Die letzten Tage der Menschheit |
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Unser Weltbild erschüttern, anstatt es zu bestätigen... | ||
(Foto: Alamode) |
Spätestens seitdem er im Mai für Triangle of Sadness bereits seine zweite Goldene Palme gewonnen hat, ist offenkundig, dass der Schwede Ruben Östlund einer der wichtigsten Filmemacher der Gegenwart ist. Man mag sich an ihm stoßen, sich über seine Filme mokieren, ihn für überschätzt oder für einen Bluffer halten, übersehen kann man ihn nicht.
Das schmale, aber hochpräzise
Filmschaffen des schwedischen Regisseurs verbindet im Gegensatz zu dem seiner allermeisten Kollegen Eingängigkeit und Aktualität, es unterhält, und es provoziert.
Alle Filme Östlunds handeln von der modernen Gesellschaft und ihren Illusionen, von Verdrängungen und falschen Hoffnungen, unterdrückter Gewalt und verlorenen Perspektiven.
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Austauschbare Räume. Die Filme des schwedischen Regisseurs besitzen zwar keine spezifische, sofort erkennbare visuelle Handschrift, aber sie haben prägnante Bilder. Sie scheinen lose erzählt, in Szenen, die für sich stehen und oft auch anders montiert sein könnten, zugleich aber entwickeln sie einen beträchtlichen Sog. Sie spielen in einer Gegenwart, die einerseits eine spezifisch schwedische ist, zugleich aber in großen Teilen aus öffentlichen oder halböffentlichen Räumen besteht, die das Leben des gesamten Westens oder aller globalen Wohlstandsgesellschaften prägen und in vieler Hinsicht austauschbar sind: Öffentliche Verkehrsmittel, Shopping-Malls, Museen, Plätze, Hotels, Cafés, Fast-Food-Restaurants, Mietskasernen, Großstadtstraßen, die Ränder der Vorstädte. Universale Orte, Zeugnisse moderner Zivilisation, anonym, austauschbar, geschichtslos.
Manchmal natürlich sind es auch geschlossene Terrains: Sitzungsräume, Jury-Meetings, ein Casting, oder eine nur den »oberen Zehntausend« vorbehaltene millionenschwere Luxusyacht.
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Fremde Natur. Die Natur hingegen spielt nur am Rande eine Rolle. Sie ist nie unberührt und schon gar nicht idyllisch: Ein paar Sträucher neben einer Straße, eine Wiese unter einer Autobahnbrücke, ein Waldstück nahe einer Trabantenstadt, eine von Skiliften und planierten Pisten durchzogene Schneelandschaft, ein Gorillakostüm, in dem eigentlich ein Mensch steckt und so »als Menschenaffe« eine gesittete konservative Abendgesellschaft durcheinanderbringt.
Wenn die Natur dann doch einmal autonom zu sein scheint, dann als Bedrohung, wie in der nach wie vor wohl berühmtesten Szene eines Östlund-Films: Als in Höhere Gewalt eine Schneelawine vor einem Bergcafé niedergeht und sich das spektakuläre Naturschauspiel in einen apokalyptischen Schrecken verwandelt, um sich dann doch als nur scheinbar gefährlich zu entpuppen.
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In der Elite des Weltkinos. Im Mai 2017 gewann Ruben Östlund für seinen Film The Square die Goldene Palme von Cannes. Spätestens seitdem gehört er zu jenen Filmemachern, die in der ersten Reihe des Weltkinos stehen; mit seinem zweiten Cannes-Sieg gehört Östlund nun zu dem höchst exklusiven Club der nur neun Filmemacher, die schon zweimal mit dieser wichtigsten Auszeichnung des europäischen Kinos prämiert wurden.
Dabei ist Östlunds Werk mit bislang sechs Spielfilmen vergleichsweise schmal, und der 1974 geborene Regisseur ist noch relativ jung. Tatsächlich war die Auszeichnung in Cannes zumindest beim ersten Mal eine große Überraschung, auch wenn Östlund seit seinen Anfängen eng mit diesem Festival verbunden ist.
Bereits sein zweiter Spielfilm Involuntary lief 2008 in der Sektion »Un Certain Regard«, wo 2014 auch Höhere Gewalt gezeigt und mit dem »Jury-Preis« ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2011 lief Play in der Reihe »Quinzaine des réalisateurs« und wurde ebenfalls prämiert.
Seit dem Studium auf der Filmhochschule von Göteborg arbeitet Östlund mit dem Produzenten Erik Hemmendorf zusammen, mit dem er 2002 die Produktionsgesellschaft »Platform« gründete, die alle seine Filme produzierte. Seit Mitte der Nuller-Jahre co-produziert Östlund auch mit dem in Berlin lebenden Philippe Bober und dessen deutsch-französischer Firma »Coproduction Office«. Alle vier seitdem gemeinsam produzierten Filme liefen in Cannes.
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Soziologische Diagnose, moralische Konsequenzen. Im Winter 2016 drehte Östlund einige Tage in Berlin und ließ sich in einer Wohnung nahe dem Helmholtzplatz bei der Arbeit zuschauen. Das Team war klein, der Dreh ruhig und konzentriert. Östlund ist auch am Set ein Beobachter, zugleich unbestritten an der Spitze einer Hierarchie: derjenige, der gefragt wird, wenn die Dinge unklar sind, und der erste Ansprechpartner für die Schauspieler.
Konzentriert, offen und kommunikativ erzählte Östlund damals über seine Arbeit und skizzierte den noch unfertigen Film The Square. Es war bereits das dritte Treffen mit dem Regisseur. Östlund scheint sich im letzten Jahrzehnt persönlich wenig verändert zu haben. Erkennbar wusste hier einer schon früh, was er will und wie es ihm gelingen kann. Im Vergleich zu anderen Filmemachern spricht Östlund wenig über Handwerkliches, über ästhetische Fragen oder über Filmgeschichte und andere Filmemacher. Umso mehr scheint er sich mit politischen Fragen, gesellschaftlichen und soziologischen Diagnosen und deren moralischen Konsequenzen zu beschäftigen: Play wurde durch zwei Zeitungsmeldungen inspiriert, die fünf zentralen Episoden von Involuntary basieren auf eigenen Erlebnissen und denen einiger Freunde. Auch The Square, so Östlund, fuße auf eigenen Erfahrungen in der Kunst- und Museumswelt sowie seinen eigenen kunstphilosophischen Ansichten.
Der Regisseur begann als Dokumentarfilmer; zum Teil drehte er Ski-Dokumentationen, und auch seine Spielfilme sind dominiert von Beobachtungen, vom Geist der Passivität, der die Wirklichkeit vermeintlich unbeeinflusst zeigen will, hierin die Haltung eines Naturforschers oder Tierfilmers nachahmend, wie diese aber natürlich nicht weniger gesucht und inszeniert. Die ersten drei Filme drehte Östlund ausschließlich mit Laien, erst bei Höhere Gewalt arbeitete er mit professionellen Schauspielern.
Sein allererster Spielfilm war erkennbar noch eine Fingerübung, und weist doch im Rückblick bereits vieles von dem auf, was seine spätere Arbeit auszeichnet. Gitarrmongod (Die mongoloide Gitarre) hatte 2005 auf dem Filmfestival in Moskau Premiere und gewann dort den FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik. Eine schwarze Komödie, die rund um lose verbundene Figuren in der fiktiven Stadt Jöteborg absurde Episoden erzählt. Diese Figuren sind jung, teilweise Kinder, und soziale Außenseiter. Eine statische, fixierte Kamera, die an Überwachungsbilder angelehnte Einstellungen produziert, zeigt die destruktive Natur des Menschen.
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Schrecken und Behaglichkeit: Involuntary von 2008 wirkt auf den ersten Blick wie eine direkte Fortsetzung: Beginnend mit einer Autofahrt durch die Stadt landet man in einer Abendgesellschaft. Nach dem Essen treten alle in den Garten, ein Feuerwerk wird entzündet, doch bald gerät einer der Feuerwerkskörper außer Kontrolle und verbreitet Schrecken in der gerade noch behaglichen Gruppe. Stellvertretend für die ganze bürgerliche Gesellschaft wird hier Sicherheit erschüttert.
Anderenorts geschieht in weiteren Episoden, die einen scheinbar beliebig zusammengewürfelten Gesellschaftsquerschnitt zeigen, Ähnliches: Eine Handvoll Teenager betrinkt sich und verliert eine Nacht lang die Kontrolle; als eine Bierdose gegen ein Auto fliegt, wird der Fahrer beinahe gewalttätig; ein Bus mit Reisenden wird vom Busfahrer gestoppt, weil dieser auf der Bordtoilette einen kaputten Vorhang entdeckt hat und erst weiterfahren will, wenn sich der Verantwortliche dafür melde.
Die Verantwortung und das öffentliche Schuldeingeständnis zählen mehr als die Banalität des Schadens. Ironische Volte: Der Zuschauer weiß, dass eine ältere Schauspielerin den Vorhang aus Versehen beschädigt hat, es meldet sich aber ein Kind, dem vom Vater offensichtlich ein Schuldgefühl eingeredet wurde. Die Schauspielerin korrigiert den Irrtum nicht, das grundlose Schuldgefühl als eine Art moralisches Alltagsbewusstsein wird vom Vater auf den Sohn übertragen.
In einer weiteren Episode stellt sich eine Lehrerin gegen das Kollegium, als sie den vermeintlichen Übergriff eines Kollegen zur Sprache bringt. Daraufhin wird sie von den übrigen Kollegen geschnitten und von dem Beschuldigten bedroht, als deren Gegenargumente, warum es sich um gar keinen Übergriff handle, nicht fruchten: Sturheit trifft auf Sturheit.
Die Erzählweise in kurzen, parallel geschilderten Vignetten erinnert an die Filme von Roy Andersson. Auch hier gibt es keine klare Hauptfigur, auch hier werden unverbundene Geschichten mosaikartig zu einem Panorama der Gesellschaft montiert. Und auch bei Andersson liegt eine fundamentale Depression wie Mehltau über allem Geschehen. Undramatisch, aber umso schmerzhafter. Keine Melancholie des Scheiterns, sondern das Gefühl der Ausweglosigkeit, eine Art Einsicht in existentielle Sinnlosigkeit. Doch wo bei Andersson die Schauplätze erkennbar künstlich sind, sucht Östlund reale Orte auf. Zudem legt Östlund psychologische Deutungen zumindest nahe und unterspielt das Komödiantische seiner düsteren Gesellschaftsansicht. Während Andersson befreiendes Lachen evoziert, erzeugt Östlund beim Betrachter Schuldgefühle und legt damit den sado-masochistischen Kern aller Komödie bloß: Wer bei Involuntary über die Protagonisten lacht, erkennt sich selbst als unmoralisch.
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Mitspielen aus Angst: Das Terrain des Moralischen, Fabeln über Schuld und Sühne und die Möglichkeit der Erlösung in modernen Gesellschaften bestimmen seither Östlunds Filme immer deutlicher. Auch wird ihre Erzählweise immer geradliniger. Ästhetisch wie inhaltlich wird Roy Andersson als Pate gewissermaßen durch Ingmar Bergman abgelöst.
Play von 2011 erzählt von einer Handvoll Teenager in einer Großstadt. Eine Gruppe migrantischer, schwarzer Jungs drangsaliert und beraubt drei weiße, etwas jüngere Jungen aus behüteten Verhältnissen. Am Rande sieht man Erwachsene, eine als Indianer verkleidete Latino-Band auf einem verregneten öffentlichen Platz, Menschen in öffentlichen Bussen, Personal in einem Schnellimbiss. Sie alle ignorieren das Geschehen, zum Teil aus sozialer Blindheit, zum Teil sehr bewusst. Östlund handelte sich damals Rassismusvorwürfe ein, weil er »böse schwarze« und »gute weiße« Kinder zeigt und semi-faschistische Gewaltstrukturen innerhalb der Migrantengruppe.
Die eigentliche Provokation von Play liegt allerdings ganz woanders. Nämlich im Verhalten der weißen Opfer. Obwohl sie von Anfang an wissen, dass sie ausgeraubt werden sollen, spielen die drei Jungs die bösen Spiele ihrer Peiniger mit, zu denen auch körperliche Übergriffe gehören. Sie wahren öffentlich den Anschein, bitten Dritte nur höchst zaghaft um Hilfe. Wie gelähmt bleiben sie sitzen, wenn sich Fluchtmöglichkeiten eröffnen. Als einer von ihnen doch ausreißt, läuft sein Freund hinter ihm her und fängt ihn wieder ein. Als sie ihre Taschen ausleeren sollen, ist es erneut der Freund, der den Leidensgenossen auffordert, wirklich alles auszuleeren: »Wir müssen das jetzt machen.« Östlund zeigt den Nachwuchs der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft, wie diese ihn nicht sehen will: nicht aufrecht und widerständig, sondern feige und opportunistisch bis zur Kollaboration mit dem Bösen. Schon in der Kindheit moralisch korrupt.
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Tatsächlich sind Östlunds Setting und die Position des Regisseurs hier differenzierter und weitaus subtiler als es jene, die Rassismus unterstellen, sehen möchten. Denn der schlichte Blick auf die Hautfarben wird selbst rassistisch, wo er Migrantenkinder als quasi „naturgegeben“ unschuldig zeichnet. Östlund provoziert diese Vorwürfe bewusst, mit ihnen aber auch die Pointe, dass alle, die ihm Rassismus vorhalten, das tatsächliche Geschehen ignorieren und die Opfer mittelbar in (Mit-)Täter verwandeln.
Er selbst sprach das in Interviews an, indem er die provokative Parallele zwischen dem Verhalten der weißen Jungen und Juden zog, die sich vermeintlich widerstandslos „wie die Lämmer zur Schlachtbank“ führen ließen, ohne sich zu wehren. »Offenbar haben wir Menschen eine derart starke Angst, Regeln und Autoritäten in Frage zu stellen, dass wir entsprechende Konflikte und Chaos so lange wie möglich vermeiden wollen.« Ihm kam es außerdem auf das sozialpsychologische »Bystander«-Problem an, dass Menschen Hemmungen haben, einzugreifen, selbst wenn direkt neben ihnen offenkundiges Unrecht geschieht.
Erst als ganz am Ende von Involuntary ein Vater eines Opfers einen der Täter erkennt, ihn zur Rede stellt, eine Moralpredigt hält und ihm das gestohlene Handy wieder abnimmt, mischt sich eine Passantin ein. Unbeteiligt hat sie alles nur aus der Ferne beobachtet, überträgt aber ohne Kenntnis des Kontextes ihre Vorurteile – Rassismus- und Gewaltvorwürfe gegen den Vater – auf die Situation. Diese Szene ist wie die darauffolgende, in der ein weißes Mädchen zu offensichtlich afrikanischer Musik einen in seiner Unbeholfenheit lächerlichen Tanz aufführt, ein sarkastischer, beinahe zynischer, jedenfalls antiliberaler Kommentar auf alle Multikulti-Toleranz und ihre Ideale.
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Die Panik vor dem nur vage Möglichen: Toleranz einerseits, moralische Zumutungen andererseits bilden auch das Thema von Höhere Gewalt (2014). Im Zentrum steht eine »ideale Familie« aus gutsituierten schwedischen Verhältnissen: Vater, Mutter, zwei Kinder, die in Frankreich Ski-Urlaub machen. Den vieren scheint es an nichts zu fehlen. Sie sehen gut aus, ihr Hotel ist luxuriös, die Skiausstattung auf dem neuesten Stand, so modisch wie sicher – ein prototypisches Beispiel des wohlhabenden Mittelstands, in dessen Leben von Bankenkrise und Arbeitslosigkeit so wenig zu spüren ist wie von Kriegen, Folter, Seuchen, Hunger und religiösem Fanatismus.
Bevor sich dieses Unsichtbare, vielleicht Verdrängte auf andere Weise und umso zwingender bemerkbar macht, zeigt Östlund die Idylle. Tomas, Ebba, Harry und Vera genießen Schnee, Sauna und schicke Abendessen. Zugleich konterkariert er diese Eindrücke immer wieder mit Bildern, die in dem Zusammenhang, in den sie gestellt sind, eine ironische, auch distanzierende Wirkung entfalten; Bilder der Routine, des Seriellen: Das Hotelpersonal, das eifrig, still, aber auch seltsam unberührt von den Gästen den Ablauf der Tourismus-Maschinerie sichert. Düsen, die künstlichen Schnee auf die Piste rieseln lassen, Pistenraupen, die wie ein futuristisches Ballett nachts für ideale Schnee-Bedingungen sorgen. Diese Maschinerie montiert der Regisseur parallel mit der Abendtoilette der Touristen – die Sequenz mündet darin, dass die Familie vor dem Badezimmerspiegel steht und sich mit elektrischen Zahnbürsten die Zähne putzt.
Einige Zeit später passiert, was die latent angespannte Atmosphäre bereits ahnen ließ: Eine kontrolliert ausgelöste Lawine wird größer und heftiger als erwartet und rast – mit scheinbar desaströsen Folgen – auf die vollbesetzte Terrasse eines Cafés zu, in dem auch Tomas‘ Familie zu Gast ist. Ein Schock für die Beteiligten, auch für die Zuschauer, der sich zwar bald in eine Pulverschneewolke auflöst, aber doch untergründige Folgen hinterlässt. Die Idylle bekommt von nun an Haarrisse; immer deutlicher werden Spannungen in der Familie sichtbar, der Ton ist plötzlich gereizt. Die Kinder werden aufsässig, das Paar streitet.
Die tiefere Ursache ist vor allem die Erfahrung, die Ehefrau Ebba gemacht hat: In dem Augenblick, in dem die Lawine die Café-Terrasse unter sich zu begraben schien, fühlte sie sich von ihrem Mann im Stich gelassen. Tomas flüchtete in Deckung, wie sie sagt, kümmerte sich scheinbar nicht um sie und die Kinder. Tomas selbst sieht das anders – und es liegt im Auge des Betrachters, welcher Version er hier folgt.
Höhere Gewalt ist ein existentielles Drama, das den Betrachter fast zwangsläufig an die bürgerlichen Selbstzerfleischungsszenarien und Entlarvungsorgien eines Ingmar Bergman erinnert. Ähnlich konsequent ist auch dieser Film. Allerdings moralisiert er nicht, ist ironischer, kühler, ohne Furor. Östlund erzählt von der Katastrophe im Normalen, von der heimlichen Nähe von Tourismus und Terror. Ein Klassenporträt, in dem breite Teile des Publikums sich problemlos wiedererkennen werden: Schöne, gebildete, wohlhabende, übergesunde, allseits durchgecheckte und sicherheitsbesessene Menschen, die noch nie echte Probleme gekannt haben. Als diese dann kommen, sind sie hilflos.
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Vor der Revolution: Leben im Ancien Regime. So ist Höhere Gewalt auch eine großartige Farce und Comédie humaine. Über eine moderne Gesellschaft, die unfähig ist, Dinge, die eben mal vorkommen, auch zu akzeptieren. Die stattdessen alle möglichen Geschehnisse zu etwas Grundsätzlichem erklärt, »zum Zeichen«, und auf sie therapeutisch reagiert. Eine Gegenwart, die ihre Ängste nicht mehr zu kontrollieren vermag, sondern zunehmend von Panik erfasst und blockiert wird – von Fantasmen, also der Panik vor dem nur vage Möglichen.
Selbst die Wahl des im Kino omnipräsenten Vivaldi und seiner »Vier Jahreszeiten« zur Filmmusik macht in dieser Hinsicht Sinn. Östlund erzählt anhand eines Mikrokosmos vom Ganzen: Er zeigt die Wohlstandsverhältnisse des frühen 21. Jahrhunderts als dekadentes, in sich überlebtes Ancien Regime. Ganz sachte, gewissermaßen über die Ränder kehrt das Verdrängte zurück. Die »Höhere Gewalt« des Titels kann Gott meinen, eine bevorstehende politische Revolution oder einfach den Einbruch des Unverhofften ins geregelte Leben, Befreiung und Bedrohung zugleich. In jedem Fall aber meint »Höhere Gewalt« eine Chiffre für die Ohnmacht des Menschen.
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Die Selbstdemütigung einer Gesellschaft: Daran knüpft The Square (2017) direkt an. Die Hauptfigur Christian ist Kunstkurator in Stockholm. Er wird in der ersten Hälfte des Films der Lächerlichkeit preisgegeben. Man soll ihn, zumindest am Anfang, nicht mögen. Er ist ein sozialer Hochstapler, ein absolut unauthentischer Mensch, der noch seine Spontaneität inszeniert, indem er in eine Rede einen »charmanten« Fehler einbaut. Erst mit der Zeit kommt er einem näher, weil man in Christian vielleicht auch sich selbst erkennt.
Der Film arbeitet mit lang ausgespielten Szenen, die sich dann zu einem Porträt fügen. Man begleitet Christian durch ein paar Arbeitstage. In präzisen, sprechenden Erlebnissen folgt man ihm. Dabei wird seine Doppelmoral erkennbar – und zugleich deren Erschütterung. So entsteht das Porträt eines lächerlichen Mannes.
Östlund nutzt das Leben dieser Hauptfigur zu einer Abrechnung mit der Gegenwart und nimmt dabei Illusionen über Demokratie und Gerechtigkeit, das schlechte Gewissen des Mittelstands, politische Korrektheit und die Moralisierung gesellschaftlicher Verhältnisse aufs Korn. So tritt bei einem Abendessen für die reichen Förderer des Museums unter dem Motto »Welcome to the Jungle« ein Performance-Künstler als Affe auf und wird den Gästen gegenüber gewalttätig. Die nehmen fast alles hin, bevor die Szene schließlich doch umschlägt. Östlund zeigt hier eine komplett übertriebene Toleranz für „das Andere“, die in die Selbstdemütigung einer Gesellschaft mündet, auf die unmittelbar die Gleichgültigkeit und Nivellierung aller Geltungs- und Vernunftansprüche folgt.
Ein weiterer Erzählfaden betrifft die Kunst und speziell deren moderne Spielart. Ist etwas dadurch, dass es im Museum steht, schon Kunst? Eine alte Frage, die aktualisiert wird, indem immer wieder, sozusagen als »running gag«, das Publikum beim Wahrnehmen von Kunstwerken zu erleben ist, wobei man erkennt, dass moderne Kunst nicht zum Betrachter spricht. Der Film legt nahe, über solche Beobachtungen zu lachen; manches wirkt dabei mitunter etwas schlicht, etwa, wenn ein Reinigungswagen die zum Kunstwerk aufgehäuften Kieselsteine nachts wegsaugt, was dann zum Versicherungsfall wird.
Tiefsinniger ist die Geschichte eines Clips für die sozialen Netzwerke, der zuerst das Ziel hatte, durch Provokation Aufmerksamkeit zu generieren, dann aber einem Kunstbetrieb zum Opfer fällt, der sich längst an die Macht des Geldes verkauft hat. Christian ist verantwortlich und muss gehen, weil die Geldgeber das wollen – die offizielle Begründung ist aber eine moralisierende: Sein Clip habe »die Gefühle der Öffentlichkeit verletzt«.
Das geht mit vielem einher, was sich tagtäglich erleben lässt, etwa dem Ende der Kunst, wie wir sie kennen. Kunst verliert ihre kritische, irritierende Funktion und wird zum stabilisierenden Innendesign der herrschenden Verhältnisse. Gesellschaftlich erleben wir, auch das offenbart das Schicksal des Kurators, das Ende der Meinungsfreiheit. Auch hier zeigt sich Östlund als konservativer Kritiker moderner Verhältnisse, allerdings als Kritiker mit viel Humor. Dieser Humor ist eher bissig als gelassen, eher schwarz als heiter.
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Die letzten Tage der Menschheit: Tatsächlich beginnt Ruben Östlunds Film Triangle of Sadness als humorvoll-sarkastische Betrachtung über diese Modewelt; Mit Spott über den »Balenciaga Look« (ernst, mit gerunzelter Stirn) und den »H&M Look« (mit dummem, immer-sonnigem Lächeln).
Eine Modenschau läuft, im Hintergrund auf der Leinwand gibt es einen Clip der immer wieder
kurze Aussagesätze enthält. Der zweite von ihnen heißt: »Zynismus maskiert sich als Optimismus«.
Im weiteren Verlauf wird dieser Film zu einem Porträt und einer Kritik des ganz alltäglichen Wohlstandslebens unserer Gegenwart. Eine Kritik von Doppelmoral, Dekadenz und der Lebensweisen von Menschen, die sich ein Leben ohne Moral, Yoga und Mandel-Latte mit Hafermilch gar nicht mehr vorstellen können.
Damit ist dies keineswegs nur eine »Kritik der Superreichen« – so wie dieser Film gelegentlich direkt nach dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes dargestellt wurde.
Man sieht zwar viele Superreiche in diesem Film – das stimmt. Man sieht sie Champagner-schlürfend und Kaviar-fressend auf großen Yachten. Und man sieht, wie sie das oft außereuropäische Dienstpersonal kommandieren und demütigen.
Aber man sieht eben auch die, die untrennbar dazu gehören: Die Hofnarren aus Schauspielern, Künstlern, Models und Medienleuten, die erst den Spiegel bereitstellen, vor dem sich diese Superreichen narzisstisch ausleben. Man sieht, wie sie sich selbst vor den von ihnen insgeheim Bewunderten klein-machen.
Und man sieht das Personal, die Knechte der modernen Welt, die sich immer dann, wenn sie es können, kein bisschen besser benehmen als ihre Herren.
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Zehn kleine Oligarchen... Man könnte Östlunds schräge Farce auch als die bitterböse Erwachsenenversion des Fernseh-Evergreens »Traumschiff« beschreiben, mit einem »Captains Dinner« und Bar-Gesprächen, nur dass der Kapitän von Woody Harrelson gespielt wird, und Sozialist ist und die Gespräche über Marx und Ronald Reagan kreisen. Unter den Kreuzfahrt Gästen sind in diesem Fall auch Waffenfabrikanten, die sagen, sie würden etwas herstellen, das »upholding democracy« bedeutet: Handgranaten.
Auch zwei deutschen Schauspielerinnen bietet Östlund die große Bühne des Kinos: Iris Berben und Sunnyi Melles spielen zwei reiche Figuren aus einem ganzen Dutzend Reicher aus aller Welt. Zusammen bilden sie die illustre Gästeschar einer Luxusyacht, auf der der größte Teil eines Films spielt, der vor allem das Portrait moralisch verwahrloster, von gedankenlosem Überfluss und Zynismus geprägter Wohlstandsverhältnisse ist.
Dabei will der Film einmal mehr zeigen, dass Arme,
Flüchtlinge und andere Ausgebeutete moralisch keineswegs besser sind. Das zeigt sich, als nach dem Untergang der Luxusyacht die Überlebenden auf einer einsamen Insel stranden, und sich die Machtverhältnisse verschieben. Wenn die chinesische Toilettenfrau dann plötzlich den Oligarchen kommandiert – dann lacht das europäische Kinopublikum so lange gellend, bis es ihm dämmert, dass auch es selbst gemeint ist.
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»The Ship is going under...« Dieser Film ist ein Geschenk für das Kino in Zeiten seiner existentiellen Krise: Indem er das Publikum spaltet, indem er provoziert, indem er dazu anregt, nach dem Film weiter zu debattieren, nachzudenken und ihn sich vielleicht gleich noch mal anzuschauen, ist »Triangle of Sadness« eigentlich ideales Autorenkino. Wir haben es nur ein bisschen verlernt, auf solche Filme angemessen zu reagieren und die Uneindeutigkeit, die sie in uns hervorruft, als Vorzug wertzuschätzen und zu begrüßen.
Gefällige moralische Positionen, Botschaften fürs Poesiealbum und Rücksicht auf Empfindlichkeiten will Östlund nicht bieten. Er will irritieren und provozieren, will unser Weltbild erschüttern, anstatt es zu bestätigen. Und dabei zugleich Schönheit und alternative Welten auf die Leinwand bringen. Kino ist nicht nur, wenn schöne Menschen schöne Dinge tun, sondern auch, wenn kluge und überraschende Sachen in schöner Weise gezeigt werden.
Der Grund, auf dem Östlunds eigener Film und sein vermutliches Weltbild stehen, ist dabei so schlüpfrig und schwankend wie der, auf dem sich seine Figuren befinden – und nicht erst, als in seinem Film ein wilder Sturm aufkommt und das Traumschiff der Reichen und früher mal Schönen zum Schwanken und schließlich zum Sinken bringt.
»The Ship is going under...« – das ist auch ein allgemeiner Befund. Ruben Östlund ist möglicherweise ein Zyniker, er hat möglicherweise sehr konservative Ansichten, die nur als »links« maskiert werden, aber sein Film ist hervorragendes und sehr witziges Kino.
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Fabeln über Männer, Moral und Dekadenz. Gemeinsam ist den Filmen von Ruben Östlund, dass sie von der aktuellen Gesellschaft handeln. Sie sind moralische Fabeln, ohne zu moralisieren. Oft sind es Filme über Männer, über Männlichkeit und die latente Gewalt des Männlichen. Östlund zeigt gewalttätige Männer und moralisch beleidigte Frauen wie Männer, die öffentliche Entschuldigungen und Schuldeingeständnisse einfordern, gespiegelt in den betretenen, peinlich berührten Reaktionen einer Gesellschaft, die solche Eingeständnisse mitunter gar nicht haben will. Er zeigt unterdrückte Gewalt und die destruktive Natur des Menschen.
Dabei sind seine ungemein reichhaltigen, von Einfällen strotzenden Filme präzise Informationen über den Stand der Dinge: Dekadenzanalysen über Unsicherheit und die Erschöpfung unserer Welt, über sozialen Selbstmord aus Angst vor dem Tode – und über die Notwendigkeit, uns neu zu erfinden.