Politik? Ja! |
||
Eine der besonders kühnen Arbeiten der Sektion Asia Express: Days Before the Millenium | ||
(Foto: 30. Filmfest Hamburg | Days Before the Millenium) |
Von Eckhard Haschen
Wer nicht die Möglichkeit hat, zu den Festivals nach Cannes, Venedig oder Locarno zu fahren, kann sich beim zehntägigen Filmfest Hamburg einen guten Überblick über das internationale Gegenwartskino verschaffen. In neun größtenteils nach Regionen und/oder Sprachräumen abgesteckten Sektionen wurden in diesem Jahr 100 Filme aus über 50 Ländern gezeigt, von denen etwa ein Drittel in den nächsten Monaten im Kino starten werden. Dazu kamen die 23 Filme des nationalen Wettbewerbs des Molodist Kyiv International Film Festival, das dieses Jahr in Hamburg Unterschlupf fand, sowie 16 deutsche TV-Produktionen.
Über die 20 Jahre, die Albert Wiederspiel das Festival nun leitet – das nächste soll sein letztes sein –, hat er sein Profil als politisches Festival immer weiter geschärft. Immer wieder – so auch in diesem Jahr – hat Wiederspiel an die Lage verfolgter oder inhaftierter Filmschaffender vor allem aus dem Iran erinnert. Und selbstverständlich war No Bears des seit Juli in Haft sitzenden Jafar Panahi, der 2018 den Douglas Sirk Preis erhalten hatte, im Programm. Ansonsten lässt sich sagen, dass innerhalb der Sektionen der Spagat zwischen ästhetisch innovativem Autorenkino und zumeist originellen Genrefilmen inzwischen besser gelingt als früher, wo oft der Anteil eher konventioneller Arthouse-Filme zu überwiegen schien.
Zwei besonders kühne Arbeiten gab es zum Beispiel in der Sektion Asia Express. Zum einen war dies Days Before the Millenium, der als Europapremiere gezeigte erste Film des taiwanischen Regisseurs Chan Teng-Yuan. Annie Nguyen spielt darin eine junge Vietnamesin, die in den 1990er Jahren in der Hoffnung auf ein besseres Leben einen Taiwaner heiratet, der sie aber ihrer Selbstständigkeit beraubt, so dass ihr nichts anderes bleibt als auszubrechen. Einigermaßen unvermittelt springt Chang im letzten Drittel seines zweieinhalbstündigen Werks – unter anderem durch einen Formatwechsel angezeigt – in die Gegenwart, um von der Situation von Frauen im heutigen Taiwan zu erzählen und ermöglicht so einen außergewöhnlich differenzierten Blick auf migrantische Lebenserfahrung.
Eine Erfahrung, wie man sie auf dem Filmfest Hamburg so ähnlich schon häufiger machen konnte, der man sich aber immer wieder gerne hingibt, beziehungsweise aussetzt, war die von A Tale of Filipino Violence, dem neuen, fast siebenstündigen Werk von Lav Diaz, dem das Festival bereits 2019 eine kleine Hommage gewidmet hatte. In seinem unverwechselbaren Stil aus im Normalformat gehaltenen schwarzweißen Plansequenzen taucht er ein weiteres Mal tief in die extrem blutige Geschichte der Philippinen ein. Aufgeblättert wird diese diesmal anhand der Figur Servando Monzon III (John Lloyd Cruze), einem Nachfahren spanischer Kolonisatoren – und einem japanischen Besatzungssoldaten, der seine Mutter vergewaltigte – der nun, in den frühen 1970er Jahren, von General Marcos' Schergen um seinen Besitz gebracht wird. Einfach faszinierend, mit welchen vergleichsweise einfachen Mitteln es Diaz gelingt, die in mindestens drei Schichten aufeinanderliegende und alles andere als verarbeitete Kolonialgeschichte seines Landes erfahrbar zu machen.
Eine verlässliche Größe auf dem Filmfest Hamburg ist seit über zehn Jahren die Sektion Vitrina, in der spanisch- und portugiesischsprachige Filme laufen, und die von ihrem Kurator, dem argentinischen Filmkritiker Roger Koza gerne als Korrektiv zu einem weitverbreiteten Bild vom lateinamerikanischen Kino mit Filmen in der Art von City of God oder Amores perros verstanden wird. Die hervorstechendste Arbeit war hier dieses Jahr der gut vierstündige Trenque Lauquen, bei dem man sich nicht von ungefähr an La Flor erinnert fühlt, war die Regisseurin Laura Citarella doch dessen Produzentin – und hat dessen Regisseur Mariano Llinás auch hier beratend mitgewirkt. Aus einer im Kern recht einfachen Geschichte um eine Frau, die verschwindet und die von zwei sie liebenden Männern gesucht wird, entwickelt die Regisseurin ein weit verzweigtes, geradezu episches Geflecht, bei dem man als Zuschauer/in gut daran tut, jederzeit mit dem Allerunvorherzusehendsten zu rechnen.
Dass Mariano Llinás an den drei in einem kleinen Schwerpunkt gezeigten Filmen seines argentinischen Landsmannes Santiago Mitre mitgeschrieben hat, mag vielleicht überraschen, kommen diese auf den ersten Blick doch eher klassisch daher: Von The Student aus dem Jahr 2011, der von der Entwicklung eines jungen Mannes vom Neuling an der Uni zum Studentenführer handelt, über die schwarze Komödie Petite Fleur (15 Says to Kill Your Neighbour) zu seinem neuesten Film Argentina, 1985 stellen sich Drehbuchautor und Regisseur ganz in den Dienst der Geschichten, ohne dass diese dadurch je eindimensional werden. So vermittelt etwa der Gerichtsfilm Argentina, 1985 eine Ahnung davon, wie die argentinische Militärjunta von 1976 bis 1983 operiert hat.
Wie reich das lateinamerikanische Kino derzeit an ebenso originären wie aufrichtigen Filmen ist, die in der Berichterstattung von den großen A-Festivals zuweilen untergehen, bewiesen darüber hinaus: Die Chilenin Manuela Martelli, die in ihrem Debüt 1976 ein beklemmendes Bild des von Unmenschlichkeit und Korruption geprägten Lebens unter dem Pinochet-Regime zeichnet. Der Kolumbianer Fabián Hernández, dessen Debüt A Male eine berührende Männlichkeitsstudie ist, in dem ein eher sensibler Teenager lernen muss, mit den Erwartungen eines Macho-Umfeldes zurechtzukommen. Und die Argentinierin María Aparicio, die in About the Clouds in ruhigen Schwarzweißbildern ganz und gar unprätentiös vier Geschichten elegant ineinander verzahnt und dabei zugleich ein melancholisches Porträt der Stadt Córdoba zeichnet.