13.10.2022

Politik? Ja!

Days Before the Millenium
Eine der besonders kühnen Arbeiten der Sektion Asia Express: Days Before the Millenium
(Foto: 30. Filmfest Hamburg | Days Before the Millenium)

Das Weltkino ist zu Gast auf dem 30. Filmfest Hamburg, das sein Profil als politisches Festival weiter geschärft hat

Von Eckhard Haschen

Wer nicht die Möglich­keit hat, zu den Festivals nach Cannes, Venedig oder Locarno zu fahren, kann sich beim zehn­tä­gigen Filmfest Hamburg einen guten Überblick über das inter­na­tio­nale Gegen­warts­kino verschaffen. In neun größ­ten­teils nach Regionen und/oder Sprach­räumen abge­steckten Sektionen wurden in diesem Jahr 100 Filme aus über 50 Ländern gezeigt, von denen etwa ein Drittel in den nächsten Monaten im Kino starten werden. Dazu kamen die 23 Filme des natio­nalen Wett­be­werbs des Molodist Kyiv Inter­na­tional Film Festival, das dieses Jahr in Hamburg Unter­schlupf fand, sowie 16 deutsche TV-Produk­tionen.

Über die 20 Jahre, die Albert Wieder­spiel das Festival nun leitet – das nächste soll sein letztes sein –, hat er sein Profil als poli­ti­sches Festival immer weiter geschärft. Immer wieder – so auch in diesem Jahr – hat Wieder­spiel an die Lage verfolgter oder inhaf­tierter Film­schaf­fender vor allem aus dem Iran erinnert. Und selbst­ver­s­tänd­lich war No Bears des seit Juli in Haft sitzenden Jafar Panahi, der 2018 den Douglas Sirk Preis erhalten hatte, im Programm. Ansonsten lässt sich sagen, dass innerhalb der Sektionen der Spagat zwischen ästhe­tisch inno­va­tivem Autoren­kino und zumeist origi­nellen Genre­filmen inzwi­schen besser gelingt als früher, wo oft der Anteil eher konven­tio­neller Arthouse-Filme zu über­wiegen schien.

Zwei besonders kühne Arbeiten gab es zum Beispiel in der Sektion Asia Express. Zum einen war dies Days Before the Millenium, der als Euro­pa­pre­miere gezeigte erste Film des taiwa­ni­schen Regis­seurs Chan Teng-Yuan. Annie Nguyen spielt darin eine junge Viet­na­mesin, die in den 1990er Jahren in der Hoffnung auf ein besseres Leben einen Taiwaner heiratet, der sie aber ihrer Selbst­stän­dig­keit beraubt, so dass ihr nichts anderes bleibt als auszu­bre­chen. Eini­ger­maßen unver­mit­telt springt Chang im letzten Drittel seines zwei­ein­halb­stün­digen Werks – unter anderem durch einen Format­wechsel angezeigt – in die Gegenwart, um von der Situation von Frauen im heutigen Taiwan zu erzählen und ermög­licht so einen außer­ge­wöhn­lich diffe­ren­zierten Blick auf migran­ti­sche Lebens­er­fah­rung.

Eine Erfahrung, wie man sie auf dem Filmfest Hamburg so ähnlich schon häufiger machen konnte, der man sich aber immer wieder gerne hingibt, bezie­hungs­weise aussetzt, war die von A Tale of Filipino Violence, dem neuen, fast sieben­stün­digen Werk von Lav Diaz, dem das Festival bereits 2019 eine kleine Hommage gewidmet hatte. In seinem unver­wech­sel­baren Stil aus im Normal­format gehal­tenen schwarz­weißen Plan­se­quenzen taucht er ein weiteres Mal tief in die extrem blutige Geschichte der Phil­ip­pinen ein. Aufge­blät­tert wird diese diesmal anhand der Figur Servando Monzon III (John Lloyd Cruze), einem Nach­fahren spani­scher Kolo­ni­sa­toren – und einem japa­ni­schen Besat­zungs­sol­daten, der seine Mutter verge­wal­tigte – der nun, in den frühen 1970er Jahren, von General Marcos' Schergen um seinen Besitz gebracht wird. Einfach faszi­nie­rend, mit welchen vergleichs­weise einfachen Mitteln es Diaz gelingt, die in mindes­tens drei Schichten aufein­an­der­lie­gende und alles andere als verar­bei­tete Kolo­ni­al­ge­schichte seines Landes erfahrbar zu machen.

Eine verläss­liche Größe auf dem Filmfest Hamburg ist seit über zehn Jahren die Sektion Vitrina, in der spanisch- und portu­gie­sisch­spra­chige Filme laufen, und die von ihrem Kurator, dem argen­ti­ni­schen Film­kri­tiker Roger Koza gerne als Korrektiv zu einem weit­ver­brei­teten Bild vom latein­ame­ri­ka­ni­schen Kino mit Filmen in der Art von City of God oder Amores perros verstanden wird. Die hervor­ste­chendste Arbeit war hier dieses Jahr der gut vier­stün­dige Trenque Lauquen, bei dem man sich nicht von ungefähr an La Flor erinnert fühlt, war die Regis­seurin Laura Citarella doch dessen Produ­zentin – und hat dessen Regisseur Mariano Llinás auch hier beratend mitge­wirkt. Aus einer im Kern recht einfachen Geschichte um eine Frau, die verschwindet und die von zwei sie liebenden Männern gesucht wird, entwi­ckelt die Regis­seurin ein weit verzweigtes, geradezu episches Geflecht, bei dem man als Zuschauer/in gut daran tut, jederzeit mit dem Alle­run­vor­her­zu­se­hendsten zu rechnen.

Dass Mariano Llinás an den drei in einem kleinen Schwer­punkt gezeigten Filmen seines argen­ti­ni­schen Lands­mannes Santiago Mitre mitge­schrieben hat, mag viel­leicht über­ra­schen, kommen diese auf den ersten Blick doch eher klassisch daher: Von The Student aus dem Jahr 2011, der von der Entwick­lung eines jungen Mannes vom Neuling an der Uni zum Studen­ten­führer handelt, über die schwarze Komödie Petite Fleur (15 Says to Kill Your Neighbour) zu seinem neuesten Film Argentina, 1985 stellen sich Dreh­buch­autor und Regisseur ganz in den Dienst der Geschichten, ohne dass diese dadurch je eindi­men­sional werden. So vermit­telt etwa der Gerichts­film Argentina, 1985 eine Ahnung davon, wie die argen­ti­ni­sche Mili­tär­junta von 1976 bis 1983 operiert hat.

Wie reich das latein­ame­ri­ka­ni­sche Kino derzeit an ebenso originären wie aufrich­tigen Filmen ist, die in der Bericht­erstat­tung von den großen A-Festivals zuweilen unter­gehen, bewiesen darüber hinaus: Die Chilenin Manuela Martelli, die in ihrem Debüt 1976 ein beklem­mendes Bild des von Unmensch­lich­keit und Korrup­tion geprägten Lebens unter dem Pinochet-Regime zeichnet. Der Kolum­bianer Fabián Hernández, dessen Debüt A Male eine berüh­rende Männ­lich­keits­studie ist, in dem ein eher sensibler Teenager lernen muss, mit den Erwar­tungen eines Macho-Umfeldes zurecht­zu­kommen. Und die Argen­ti­nierin María Aparicio, die in About the Clouds in ruhigen Schwarz­weiß­bil­dern ganz und gar unprä­ten­tiös vier Geschichten elegant inein­ander verzahnt und dabei zugleich ein melan­cho­li­sches Porträt der Stadt Córdoba zeichnet.