Jean-Luc Godard 1930-2022
Angriff auf alles Sehgewöhnliche |
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Mit À bout de souffle revolutionierte Godard den Filmschnitt | ||
(Foto: Société Nouvelle de Cinématographie (SNC), Public domain, via Wikimedia Commons) |
Das Zentrum des Denkens über Film war bei Jean-Luc Godard immer der Schneideraum. Sein avantgardistischer Antrieb des Filmemachens hatte ihn immer wieder über die Arbeit der Montage, den Filmschnitt nachdenken und sprechen lassen. Er hat jedes Mittel in seinen Filmen eingesetzt, von Schrifttafeln, Doppel- und Mehrfachbelichtungen, ja Malerei mit der Kamera, Auslassungen, mit Großaufnahmen von handgeschriebenen Briefen, Musikeinsätzen, es gab keine Grenzen.
Im
Schneideraum und nur dort wurde der Film aus dem Abstrakten sichtbar gemacht, dort konzipierte und konstruierte er seine Filme. Er hasste es, sich beim Schneiden, beim Denken mit den Händen, wie er es nannte, zuschauen zu lassen.
»Schaut man auf die Hände bei Arbeiten, dann sehen wir: sie denken«, sagt er uns in seinem letzten Film, dem Bildbuch. Es sei der Film, der denkt und mache ihn, Godard zum Medium, dem er sich aussetzt. Der Ort dieser Meditation über einen Film sei der Schneideraum, denn nur dort durchdringt man das gesamte Wesen des Films, und wird von eben diesem durchdrungen.
Mit À bout de souffle revolutionierte er den Filmschnitt mit seinen so leicht daherkommenden Jump Cuts und Achsensprüngen, seinem getriebenen Schnitt, der den Film vor sich her- und immer weitertreibt, mit einer unverschämten Leichtigkeit.
»Der Schnitt meine schönste Sorge!« So fing einmal ein Text von ihm an. Er hat uns seine Sichtweise auf die Welt oktroyiert und uns gezwungen hinzuschauen. Er hat Gefühle und Gedanken miteinander verbunden, und er hat sich dabei selbst keine Grenzen gesetzt. Er hat uns irritiert zurückgelassen und seinen Skeptizismus nicht verheimlicht. Seine Filme haben uns mit seinem Gelangweilt-sein-von-der-Welt konfrontiert. Er war unzugänglich. Zusammen mit Harun Farocki allerdings, einem ebenfalls großen Avantgardisten der Filmkunst, plante Jean-Luc Godard ein Buch über Film zu schreiben, in dessen Zentrum der Schneideraum steht. Leider hat er das, haben beide das nicht mehr geschafft.
Der Film mit seiner eigenen Bild- und Tonfolge, seiner Timeline, sei als eine eigenständige Form des Denkens aufzufassen, sei eine eigene Form der Reflexion und etwas anderes als die Sprache. Es ist der Film, der denkt. Dies sei es, dem man sich im Schneideraum aussetzt. Ein Sortieren und ein-alles-Bedenken, ein-Auswählen-und-nichts-Vergessen. Man sieht immer ein Konkretes im Film und es bleibt ein Geheimnis, wie man zu diesem Konkreten gekommen ist.
Er ruft uns, die Editorinnen auf, Regeln und Konventionen der Gegenwart zu brechen und uns hineinzubegeben in die dunklen Kammern der Gefühle, der Gedanken und des Wissens.
Wie wenig Godard in unserem Land verstanden oder geachtet wurde, kann man unschwer an der zurzeit in der Arte-Mediathek gezeigten deutsch synchronisierten Fassung von Le mépris erkennen. Die Auswahl der Stimmen von Brigitte Bardot oder auch von Michel Piccoli zeugt von einem großen Unverständnis für die Gefühle und den Intellekt, die dieser Regisseur seinen Akteuren eingehaucht hat.
Eine
kreischig-dauerbeleidigte Brigitte-Stimme wird von einem unterkühlten und besserwisserischen Michel-Geraune ermahnt. Die Zartheit der Stimmen im Original ist nicht austauschbar und kann von keiner Synchronfassung je erreicht werden. Das schon zeigt die Entfernung, die der deutsche Film zum französischen Film hat und immer gehabt hat.
Auch wenn es sicher schon viele gesagt haben, die Energie und die Wucht, mit der Godard seine Filme gemacht hat, sind bis zu seinem letzten Film Bildbuch immer ein Angriff auf alles Sehgewöhnliche geblieben.
Mit dem Tod Jean-Luc Godards ist das 20. Jahrhundert ganz und gar zu Ende gegangen.
Katja Dringenberg ist eine deutsche Filmeditorin und Regisseurin.