09.10.2022

Zwischen den Zeilen

Before Next Spring
Sich fremdsein in der Fremde in LI Gens Before Next Spring
(Foto: 10. Chinesisches Filmfest | Before Next Spring)

Das 10. Chinesische Filmfest zeigt ein China, das den langen Transformationsprozess in die Moderne fast abgeschlossen hat, deutet aber auch an, dass Wachstum, Wohlstand und Glück Grenzen haben

Von Axel Timo Purr

»Andere Zeiten, andere Sitten. Vieler­orts gibt es den Kotau gar nicht mehr. Und bei Hoch­zeits­ban­ketten wird einfach beliebig jemand vorge­schlagen, der das Programm macht, es wird gelacht, herum­spek­ta­kelt, Eltern, Verwandte, Freunde, jeder kann auf die Bühne und sich produ­zieren.«
– Liao Yiwu, Fräulein Hallo und der Bauern­kaiser: Chinas Gesell­schaft von unten

Es scheint fast so, als gehe der legen­dären 6. Gene­ra­tion chine­si­scher Film­schaf­fender, der soge­nannten „Nach-Tian‘anmen-Gene­ra­tion“, die sich wie kaum eine andere Gene­ra­tion von Film­schaf­fenden für die Subkul­turen Chinas und die Verwer­fungen der sozialen Schichten in China im Zeitalter der Globa­li­sie­rung einge­setzt hat, der Atem aus. Die letzten großen Meis­ter­werke, etwas Jia Zhang-Kes A Touch of Sin (2013) oder Wang Xiao­shuais Bis dann, mein Sohn (2019) liegen schon etliche Jahre zurück. Und der einzige Film der letzten Zeit, der den Geist dieser Gene­ra­tion verkör­pert, obwohl von einem jüngeren Regisseur gedreht – der auf der letzten Berlinale nach Schnitt­auf­lagen gezeigte Return to Dust von Li Ruijun – ist nach einem wohl etwas zu erfolg­rei­chen China-Start nun komplett verboten worden. Die zentralen Themen wie Ausbeu­tung, Zwangs­ver­s­täd­te­rung, Armut, Verlust von Tradi­tionen durch Entwur­ze­lung waren dann wohl doch noch zu relevant und eine zu schwer zu verdau­ende, allzu brisante Gesell­schafts­kritik. Und mit denen durch Corona verur­sachten, signi­fi­kanten wirt­schafts-poli­ti­schen Verwer­fungen und einer zuneh­menden Unzu­frie­den­heit der Bevöl­ke­rung scheint die Zensur­behörde des chine­si­schen Staats­ap­pa­rates nun härter durch­zu­greifen als noch vor einigen Jahren, was auch daran zu sehen ist, das der für große inter­na­tio­nale Produk­tionen inzwi­schen uner­läss­liche chine­si­sche Filmmarkt sowohl ältere Hollywood-Importe wie Fight Club als auch neue wie die Minions moralisch „umschneiden“, also mit neuen Enden versehen darf und das auch recht rigoros tut.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die auf dem dies­jäh­rigen 10. Chine­si­schen Filmfest versam­melten Filme, von denen ein Großteil in Präsenz gezeigt wird, und ein kleinerer Teil nur online abrufbar ist, nichts über das gegen­wär­tige China zu sagen hätten. Im Gegenteil – das Programm der dies­jäh­rigen Ausgabe ist faszi­nie­rend breit gestreut und wie im irani­schen Film, lässt sich auch hier sehr ergiebig nicht nur die aufre­gende Qualität der Filme in Origi­nal­fas­sung mit Unter­ti­teln genießen, sondern auch hervor­ra­gend zwischen den Zeilen lesen.

Den Auftakt im Projektor-Saal des HP8 macht Nice View (Montag, 10.10.22, 19.30 Uhr, HP8) von WEN Muye, in dem der 20-jährige Jing Hao und seine kleine Schwester in Shenzhen porträ­tiert werden. Die Waisen­kinder führen ein hartes, aber glück­li­ches Leben. Um für die teure Operation seiner Schwester zu zahlen, gründet Jing Hao ein Business, erleidet aber Laufe der Geschichte einen schweren Rück­schlag.

Auch WANG Xides A Chat (Dienstag, 11.10.22, 21.00 Uhr, HP8 und Dienstag, 18.10.22, 20.00 Uhr, Kino Breitwand Gauting) erzählt von persön­li­chen Trans­for­ma­tionen, die immer auch gesell­schaft­liche relevant sind: Gu Qing, eine ruhige Schnei­derin in ihren Dreißi­gern, lebt allein in einer kleinen Stadt im Süden Chinas. Ihr Leben ist lang­weilig, bis eines Tages ihre Nichte Sun Yue von weit her kommt und von ihr das Schnei­der­hand­werk erlernen möchte. Der Film erzählt die Geschichte von drei Gene­ra­tionen von Frauen, die mit Trauer und Verlust umgehen müssen und sich versöhnen wollen.

So wie A Chat ist auch ZHANG Feis The Coffin Painter (Mittwoch, 12.10.22, 20.30 Uhr, HP8 und Sonntag, 16.00 Uhr, Kino Breitwand Gauting) eine trans­ge­ne­ra­tio­nale Geschichte: Jia, ein älterer Mann, der seinen Sohn verloren hat, trifft auf Seven, eine Schülerin, die mit ihrer Mutter vor den Schulden davon­läuft. Als tradi­tio­neller Sargmaler wird Jia Zeuge verschie­dener Einstel­lungen gegenüber Leben und Tod. Mit der Zeit nähern sich die drei Charak­tere an. Fei bewegt sich hier – aller­dings mit weniger Wehmut und Pessi­mismus – sehr nah am eingangs zitierten Liao Yiwu und seiner atem­be­rau­benden Erzäh­lungs­samm­lung „Fräulein Hallo und der Bauern­kaiser“, wo zwar nicht von einem Sargmaler, aber von einem Leichen­träger berichtet wird.

Keep Running (Donnerstag, 13.10.22, 20.30 Uhr, HP8) von SUN Geting fokus­siert auf die Stadt Genhe in der Inneren Mongolei, dem kältesten Gebiet Chinas, wo eine Gruppe von Jugend­li­chen aus schlechten Verhält­nissen jeden Tag unter harten Bedin­gungen laufen geht. Die Sport­schule bietet ihnen Freude und Hoffnung auf ein besseres Leben, was ihre Eltern nicht können. Unter der strengen Führung ihres Coaches sind sie der Ansicht, dass sie eine Zukunft haben, wenn sie hart trai­nieren und sich immer weiter verbes­sern.

In dem Zeichen­trick­drama I Am What I Am (Freitag, 14.10.22, 20.30 Uhr, HP8) lernen wir A Juan kennen, der an einem Löwen­tanz­wett­be­werb teil­nehmen möchte, um sein Können unter Beweis zu stellen. Seine zwei Freunde A Mao und A Gao schließen sich ihm an. Um die Kunst des Löwen­tanzes zu erlernen, suchen sie den Fischer XIAN Xuqiang auf. Obwohl dieser mitt­ler­weile ein armer Mann ist, war er einst der Sieger des Löwen­tanz­wett­be­werbes. Der aufrich­tige Ehrgeiz der Jungen erweckt seine Liebe zum Löwentanz neu.

Am Samstag, den 15.10.22 bietet sich die Möglich­keit über ein Double-Feature den verblüf­fenden Kontra­st­raum zwischen Stadt und Land in China kennen­zu­lernen. In DONG Chunzes Minibus Driver (17 Uhr, HP8) macht sich QIAN Xiaoning auf den Weg in die Heimat seiner Freundin Tana – die Innere Mongolei. Weil es dort keinen Handy­emp­fang gibt, ist es für die Menschen schwer, Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen. Xiaoning sieht darin eine Geschäfts­mög­lich­keit: er fährt mit seinem Minibus herum und verkauft den Bewohner:innen das, was sie benötigen. Im Laufe der Zeit baut er sich ein Netzwerk auf und erkennt, dass er die Ruhe der Inneren Mongolei dem Groß­stadt­lärm vorzieht. Hot Soup (20.00 Uhr, HP8) erzählt dann von dem Stadt­leben und seinen Hürden, von denen QIAN in seinem Minibus sich abge­wendet hat: Regisseur ZHANG Ming konzen­triert sich hier aller­dings auf die Mittel­klasse und ihre Probleme und stellt vier Frauen in den Mittel­punkt, die in Shanghai ihr Glück versuchen. Eine junge Beamtin streitet mit ihrem Partner über die Fami­li­en­grün­dung. Eine Dokto­randin gerät mit ihrem Professor über ihre Doktor­ar­beit zum Thema Glück anein­ander. Eine Teen­agerin findet keinen Freund, der den Ansprüchen ihres Vaters entspricht. Und eine junge Frau, die von den USA träumt, sitzt in einem Taxi fest mit dem Taxi­fahrer, der sie liebt. Es ist viel­leicht der Film, der am deut­lichsten zeigt, wie der gegen­wär­tige, still­schwei­gende Gesell­schafts­ver­trag, den die staats­tra­gende Partei in China mit der Bevöl­ke­rung abge­schlossen hat, funkio­niert und wie weit sie sich von Mao Tse-tungs-Devise – »Keinen richtigen poli­ti­schen Stand­punkt haben bedeutet, keine Seele haben.« – entfernt hat.

Am Sonntag ist dann sogar ein Triple im HP8 möglich. Neben dem Auftakt­film Nice View (15.00 Uhr) bieten Before Next Spring (17.30 Uhr) und Anima (20.00 Uhr und Montag, 17.10.22, 20 Uhr, Kino Breitwand Gauting) erneut eine faszi­nie­rende Stadt-Land-Dicho­tomie. Aller­dings entfernt sich LI Gens Before Next Spring aus China und zeigt das Leben einer Gruppe junger Chine­sinnen und Chinesen, die in Tokyo leben und in einem Restau­rant arbeiten. Sie unter­scheiden sich in ihren Charak­ter­zügen, haben jedoch eine Gemein­sam­keit: sie alle leben am Rande der Gesell­schaft. Niemand aus der Gruppe weiß, was die Zukunft bereit­hält, vor allem dieje­nigen, die keine Aufent­halts­ge­neh­mi­gung haben. Das erinnert in Ansätzen immer wieder an Lulu Wangs The Farewell, in dem ebenfalls die chine­si­sche Diaspora und ihre Zerris­sen­heit porträ­tiert wurde. Anima von CAO Jinling könnte von dieser Realität nicht weiter entfernt sein: Nachdem der junge Tutu einen Bären tötet, um das Leben seines kleinen Bruders zu retten, wird er als Ausge­stoßener behandelt – denn Bären sind dem Stamm der Lonki heilig. Jahre später arbeiten Tutu und Linzi als Holz­fäller nahe des Waldes, in dem sie aufge­wachsen sind, und kommen nur schwer über die Runden. Als sich beide in dieselbe Frau verlieben, treibt das die Brüder ausein­ander. Während Linzi eine immer tiefere Bindung zu dem Wald und der Natur entwi­ckelt, wählt Tutu einen anderen Weg.

Mit der letzten Präsenz­ver­an­stal­tung präsen­tiert das 10. Chine­si­sche Film­fes­tival mit Myth of Love (20.10.22, 20.00 Uhr, Kino Breitwand Gauting) ein fast schon klas­si­sches Bezie­hungs-Karussel: Lao Bai, ein seit vielen Jahren geschie­dener Maler gibt Zeichen­kurse bei sich zu Hause, in denen er Erwach­senen das Malen beibringt. Eine seiner Schü­le­rinnen, Gloria, entwi­ckelt Gefühle für ihn. Beibei ist die Exfrau von Lao Bai, die ihn damals betrogen hat. Und dann ist da noch die ebenfalls geschie­dene Frau Li. In den Gassen von Shanghai nimmt die Geschichte eines Mannes und dreier Frauen ihren Lauf.

Das Online-Programm konzen­triert sich bis auf wenige Ausnahmen auf klas­si­sches Genre-Kino: In Infernal Affairs 1, 2 und 3 besteht die Chance, großes Hong­konger Gangster-Kino zu sehen, eine komplex struk­tu­rierte Thriller-Trilogie mit bestens choreo­gra­fierten Suspense-Momenten. Ist Infernal Affairs bestes Suspense-Kino, sind die EX-Files 1, 2 und 3 bestes chine­si­sches RomCom-Kino, in dem melo­dra­ma­ti­sches Single-Liebes­leiden, Hochzeits-Erlö­sungen und Tren­nungen zentrale Bestand­teile sind, aber natürlich gerade in diesen Filmen hoch­mo­derner, städ­ti­scher chine­si­scher Arbeits- und Lebens­alltag mit all seinen Verfüh­rungen und Gefahren nicht besser gezeigt werden könnte.
RomCom-Kost ist auch Back to Love von LAN Hongchun, in dem ebenfalls Metro­polen-Alltag gezeigt wird: Zekai und Jing Shan sind schon seit zwei Jahren ein Paar, sie arbeiten in Shenzhen und wohnen zusammen. Zekais Mutter, die in Shantou lebt, weiß davon nichts. Zekai weiß, dass seine Mutter Probleme damit haben würde, Jing Shan zu akzep­tieren, weil diese schon mal verhei­ratet war, deshalb hat er sie seiner Familie nie vorge­stellt. Als seine Mutter ihn immer wieder drängt, zu heiraten, entscheidet er sich dazu, mit Jing Shan zu seiner Mutter zu reisen und ihr alles zu beichten.
Auch eine schwarze Komödie ist im Programm: in LIU Xunzimos Be Somebody versam­melt sich eine Gruppe von frus­trierten Filme­ma­cher:innen in einer dunklen und windigen Nacht zur Vorbe­rei­tung auf einen Filmdreh, der sie berühmt machen soll. Ihr Krimi basiert auf einem sensa­tio­nellen Mordfall, der einst ganz Shanghai erschüt­terte. Was sie jedoch nicht wissen: dass am tatsäch­li­chen Tatort der wahre Mörder unter ihnen ist.
Film im Film bietet auch DONG Chengpens The Reunions: Ein Comedy-Regisseur möchte einen Film darüber drehen, wie seine Groß­mutter das chine­si­sche Früh­lings­fest in ihrem Heimat­dorf feiert, als diese uner­wartet kurz vor Beginn der Dreh­ar­beiten stirbt. Doch die ganze Familie kommt für den Film zusammen und veran­staltet eine letzte große Feier.
Ein Alltag, der kaum stärker zu LIANG Mings Beitrag Wisdom Tooth kontras­tieren könnte, einem faszi­nie­rend ruhigen Film, der subtil die büro­kra­ti­schen Irrwege der chine­si­schen Gesell­schaft hinter­fragt: Weil Gu Xi nicht als chine­si­sche Staats­bür­gerin doku­men­tiert ist, läuft sie Gefahr, ihren Job zu verlieren. Während sie all ihre Bezie­hungen nutzt, um offi­zi­elle Papiere zu erhalten, sieht sie sich weiteren Heraus­for­de­rung gegenüber, die sich mit dem herein­bre­chenden Winter noch einmal inten­si­vieren.
Mit 90 Minuten gibt es abschließend auch noch die Möglich­keit, einen kleinen Blick auf die chine­si­sche Doku­men­tar­film­pro­duk­tion zu werfen. Das China Docu­men­tary Film Festival wirft in drei Filmen, Facing the Flood, The Travel­ling Cinema und A Shot at a better Future Blicke auf Flut­ka­ta­stro­phen, Erdbeben und das Mädchen­fuß­ball­team einer Grund­schule in einer abge­le­genen Gegend.

Wem das nicht reicht, dem bietet das 10. Chine­si­sche Filmfest ein kleines, wohl kura­tiertes Programm an Akti­vi­täten an, wird etwa vor jedem Film im HP8 ein Essstäb­chen-Wett­be­werb statt­finden, geht es mit dem Konfuzius-Institut (dem Veran­stalter des Festivals) auf chine­si­sche Stadttour in München (22.10.22, 14.00 Uhr) und findet im Institut selbst ein Karaoke-Nach­mittag (15.10.22, 15.00 Uhr) statt. Und über einen Film­dialog (»Festivals als Brücke zwischen den Kulturen«) sowie einen Vortrag im Live­stream über Kampf­kunst­lehrer in chine­si­schen Filmen findet eine weitere Diffe­ren­zie­rung des Angebots statt.