Rosskur des Inkorrekten |
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»What’s Your Pleasure?« fragt vielsagend die Panel-Reihe | ||
(Foto: Randfilmfest) |
Von Dunja Bialas
Endlich wieder Neues aus Kassel. Wem der Streit um die Documenta die Lust auf die gefühlt zentralste Stadt Deutschlands verdorben hat, kann jetzt wieder ungetrübt den ICE erklimmen. Das Randfilmfest, vermutlich das unkorrekteste aller deutschen Festivals, das unwokeste und, genau, das randständigste, verspricht schon im Claim »disturbance for all«. Das ist mehr als nur eine Rand-Notiz: Den Sünderinnen und Sündern der jüngeren Filmgeschichte ist die neunte Ausgabe gewidmet, die vier Tage lang die Stadt in echte Aufregung versetzen soll. Jetzt endlich lässt es sich unverhohlen schockiert sein.
Einstimmung in die Niederungen der Menschlichkeit bringt György Pálfis Taxidermia (2006). Drei Generationen praktizieren ungewöhnliche Leidenschaften: Im Zweiten Weltkrieg erfindet Soldat Vendel immer neue Selbstbefriedigungsvarianten. Im Nachkriegs-Sozialismus kommt sein Sohn aufs Wettessen, nach dem Mauerfall wird dessen Sohnemann ein unerschrockener Tierpräparator. »Abnormes und ekelhaftes Verhalten« labeln die Randfilmer mit Begeisterung den Film, der einst von den Ungarn als Kandidat um den ausländischen Oscar ins Rennen geschickt wurde. Vielleicht sollte man darüber am meisten staunen.
Wenn man Nonnen im Film sieht, lässt sich nie ausschließen, dass Obszönes folgt. Wie in Norifumi Suzukis School of the Holy Beast (1974). Der Film beginnt mit der letzten Nacht, bevor ein junges Mädchen als Novizin ins Kloster geht. Sie lässt es also noch einmal richtig krachen, was durch die Fallhöhe natürlich umso mehr Spaß macht. Aber auch das Kloster ist nicht päpstlicher als der Papst: Wie in Rivettes / Diderots Die Nonne herrscht eine autoritäre Äbtissin mit sadistischen Praktiken über die Novizinnen. Wer jetzt noch nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, sollte sich das nach diesem Film ernsthaft überlegen.
Es findet sich auch ein ausgesuchter Schwulenporno im Programm: Fred Halsteds L.A. Plays Itself (1972) ist eine der ersten zur Sache gehenden, gefilmten Freizügigkeiten der Community. Die urbane Landschaft ist hier nur Metapher für Schwänze und umgekehrt. Dazwischen: Gesichter, Körper und absurdes Gerede. Ein Film, der an den niemals erschienenen Sammelband »Too Many Men« über historische Schwulenpornographie denken lässt, zu dem namhafte Filmkritiker*innen Texte beigetragen haben. Diese sind ebenso in der Schublade der Editoren (Marco…!?!) verschwunden wie die Filme. Gut, dass Randfilm jetzt ein Exemplar hervorholt.
Bekanntere Titel im Randfilm-Programm, die sogar Arthouse-geprüft sind, sind Gaspar Noés Irreversibel (2002) mit seiner unerbittlichen Vergewaltigungsszene und Ninja Thybergs mindestens ambivalenter, wenn nicht gar kontroverser Pleasure (2021), in dem eine Schwedin Pornodarstellerin werden möchte. Die Milieuschilderung oszilliert zwischen Abschreckung und Faszinosum. Das kann insgesamt programmatisch für das Randfilmfest gelten, das kein Feigenblatt vor die Filme hält.
Die Randfilmer um Volker Beller setzen ganz bewusst das Randständige, von der Filmgeschichte oftmals Verdrängte ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Etliche Panels rahmen die Filme mit Talks, die das Obzöne zwar nicht akademisieren, es aber ernst nehmen wollen. Schließlich ist das Kino seit 120 Jahren auch eine Kunst des Unbewussten und Verdrängten, das auch Bilder zu zeigen vermag, wie sie im realen Leben besser nicht vorkommen. Das obszöne Kino eignet sich so auch als Substitut und Katharsis eines unerfüllten Begehrens und dunkler Lust. Gefragt wird nach der Scham und verbalen Ratlosigkeit, dem peinlichen Schweigen nach zu viel Sex auf der Leinwand. Ausdrücklich richtet sich das Programm gegen »aktuelle Tendenzen in der Gesellschaft« – gemeint ist sicherlich die restaurative Moral, die sich allenthalben breit macht.
Zumindest kehrt Kassel mit dem Randfilmfest wieder zu sich selbst zurück. Weg von den verschämten Diskursen und Anschuldigungen, hin zum offen Ausgesprochenen und Exponierten, und zu einigen der Kernthemen von Kunst. Das verspricht eine wohltuende Rosskur für den allzu moralischen Blick.
9. Randfilmfest Kassel
15.-18. September 2022
Bali-Kinos, Film-Shop in Kassel