Zwischen den Zeilen |
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Sich fremdsein in der Fremde in LI Gens Before Next Spring | ||
(Foto: 10. Chinesisches Filmfest | Before Next Spring) |
Von Axel Timo Purr
»Andere Zeiten, andere Sitten. Vielerorts gibt es den Kotau gar nicht mehr. Und bei Hochzeitsbanketten wird einfach beliebig jemand vorgeschlagen, der das Programm macht, es wird gelacht, herumspektakelt, Eltern, Verwandte, Freunde, jeder kann auf die Bühne und sich produzieren.«
– Liao Yiwu, Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten
Es scheint fast so, als gehe der legendären 6. Generation chinesischer Filmschaffender, der sogenannten „Nach-Tian‘anmen-Generation“, die sich wie kaum eine andere Generation von Filmschaffenden für die Subkulturen Chinas und die Verwerfungen der sozialen Schichten in China im Zeitalter der Globalisierung eingesetzt hat, der Atem aus. Die letzten großen Meisterwerke, etwas Jia Zhang-Kes A Touch of Sin (2013) oder Wang Xiaoshuais Bis dann, mein Sohn (2019) liegen schon etliche Jahre zurück. Und der einzige Film der letzten Zeit, der den Geist dieser Generation verkörpert, obwohl von einem jüngeren Regisseur gedreht – der auf der letzten Berlinale nach Schnittauflagen gezeigte Return to Dust von Li Ruijun – ist nach einem wohl etwas zu erfolgreichen China-Start nun komplett verboten worden. Die zentralen Themen wie Ausbeutung, Zwangsverstädterung, Armut, Verlust von Traditionen durch Entwurzelung waren dann wohl doch noch zu relevant und eine zu schwer zu verdauende, allzu brisante Gesellschaftskritik. Und mit denen durch Corona verursachten, signifikanten wirtschafts-politischen Verwerfungen und einer zunehmenden Unzufriedenheit der Bevölkerung scheint die Zensurbehörde des chinesischen Staatsapparates nun härter durchzugreifen als noch vor einigen Jahren, was auch daran zu sehen ist, das der für große internationale Produktionen inzwischen unerlässliche chinesische Filmmarkt sowohl ältere Hollywood-Importe wie Fight Club als auch neue wie die Minions moralisch „umschneiden“, also mit neuen Enden versehen darf und das auch recht rigoros tut.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die auf dem diesjährigen 10. Chinesischen Filmfest versammelten Filme, von denen ein Großteil in Präsenz gezeigt wird, und ein kleinerer Teil nur online abrufbar ist, nichts über das gegenwärtige China zu sagen hätten. Im Gegenteil – das Programm der diesjährigen Ausgabe ist faszinierend breit gestreut und wie im iranischen Film, lässt sich auch hier sehr ergiebig nicht nur die aufregende Qualität der Filme in Originalfassung mit Untertiteln genießen, sondern auch hervorragend zwischen den Zeilen lesen.
Den Auftakt im Projektor-Saal des HP8 macht Nice View (Montag, 10.10.22, 19.30 Uhr, HP8) von WEN Muye, in dem der 20-jährige Jing Hao und seine kleine Schwester in Shenzhen porträtiert werden. Die Waisenkinder führen ein hartes, aber glückliches Leben. Um für die teure Operation seiner Schwester zu zahlen, gründet Jing Hao ein Business, erleidet aber Laufe der Geschichte einen schweren Rückschlag.
Auch WANG Xides A Chat (Dienstag, 11.10.22, 21.00 Uhr, HP8 und Dienstag, 18.10.22, 20.00 Uhr, Kino Breitwand Gauting) erzählt von persönlichen Transformationen, die immer auch gesellschaftliche relevant sind: Gu Qing, eine ruhige Schneiderin in ihren Dreißigern, lebt allein in einer kleinen Stadt im Süden Chinas. Ihr Leben ist langweilig, bis eines Tages ihre Nichte Sun Yue von weit her kommt und von ihr das Schneiderhandwerk erlernen möchte. Der Film erzählt die Geschichte von drei Generationen von Frauen, die mit Trauer und Verlust umgehen müssen und sich versöhnen wollen.
So wie A Chat ist auch ZHANG Feis The Coffin Painter (Mittwoch, 12.10.22, 20.30 Uhr, HP8 und Sonntag, 16.00 Uhr, Kino Breitwand Gauting) eine transgenerationale Geschichte: Jia, ein älterer Mann, der seinen Sohn verloren hat, trifft auf Seven, eine Schülerin, die mit ihrer Mutter vor den Schulden davonläuft. Als traditioneller Sargmaler wird Jia Zeuge verschiedener Einstellungen gegenüber Leben und Tod. Mit der Zeit nähern sich die drei Charaktere an. Fei bewegt sich hier – allerdings mit weniger Wehmut und Pessimismus – sehr nah am eingangs zitierten Liao Yiwu und seiner atemberaubenden Erzählungssammlung „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“, wo zwar nicht von einem Sargmaler, aber von einem Leichenträger berichtet wird.
Keep Running (Donnerstag, 13.10.22, 20.30 Uhr, HP8) von SUN Geting fokussiert auf die Stadt Genhe in der Inneren Mongolei, dem kältesten Gebiet Chinas, wo eine Gruppe von Jugendlichen aus schlechten Verhältnissen jeden Tag unter harten Bedingungen laufen geht. Die Sportschule bietet ihnen Freude und Hoffnung auf ein besseres Leben, was ihre Eltern nicht können. Unter der strengen Führung ihres Coaches sind sie der Ansicht, dass sie eine Zukunft haben, wenn sie hart trainieren und sich immer weiter verbessern.
In dem Zeichentrickdrama I Am What I Am (Freitag, 14.10.22, 20.30 Uhr, HP8) lernen wir A Juan kennen, der an einem Löwentanzwettbewerb teilnehmen möchte, um sein Können unter Beweis zu stellen. Seine zwei Freunde A Mao und A Gao schließen sich ihm an. Um die Kunst des Löwentanzes zu erlernen, suchen sie den Fischer XIAN Xuqiang auf. Obwohl dieser mittlerweile ein armer Mann ist, war er einst der Sieger des Löwentanzwettbewerbes. Der aufrichtige Ehrgeiz der Jungen erweckt seine Liebe zum Löwentanz neu.
Am Samstag, den 15.10.22 bietet sich die Möglichkeit über ein Double-Feature den verblüffenden Kontrastraum zwischen Stadt und Land in China kennenzulernen. In DONG Chunzes Minibus Driver (17 Uhr, HP8) macht sich QIAN Xiaoning auf den Weg in die Heimat seiner Freundin Tana – die Innere Mongolei. Weil es dort keinen Handyempfang gibt, ist es für die Menschen schwer, Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen. Xiaoning sieht darin eine Geschäftsmöglichkeit: er fährt mit seinem Minibus herum und verkauft den Bewohner:innen das, was sie benötigen. Im Laufe der Zeit baut er sich ein Netzwerk auf und erkennt, dass er die Ruhe der Inneren Mongolei dem Großstadtlärm vorzieht. Hot Soup (20.00 Uhr, HP8) erzählt dann von dem Stadtleben und seinen Hürden, von denen QIAN in seinem Minibus sich abgewendet hat: Regisseur ZHANG Ming konzentriert sich hier allerdings auf die Mittelklasse und ihre Probleme und stellt vier Frauen in den Mittelpunkt, die in Shanghai ihr Glück versuchen. Eine junge Beamtin streitet mit ihrem Partner über die Familiengründung. Eine Doktorandin gerät mit ihrem Professor über ihre Doktorarbeit zum Thema Glück aneinander. Eine Teenagerin findet keinen Freund, der den Ansprüchen ihres Vaters entspricht. Und eine junge Frau, die von den USA träumt, sitzt in einem Taxi fest mit dem Taxifahrer, der sie liebt. Es ist vielleicht der Film, der am deutlichsten zeigt, wie der gegenwärtige, stillschweigende Gesellschaftsvertrag, den die staatstragende Partei in China mit der Bevölkerung abgeschlossen hat, funkioniert und wie weit sie sich von Mao Tse-tungs-Devise – »Keinen richtigen politischen Standpunkt haben bedeutet, keine Seele haben.« – entfernt hat.
Am Sonntag ist dann sogar ein Triple im HP8 möglich. Neben dem Auftaktfilm Nice View (15.00 Uhr) bieten Before Next Spring (17.30 Uhr) und Anima (20.00 Uhr und Montag, 17.10.22, 20 Uhr, Kino Breitwand Gauting) erneut eine faszinierende Stadt-Land-Dichotomie. Allerdings entfernt sich LI Gens Before Next Spring aus China und zeigt das Leben einer Gruppe junger Chinesinnen und Chinesen, die in Tokyo leben und in einem Restaurant arbeiten. Sie unterscheiden sich in ihren Charakterzügen, haben jedoch eine Gemeinsamkeit: sie alle leben am Rande der Gesellschaft. Niemand aus der Gruppe weiß, was die Zukunft bereithält, vor allem diejenigen, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben. Das erinnert in Ansätzen immer wieder an Lulu Wangs The Farewell, in dem ebenfalls die chinesische Diaspora und ihre Zerrissenheit porträtiert wurde. Anima von CAO Jinling könnte von dieser Realität nicht weiter entfernt sein: Nachdem der junge Tutu einen Bären tötet, um das Leben seines kleinen Bruders zu retten, wird er als Ausgestoßener behandelt – denn Bären sind dem Stamm der Lonki heilig. Jahre später arbeiten Tutu und Linzi als Holzfäller nahe des Waldes, in dem sie aufgewachsen sind, und kommen nur schwer über die Runden. Als sich beide in dieselbe Frau verlieben, treibt das die Brüder auseinander. Während Linzi eine immer tiefere Bindung zu dem Wald und der Natur entwickelt, wählt Tutu einen anderen Weg.
Mit der letzten Präsenzveranstaltung präsentiert das 10. Chinesische Filmfestival mit Myth of Love (20.10.22, 20.00 Uhr, Kino Breitwand Gauting) ein fast schon klassisches Beziehungs-Karussel: Lao Bai, ein seit vielen Jahren geschiedener Maler gibt Zeichenkurse bei sich zu Hause, in denen er Erwachsenen das Malen beibringt. Eine seiner Schülerinnen, Gloria, entwickelt Gefühle für ihn. Beibei ist die Exfrau von Lao Bai, die ihn damals betrogen hat. Und dann ist da noch die ebenfalls geschiedene Frau Li. In den Gassen von Shanghai nimmt die Geschichte eines Mannes und dreier Frauen ihren Lauf.
Das Online-Programm konzentriert sich bis auf wenige Ausnahmen auf klassisches Genre-Kino: In Infernal Affairs 1, 2 und 3 besteht die Chance, großes Hongkonger Gangster-Kino zu sehen, eine komplex strukturierte Thriller-Trilogie mit bestens choreografierten Suspense-Momenten. Ist Infernal
Affairs bestes Suspense-Kino, sind die EX-Files 1, 2 und 3 bestes chinesisches RomCom-Kino, in dem melodramatisches Single-Liebesleiden, Hochzeits-Erlösungen und Trennungen zentrale Bestandteile sind, aber natürlich gerade in diesen Filmen hochmoderner, städtischer chinesischer Arbeits- und Lebensalltag mit all seinen Verführungen und
Gefahren nicht besser gezeigt werden könnte.
RomCom-Kost ist auch Back to Love von LAN Hongchun, in dem ebenfalls Metropolen-Alltag gezeigt wird: Zekai und Jing Shan sind schon seit zwei Jahren ein Paar, sie arbeiten in Shenzhen und wohnen zusammen. Zekais Mutter, die in Shantou lebt, weiß davon nichts. Zekai weiß, dass seine Mutter Probleme damit haben
würde, Jing Shan zu akzeptieren, weil diese schon mal verheiratet war, deshalb hat er sie seiner Familie nie vorgestellt. Als seine Mutter ihn immer wieder drängt, zu heiraten, entscheidet er sich dazu, mit Jing Shan zu seiner Mutter zu reisen und ihr alles zu beichten.
Auch eine schwarze Komödie ist im Programm: in LIU Xunzimos Be Somebody versammelt
sich eine Gruppe von frustrierten Filmemacher:innen in einer dunklen und windigen Nacht zur Vorbereitung auf einen Filmdreh, der sie berühmt machen soll. Ihr Krimi basiert auf einem sensationellen Mordfall, der einst ganz Shanghai erschütterte. Was sie jedoch nicht wissen: dass am tatsächlichen Tatort der wahre Mörder unter ihnen ist.
Film im Film bietet auch DONG Chengpens The Reunions: Ein Comedy-Regisseur möchte einen Film darüber drehen, wie seine Großmutter das chinesische
Frühlingsfest in ihrem Heimatdorf feiert, als diese unerwartet kurz vor Beginn der Dreharbeiten stirbt. Doch die ganze Familie kommt für den Film zusammen und veranstaltet eine letzte große Feier.
Ein Alltag, der kaum stärker zu LIANG Mings Beitrag Wisdom Tooth kontrastieren könnte, einem faszinierend ruhigen Film, der subtil die bürokratischen Irrwege der chinesischen Gesellschaft hinterfragt: Weil Gu Xi nicht als chinesische Staatsbürgerin dokumentiert ist, läuft sie
Gefahr, ihren Job zu verlieren. Während sie all ihre Beziehungen nutzt, um offizielle Papiere zu erhalten, sieht sie sich weiteren Herausforderung gegenüber, die sich mit dem hereinbrechenden Winter noch einmal intensivieren.
Mit 90 Minuten gibt es abschließend auch noch die Möglichkeit, einen kleinen Blick auf die chinesische Dokumentarfilmproduktion zu werfen. Das China Documentary Film Festival wirft in drei Filmen, Facing the
Flood, The Travelling Cinema und A Shot at a better Future Blicke auf Flutkatastrophen, Erdbeben und das Mädchenfußballteam einer Grundschule in einer abgelegenen Gegend.
Wem das nicht reicht, dem bietet das 10. Chinesische Filmfest ein kleines, wohl kuratiertes Programm an Aktivitäten an, wird etwa vor jedem Film im HP8 ein Essstäbchen-Wettbewerb stattfinden, geht es mit dem Konfuzius-Institut (dem Veranstalter des Festivals) auf chinesische Stadttour in München (22.10.22, 14.00 Uhr) und findet im Institut selbst ein Karaoke-Nachmittag (15.10.22, 15.00 Uhr) statt. Und über einen Filmdialog (»Festivals als Brücke zwischen den Kulturen«) sowie einen Vortrag im Livestream über Kampfkunstlehrer in chinesischen Filmen findet eine weitere Differenzierung des Angebots statt.