaften befreien will und Prostituierte für obskure Taufrituale missbraucht. Schwer auszuhaltende Momente sind das, weil Diaz' Echtzeitaufnahmen kein Wegsehen erlauben. Sie kreieren intensive, kontrollierte Tableaus über das Kontrollierbare. Sie zeugen von schmerzhafter, überspringender Performanz. Irgendwann wird Primo eine Leiche beseitigen müssen. Auch das zeigt Lav Diaz in erbarmungslos gedehnten Einstellungen.
Ein langer Film über das Töten ist When the Waves Are Gone geworden. Es geht im archaischsten Sinne um Fressen und Gefressenwerden. Vielleicht ist er damit gar nicht allzu weit von Luca Guadagninos Kannibalen-Romanze Bones and All entfernt, die ebenfalls in Venedig Premiere feierte. Hier ist es vor allem ein markanter Körper, der sich selbst verzehrt: Eine tief sitzende Schuld frisst Leib und Seele in Form eines Hautausschlags auf. Zerfall schreibt sich in Fassaden ein. Das Haus am Meer, zu dem Hermes zurückkehrt, ein Erinnerungsort, wird schon von der Flut eingeholt. Zwei abgehalfterte Männer bekriegen sich bis aufs Messer, um Frieden zu finden. Lav Diaz peitscht dieses Szenario bis zur Katastrophe und einem grandiosen letzten Akt.
When The Waves Are Gone ist bis dahin vieles: Familiendrama, Gesellschaftsporträt, Polemik, Ortserkundung, eine Stimmung. Irgendwann schwingt er sich zum waschechten Noir auf, der in zwielichtige Gassen führt, wo Prostituierte warten, Nebel wabert, Schatten schaurige Formen werfen und zwei Rachsüchtige aufeinander losgehen. In der Tat, es sind trotz allem stilisierte Kunsträume, in denen sich Diaz' Tragödie entfaltet. In ihnen treiben Geplagte ihr Unwesen, bis Blut fließt.
Die trügerische Ordnung der statischen Einstellungen bewegt sich jederzeit an der Grenze zur Eskalation. When the Waves Are Gone erreicht damit eine ungeheure Intensität. Vor allem weiß er dabei auch seine eigene Illusion zu hinterfragen – spätestens im Finale. Da gibt die Leinwand den Blick auf einen Kai frei, den Diaz als zentralperspektivisch ausgerichtete Bühne inszeniert. Natürlich geht es zum Schluss ans Meer, der Titel verrät es ja schon! Ungeheuerliches wird sich dort abspielen, das in einer wunderbaren Irritation gipfelt.
Diaz zeigt auf besagter Bühne Theatergewalt, offensichtliche Simulation, ein Als-ob mit übertrieben großen Gesten, die sich trotz ihres Schreckens an der Grenze zur Lächerlichkeit bewegen. Solche Momente gibt es mehrfach in When The Waves Are Gone. Sie haben nichts mit hölzernem Schauspiel zu tun. Vielmehr erreicht dieses Werk gerade seine Intensität, indem es dort vermeintlich laienhafte Brüche einbaut, wo Diaz in seinen schwelgerischen Langzeitaufnahmen sonst gerne das Immersive, Versenkende sucht. Wenn hier beispielsweise ein halbnackter Körper plötzlich aus reiner Provokation und Selbstdarstellung zu tanzen beginnt, dann sind das Szenen, in denen Diaz seine filmischen Mittel und künstlerischen Praktiken in besonderem Maße betont und auf sich selbst zurückwirft. Das Gesamtwerk dieses faszinierenden Regisseurs erreicht dadurch noch einmal eine übergreifende Form der Selbstreflexion.
Sinnlose Tode werden in When the Waves Are Gone gestorben. Gewalt hat die Atmosphäre vergiftet, auch das Meer kann sie nicht davonspülen. Immer wieder hat sich der Autorenfilmer daran abgearbeitet. Aber was nützt es zum Schluss? Womöglich ist alles vergeblich in der Welt, das ganze fiktionale, künstlerische und künstliche Durchspielen und Dokumentieren. Irgendwann kommen unbedarfte Fremde an einen Kriegsschauplatz, ahnungslos, wo sie da hineingeraten sind. Natürlich geht es hier auch um das Bezeugen und Zusehen. Sollen wir das sein? Eine düstere Pointe. Bloß schnell wieder weg, nichts damit zu tun haben wollen. Grausames Theater hat sich abgespielt. Aber wer interessiert sich noch für Theater?