13.10.2022

Die letzten Tage der Menschheit

Triangle of Sadness
Unser Weltbild erschüttern, anstatt es zu bestätigen...
(Foto: Alamode)

Das Leben vor dem Untergang: Eine Analyse des Werks des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund, der in seinen Filmen der bürgerlichen Gesellschaft einen Spiegel vorhält

Von Rüdiger Suchsland

Spätes­tens seitdem er im Mai für Triangle of Sadness bereits seine zweite Goldene Palme gewonnen hat, ist offen­kundig, dass der Schwede Ruben Östlund einer der wich­tigsten Filme­ma­cher der Gegenwart ist. Man mag sich an ihm stoßen, sich über seine Filme mokieren, ihn für über­schätzt oder für einen Bluffer halten, übersehen kann man ihn nicht.
Das schmale, aber hoch­prä­zise Film­schaffen des schwe­di­schen Regis­seurs verbindet im Gegensatz zu dem seiner aller­meisten Kollegen Eingän­gig­keit und Aktua­lität, es unterhält, und es provo­ziert.

Alle Filme Östlunds handeln von der modernen Gesell­schaft und ihren Illu­sionen, von Verdrän­gungen und falschen Hoff­nungen, unter­drückter Gewalt und verlo­renen Perspek­tiven.

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Austausch­bare Räume. Die Filme des schwe­di­schen Regis­seurs besitzen zwar keine spezi­fi­sche, sofort erkenn­bare visuelle Hand­schrift, aber sie haben prägnante Bilder. Sie scheinen lose erzählt, in Szenen, die für sich stehen und oft auch anders montiert sein könnten, zugleich aber entwi­ckeln sie einen beträcht­li­chen Sog. Sie spielen in einer Gegenwart, die einer­seits eine spezi­fisch schwe­di­sche ist, zugleich aber in großen Teilen aus öffent­li­chen oder halböf­fent­li­chen Räumen besteht, die das Leben des gesamten Westens oder aller globalen Wohl­stands­ge­sell­schaften prägen und in vieler Hinsicht austauschbar sind: Öffent­liche Verkehrs­mittel, Shopping-Malls, Museen, Plätze, Hotels, Cafés, Fast-Food-Restau­rants, Miets­ka­sernen, Groß­stadt­straßen, die Ränder der Vorstädte. Univer­sale Orte, Zeugnisse moderner Zivi­li­sa­tion, anonym, austauschbar, geschichtslos.

Manchmal natürlich sind es auch geschlos­sene Terrains: Sitzungs­räume, Jury-Meetings, ein Casting, oder eine nur den »oberen Zehn­tau­send« vorbe­hal­tene millio­nen­schwere Luxus­yacht.

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Fremde Natur. Die Natur hingegen spielt nur am Rande eine Rolle. Sie ist nie unberührt und schon gar nicht idyllisch: Ein paar Sträucher neben einer Straße, eine Wiese unter einer Auto­bahn­brücke, ein Waldstück nahe einer Traban­ten­stadt, eine von Skiliften und planierten Pisten durch­zo­gene Schnee­land­schaft, ein Goril­la­kostüm, in dem eigent­lich ein Mensch steckt und so »als Menschen­affe« eine gesittete konser­va­tive Abend­ge­sell­schaft durch­ein­an­der­bringt.

Wenn die Natur dann doch einmal autonom zu sein scheint, dann als Bedrohung, wie in der nach wie vor wohl berühm­testen Szene eines Östlund-Films: Als in Höhere Gewalt eine Schnee­la­wine vor einem Bergcafé nieder­geht und sich das spek­ta­kuläre Natur­schau­spiel in einen apoka­lyp­ti­schen Schrecken verwan­delt, um sich dann doch als nur scheinbar gefähr­lich zu entpuppen.

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In der Elite des Weltkinos. Im Mai 2017 gewann Ruben Östlund für seinen Film The Square die Goldene Palme von Cannes. Spätes­tens seitdem gehört er zu jenen Filme­ma­chern, die in der ersten Reihe des Weltkinos stehen; mit seinem zweiten Cannes-Sieg gehört Östlund nun zu dem höchst exklu­siven Club der nur neun Filme­ma­cher, die schon zweimal mit dieser wich­tigsten Auszeich­nung des europäi­schen Kinos prämiert wurden.

Dabei ist Östlunds Werk mit bislang sechs Spiel­filmen vergleichs­weise schmal, und der 1974 geborene Regisseur ist noch relativ jung. Tatsäch­lich war die Auszeich­nung in Cannes zumindest beim ersten Mal eine große Über­ra­schung, auch wenn Östlund seit seinen Anfängen eng mit diesem Festival verbunden ist.

Bereits sein zweiter Spielfilm Invol­un­tary lief 2008 in der Sektion »Un Certain Regard«, wo 2014 auch Höhere Gewalt gezeigt und mit dem »Jury-Preis« ausge­zeichnet wurde. Im Jahr 2011 lief Play in der Reihe »Quinzaine des réali­sa­teurs« und wurde ebenfalls prämiert.

Seit dem Studium auf der Film­hoch­schule von Göteborg arbeitet Östlund mit dem Produ­zenten Erik Hemmen­dorf zusammen, mit dem er 2002 die Produk­ti­ons­ge­sell­schaft »Platform« gründete, die alle seine Filme produ­zierte. Seit Mitte der Nuller-Jahre co-produ­ziert Östlund auch mit dem in Berlin lebenden Philippe Bober und dessen deutsch-fran­zö­si­scher Firma »Copro­duc­tion Office«. Alle vier seitdem gemeinsam produ­zierten Filme liefen in Cannes.

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Sozio­lo­gi­sche Diagnose, mora­li­sche Konse­quenzen. Im Winter 2016 drehte Östlund einige Tage in Berlin und ließ sich in einer Wohnung nahe dem Helm­holtz­platz bei der Arbeit zuschauen. Das Team war klein, der Dreh ruhig und konzen­triert. Östlund ist auch am Set ein Beob­achter, zugleich unbe­stritten an der Spitze einer Hier­ar­chie: derjenige, der gefragt wird, wenn die Dinge unklar sind, und der erste Ansprech­partner für die Schau­spieler.

Konzen­triert, offen und kommu­ni­kativ erzählte Östlund damals über seine Arbeit und skiz­zierte den noch unfer­tigen Film The Square. Es war bereits das dritte Treffen mit dem Regisseur. Östlund scheint sich im letzten Jahrzehnt persön­lich wenig verändert zu haben. Erkennbar wusste hier einer schon früh, was er will und wie es ihm gelingen kann. Im Vergleich zu anderen Filme­ma­chern spricht Östlund wenig über Hand­werk­li­ches, über ästhe­ti­sche Fragen oder über Film­ge­schichte und andere Filme­ma­cher. Umso mehr scheint er sich mit poli­ti­schen Fragen, gesell­schaft­li­chen und sozio­lo­gi­schen Diagnosen und deren mora­li­schen Konse­quenzen zu beschäf­tigen: Play wurde durch zwei Zeitungs­mel­dungen inspi­riert, die fünf zentralen Episoden von Invol­un­tary basieren auf eigenen Erleb­nissen und denen einiger Freunde. Auch The Square, so Östlund, fuße auf eigenen Erfah­rungen in der Kunst- und Muse­ums­welt sowie seinen eigenen kunst­phi­lo­so­phi­schen Ansichten.

Der Regisseur begann als Doku­men­tar­filmer; zum Teil drehte er Ski-Doku­men­ta­tionen, und auch seine Spiel­filme sind dominiert von Beob­ach­tungen, vom Geist der Passi­vität, der die Wirk­lich­keit vermeint­lich unbe­ein­flusst zeigen will, hierin die Haltung eines Natur­for­schers oder Tier­fil­mers nach­ah­mend, wie diese aber natürlich nicht weniger gesucht und insze­niert. Die ersten drei Filme drehte Östlund ausschließ­lich mit Laien, erst bei Höhere Gewalt arbeitete er mit profes­sio­nellen Schau­spie­lern.

Sein aller­erster Spielfilm war erkennbar noch eine Fingerü­bung, und weist doch im Rückblick bereits vieles von dem auf, was seine spätere Arbeit auszeichnet. Gitarr­mongod (Die mongo­loide Gitarre) hatte 2005 auf dem Film­fes­tival in Moskau Premiere und gewann dort den FIPRESCI-Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik. Eine schwarze Komödie, die rund um lose verbun­dene Figuren in der fiktiven Stadt Jöteborg absurde Episoden erzählt. Diese Figuren sind jung, teilweise Kinder, und soziale Außen­seiter. Eine statische, fixierte Kamera, die an Über­wa­chungs­bilder ange­lehnte Einstel­lungen produ­ziert, zeigt die destruk­tive Natur des Menschen.

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Schrecken und Behag­lich­keit: Invol­un­tary von 2008 wirkt auf den ersten Blick wie eine direkte Fort­set­zung: Beginnend mit einer Autofahrt durch die Stadt landet man in einer Abend­ge­sell­schaft. Nach dem Essen treten alle in den Garten, ein Feuerwerk wird entzündet, doch bald gerät einer der Feuer­werks­körper außer Kontrolle und verbreitet Schrecken in der gerade noch behag­li­chen Gruppe. Stell­ver­tre­tend für die ganze bürger­liche Gesell­schaft wird hier Sicher­heit erschüt­tert.

Ande­ren­orts geschieht in weiteren Episoden, die einen scheinbar beliebig zusam­men­ge­wür­felten Gesell­schafts­quer­schnitt zeigen, Ähnliches: Eine Handvoll Teenager betrinkt sich und verliert eine Nacht lang die Kontrolle; als eine Bierdose gegen ein Auto fliegt, wird der Fahrer beinahe gewalt­tätig; ein Bus mit Reisenden wird vom Busfahrer gestoppt, weil dieser auf der Bord­toi­lette einen kaputten Vorhang entdeckt hat und erst weiter­fahren will, wenn sich der Verant­wort­liche dafür melde.

Die Verant­wor­tung und das öffent­liche Schuld­ein­ge­ständnis zählen mehr als die Banalität des Schadens. Ironische Volte: Der Zuschauer weiß, dass eine ältere Schau­spie­lerin den Vorhang aus Versehen beschä­digt hat, es meldet sich aber ein Kind, dem vom Vater offen­sicht­lich ein Schuld­ge­fühl einge­redet wurde. Die Schau­spie­lerin korri­giert den Irrtum nicht, das grundlose Schuld­ge­fühl als eine Art mora­li­sches Alltags­be­wusst­sein wird vom Vater auf den Sohn über­tragen.

In einer weiteren Episode stellt sich eine Lehrerin gegen das Kollegium, als sie den vermeint­li­chen Übergriff eines Kollegen zur Sprache bringt. Daraufhin wird sie von den übrigen Kollegen geschnitten und von dem Beschul­digten bedroht, als deren Gegen­ar­gu­mente, warum es sich um gar keinen Übergriff handle, nicht fruchten: Sturheit trifft auf Sturheit.

Die Erzähl­weise in kurzen, parallel geschil­derten Vignetten erinnert an die Filme von Roy Andersson. Auch hier gibt es keine klare Haupt­figur, auch hier werden unver­bun­dene Geschichten mosa­ik­artig zu einem Panorama der Gesell­schaft montiert. Und auch bei Andersson liegt eine funda­men­tale Depres­sion wie Mehltau über allem Geschehen. Undra­ma­tisch, aber umso schmerz­hafter. Keine Melan­cholie des Schei­terns, sondern das Gefühl der Ausweg­lo­sig­keit, eine Art Einsicht in exis­ten­ti­elle Sinn­lo­sig­keit. Doch wo bei Andersson die Schau­plätze erkennbar künstlich sind, sucht Östlund reale Orte auf. Zudem legt Östlund psycho­lo­gi­sche Deutungen zumindest nahe und unter­spielt das Komö­di­an­ti­sche seiner düsteren Gesell­schafts­an­sicht. Während Andersson befrei­endes Lachen evoziert, erzeugt Östlund beim Betrachter Schuld­ge­fühle und legt damit den sado-maso­chis­ti­schen Kern aller Komödie bloß: Wer bei Invol­un­tary über die Prot­ago­nisten lacht, erkennt sich selbst als unmo­ra­lisch.

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Mitspielen aus Angst: Das Terrain des Mora­li­schen, Fabeln über Schuld und Sühne und die Möglich­keit der Erlösung in modernen Gesell­schaften bestimmen seither Östlunds Filme immer deut­li­cher. Auch wird ihre Erzähl­weise immer gerad­li­niger. Ästhe­tisch wie inhalt­lich wird Roy Andersson als Pate gewis­ser­maßen durch Ingmar Bergman abgelöst.

Play von 2011 erzählt von einer Handvoll Teenager in einer Großstadt. Eine Gruppe migran­ti­scher, schwarzer Jungs drang­sa­liert und beraubt drei weiße, etwas jüngere Jungen aus behüteten Verhält­nissen. Am Rande sieht man Erwach­sene, eine als Indianer verklei­dete Latino-Band auf einem verreg­neten öffent­li­chen Platz, Menschen in öffent­li­chen Bussen, Personal in einem Schnell­im­biss. Sie alle igno­rieren das Geschehen, zum Teil aus sozialer Blindheit, zum Teil sehr bewusst. Östlund handelte sich damals Rassis­mus­vor­würfe ein, weil er »böse schwarze« und »gute weiße« Kinder zeigt und semi-faschis­ti­sche Gewalt­struk­turen innerhalb der Migran­ten­gruppe.

Die eigent­liche Provo­ka­tion von Play liegt aller­dings ganz woanders. Nämlich im Verhalten der weißen Opfer. Obwohl sie von Anfang an wissen, dass sie ausge­raubt werden sollen, spielen die drei Jungs die bösen Spiele ihrer Peiniger mit, zu denen auch körper­liche Über­griffe gehören. Sie wahren öffent­lich den Anschein, bitten Dritte nur höchst zaghaft um Hilfe. Wie gelähmt bleiben sie sitzen, wenn sich Flucht­mög­lich­keiten eröffnen. Als einer von ihnen doch ausreißt, läuft sein Freund hinter ihm her und fängt ihn wieder ein. Als sie ihre Taschen ausleeren sollen, ist es erneut der Freund, der den Leidens­ge­nossen auffor­dert, wirklich alles auszu­leeren: »Wir müssen das jetzt machen.« Östlund zeigt den Nachwuchs der bürger­li­chen Mehr­heits­ge­sell­schaft, wie diese ihn nicht sehen will: nicht aufrecht und wider­s­tändig, sondern feige und oppor­tu­nis­tisch bis zur Kolla­bo­ra­tion mit dem Bösen. Schon in der Kindheit moralisch korrupt.

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Tatsäch­lich sind Östlunds Setting und die Position des Regis­seurs hier diffe­ren­zierter und weitaus subtiler als es jene, die Rassismus unter­stellen, sehen möchten. Denn der schlichte Blick auf die Haut­farben wird selbst rassis­tisch, wo er Migran­ten­kinder als quasi „natur­ge­geben“ unschuldig zeichnet. Östlund provo­ziert diese Vorwürfe bewusst, mit ihnen aber auch die Pointe, dass alle, die ihm Rassismus vorhalten, das tatsäch­liche Geschehen igno­rieren und die Opfer mittelbar in (Mit-)Täter verwan­deln.

Er selbst sprach das in Inter­views an, indem er die provo­ka­tive Parallele zwischen dem Verhalten der weißen Jungen und Juden zog, die sich vermeint­lich wider­standslos „wie die Lämmer zur Schlacht­bank“ führen ließen, ohne sich zu wehren. »Offenbar haben wir Menschen eine derart starke Angst, Regeln und Auto­ri­täten in Frage zu stellen, dass wir entspre­chende Konflikte und Chaos so lange wie möglich vermeiden wollen.« Ihm kam es außerdem auf das sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche »Bystander«-Problem an, dass Menschen Hemmungen haben, einzu­greifen, selbst wenn direkt neben ihnen offen­kun­diges Unrecht geschieht.

Erst als ganz am Ende von Invol­un­tary ein Vater eines Opfers einen der Täter erkennt, ihn zur Rede stellt, eine Moral­pre­digt hält und ihm das gestoh­lene Handy wieder abnimmt, mischt sich eine Passantin ein. Unbe­tei­ligt hat sie alles nur aus der Ferne beob­achtet, überträgt aber ohne Kenntnis des Kontextes ihre Vorur­teile – Rassismus- und Gewalt­vor­würfe gegen den Vater – auf die Situation. Diese Szene ist wie die darauf­fol­gende, in der ein weißes Mädchen zu offen­sicht­lich afri­ka­ni­scher Musik einen in seiner Unbe­hol­fen­heit lächer­li­chen Tanz aufführt, ein sarkas­ti­scher, beinahe zynischer, jeden­falls anti­li­be­raler Kommentar auf alle Multi­kulti-Toleranz und ihre Ideale.

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Die Panik vor dem nur vage Möglichen: Toleranz einer­seits, mora­li­sche Zumu­tungen ande­rer­seits bilden auch das Thema von Höhere Gewalt (2014). Im Zentrum steht eine »ideale Familie« aus gutsi­tu­ierten schwe­di­schen Verhält­nissen: Vater, Mutter, zwei Kinder, die in Frank­reich Ski-Urlaub machen. Den vieren scheint es an nichts zu fehlen. Sie sehen gut aus, ihr Hotel ist luxuriös, die Skiaus­stat­tung auf dem neuesten Stand, so modisch wie sicher – ein proto­ty­pi­sches Beispiel des wohl­ha­benden Mittel­stands, in dessen Leben von Banken­krise und Arbeits­lo­sig­keit so wenig zu spüren ist wie von Kriegen, Folter, Seuchen, Hunger und reli­giösem Fana­tismus.

Bevor sich dieses Unsicht­bare, viel­leicht Verdrängte auf andere Weise und umso zwin­gender bemerkbar macht, zeigt Östlund die Idylle. Tomas, Ebba, Harry und Vera genießen Schnee, Sauna und schicke Abend­essen. Zugleich konter­ka­riert er diese Eindrücke immer wieder mit Bildern, die in dem Zusam­men­hang, in den sie gestellt sind, eine ironische, auch distan­zie­rende Wirkung entfalten; Bilder der Routine, des Seriellen: Das Hotel­per­sonal, das eifrig, still, aber auch seltsam unberührt von den Gästen den Ablauf der Tourismus-Maschi­nerie sichert. Düsen, die künst­li­chen Schnee auf die Piste rieseln lassen, Pisten­raupen, die wie ein futu­ris­ti­sches Ballett nachts für ideale Schnee-Bedin­gungen sorgen. Diese Maschi­nerie montiert der Regisseur parallel mit der Abend­toi­lette der Touristen – die Sequenz mündet darin, dass die Familie vor dem Bade­zim­mer­spiegel steht und sich mit elek­tri­schen Zahn­bürsten die Zähne putzt.

Einige Zeit später passiert, was die latent ange­spannte Atmo­sphäre bereits ahnen ließ: Eine kontrol­liert ausgelöste Lawine wird größer und heftiger als erwartet und rast – mit scheinbar desas­trösen Folgen – auf die voll­be­setzte Terrasse eines Cafés zu, in dem auch Tomas‘ Familie zu Gast ist. Ein Schock für die Betei­ligten, auch für die Zuschauer, der sich zwar bald in eine Pulver­schnee­wolke auflöst, aber doch unter­grün­dige Folgen hinter­lässt. Die Idylle bekommt von nun an Haarrisse; immer deut­li­cher werden Span­nungen in der Familie sichtbar, der Ton ist plötzlich gereizt. Die Kinder werden aufsässig, das Paar streitet.

Die tiefere Ursache ist vor allem die Erfahrung, die Ehefrau Ebba gemacht hat: In dem Augen­blick, in dem die Lawine die Café-Terrasse unter sich zu begraben schien, fühlte sie sich von ihrem Mann im Stich gelassen. Tomas flüchtete in Deckung, wie sie sagt, kümmerte sich scheinbar nicht um sie und die Kinder. Tomas selbst sieht das anders – und es liegt im Auge des Betrach­ters, welcher Version er hier folgt.

Höhere Gewalt ist ein exis­ten­ti­elles Drama, das den Betrachter fast zwangs­läufig an die bürger­li­chen Selbst­zer­flei­schungs­sze­na­rien und Entlar­vungs­or­gien eines Ingmar Bergman erinnert. Ähnlich konse­quent ist auch dieser Film. Aller­dings mora­li­siert er nicht, ist ironi­scher, kühler, ohne Furor. Östlund erzählt von der Kata­strophe im Normalen, von der heim­li­chen Nähe von Tourismus und Terror. Ein Klas­sen­por­trät, in dem breite Teile des Publikums sich problemlos wieder­erkennen werden: Schöne, gebildete, wohl­ha­bende, über­ge­sunde, allseits durch­ge­checkte und sicher­heits­be­ses­sene Menschen, die noch nie echte Probleme gekannt haben. Als diese dann kommen, sind sie hilflos.

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Vor der Revo­lu­tion: Leben im Ancien Regime. So ist Höhere Gewalt auch eine groß­ar­tige Farce und Comédie humaine. Über eine moderne Gesell­schaft, die unfähig ist, Dinge, die eben mal vorkommen, auch zu akzep­tieren. Die statt­dessen alle möglichen Gescheh­nisse zu etwas Grund­sätz­li­chem erklärt, »zum Zeichen«, und auf sie thera­peu­tisch reagiert. Eine Gegenwart, die ihre Ängste nicht mehr zu kontrol­lieren vermag, sondern zunehmend von Panik erfasst und blockiert wird – von Fantasmen, also der Panik vor dem nur vage Möglichen.

Selbst die Wahl des im Kino omni­prä­senten Vivaldi und seiner »Vier Jahres­zeiten« zur Filmmusik macht in dieser Hinsicht Sinn. Östlund erzählt anhand eines Mikro­kosmos vom Ganzen: Er zeigt die Wohl­stands­ver­hält­nisse des frühen 21. Jahr­hun­derts als deka­dentes, in sich über­lebtes Ancien Regime. Ganz sachte, gewis­ser­maßen über die Ränder kehrt das Verdrängte zurück. Die »Höhere Gewalt« des Titels kann Gott meinen, eine bevor­ste­hende poli­ti­sche Revo­lu­tion oder einfach den Einbruch des Unver­hofften ins geregelte Leben, Befreiung und Bedrohung zugleich. In jedem Fall aber meint »Höhere Gewalt« eine Chiffre für die Ohnmacht des Menschen.

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Die Selbst­de­mü­ti­gung einer Gesell­schaft: Daran knüpft The Square (2017) direkt an. Die Haupt­figur Christian ist Kunst­ku­rator in Stockholm. Er wird in der ersten Hälfte des Films der Lächer­lich­keit preis­ge­geben. Man soll ihn, zumindest am Anfang, nicht mögen. Er ist ein sozialer Hoch­stapler, ein absolut unau­then­ti­scher Mensch, der noch seine Spon­ta­n­eität insze­niert, indem er in eine Rede einen »char­manten« Fehler einbaut. Erst mit der Zeit kommt er einem näher, weil man in Christian viel­leicht auch sich selbst erkennt.

Der Film arbeitet mit lang ausge­spielten Szenen, die sich dann zu einem Porträt fügen. Man begleitet Christian durch ein paar Arbeits­tage. In präzisen, spre­chenden Erleb­nissen folgt man ihm. Dabei wird seine Doppel­moral erkennbar – und zugleich deren Erschüt­te­rung. So entsteht das Porträt eines lächer­li­chen Mannes.

Östlund nutzt das Leben dieser Haupt­figur zu einer Abrech­nung mit der Gegenwart und nimmt dabei Illu­sionen über Demo­kratie und Gerech­tig­keit, das schlechte Gewissen des Mittel­stands, poli­ti­sche Korrekt­heit und die Mora­li­sie­rung gesell­schaft­li­cher Verhält­nisse aufs Korn. So tritt bei einem Abend­essen für die reichen Förderer des Museums unter dem Motto »Welcome to the Jungle« ein Perfor­mance-Künstler als Affe auf und wird den Gästen gegenüber gewalt­tätig. Die nehmen fast alles hin, bevor die Szene schließ­lich doch umschlägt. Östlund zeigt hier eine komplett über­trie­bene Toleranz für „das Andere“, die in die Selbst­de­mü­ti­gung einer Gesell­schaft mündet, auf die unmit­telbar die Gleich­gül­tig­keit und Nivel­lie­rung aller Geltungs- und Vernunft­an­sprüche folgt.

Ein weiterer Erzähl­faden betrifft die Kunst und speziell deren moderne Spielart. Ist etwas dadurch, dass es im Museum steht, schon Kunst? Eine alte Frage, die aktua­li­siert wird, indem immer wieder, sozusagen als »running gag«, das Publikum beim Wahr­nehmen von Kunst­werken zu erleben ist, wobei man erkennt, dass moderne Kunst nicht zum Betrachter spricht. Der Film legt nahe, über solche Beob­ach­tungen zu lachen; manches wirkt dabei mitunter etwas schlicht, etwa, wenn ein Reini­gungs­wagen die zum Kunstwerk aufgehäuften Kiesel­steine nachts wegsaugt, was dann zum Versi­che­rungs­fall wird.

Tief­sin­niger ist die Geschichte eines Clips für die sozialen Netzwerke, der zuerst das Ziel hatte, durch Provo­ka­tion Aufmerk­sam­keit zu gene­rieren, dann aber einem Kunst­be­trieb zum Opfer fällt, der sich längst an die Macht des Geldes verkauft hat. Christian ist verant­wort­lich und muss gehen, weil die Geldgeber das wollen – die offi­zi­elle Begrün­dung ist aber eine mora­li­sie­rende: Sein Clip habe »die Gefühle der Öffent­lich­keit verletzt«.

Das geht mit vielem einher, was sich tagtäg­lich erleben lässt, etwa dem Ende der Kunst, wie wir sie kennen. Kunst verliert ihre kritische, irri­tie­rende Funktion und wird zum stabi­li­sie­renden Innen­de­sign der herr­schenden Verhält­nisse. Gesell­schaft­lich erleben wir, auch das offenbart das Schicksal des Kurators, das Ende der Meinungs­frei­heit. Auch hier zeigt sich Östlund als konser­va­tiver Kritiker moderner Verhält­nisse, aller­dings als Kritiker mit viel Humor. Dieser Humor ist eher bissig als gelassen, eher schwarz als heiter.

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Die letzten Tage der Mensch­heit: Tatsäch­lich beginnt Ruben Östlunds Film Triangle of Sadness als humorvoll-sarkas­ti­sche Betrach­tung über diese Modewelt; Mit Spott über den »Balen­ciaga Look« (ernst, mit gerun­zelter Stirn) und den »H&M Look« (mit dummem, immer-sonnigem Lächeln).
Eine Moden­schau läuft, im Hinter­grund auf der Leinwand gibt es einen Clip der immer wieder kurze Aussa­ge­sätze enthält. Der zweite von ihnen heißt: »Zynismus maskiert sich als Opti­mismus«.

Im weiteren Verlauf wird dieser Film zu einem Porträt und einer Kritik des ganz alltäg­li­chen Wohl­stands­le­bens unserer Gegenwart. Eine Kritik von Doppel­moral, Dekadenz und der Lebens­weisen von Menschen, die sich ein Leben ohne Moral, Yoga und Mandel-Latte mit Hafer­milch gar nicht mehr vorstellen können.

Damit ist dies keines­wegs nur eine »Kritik der Super­rei­chen« – so wie dieser Film gele­gent­lich direkt nach dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes darge­stellt wurde.
Man sieht zwar viele Super­reiche in diesem Film – das stimmt. Man sieht sie Cham­pa­gner-schlür­fend und Kaviar-fressend auf großen Yachten. Und man sieht, wie sie das oft außer­eu­ropäi­sche Dienst­per­sonal komman­dieren und demütigen.

Aber man sieht eben auch die, die untrennbar dazu gehören: Die Hofnarren aus Schau­spie­lern, Künstlern, Models und Medi­en­leuten, die erst den Spiegel bereit­stellen, vor dem sich diese Super­rei­chen narziss­tisch ausleben. Man sieht, wie sie sich selbst vor den von ihnen insgeheim Bewun­derten klein-machen.
Und man sieht das Personal, die Knechte der modernen Welt, die sich immer dann, wenn sie es können, kein bisschen besser benehmen als ihre Herren.

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Zehn kleine Olig­ar­chen... Man könnte Östlunds schräge Farce auch als die bitter­böse Erwach­se­nen­ver­sion des Fernseh-Ever­greens »Traum­schiff« beschreiben, mit einem »Captains Dinner« und Bar-Gesprächen, nur dass der Kapitän von Woody Harrelson gespielt wird, und Sozialist ist und die Gespräche über Marx und Ronald Reagan kreisen. Unter den Kreuz­fahrt Gästen sind in diesem Fall auch Waffen­fa­bri­kanten, die sagen, sie würden etwas herstellen, das »upholding democracy« bedeutet: Hand­gra­naten.

Auch zwei deutschen Schau­spie­le­rinnen bietet Östlund die große Bühne des Kinos: Iris Berben und Sunnyi Melles spielen zwei reiche Figuren aus einem ganzen Dutzend Reicher aus aller Welt. Zusammen bilden sie die illustre Gäste­schar einer Luxus­yacht, auf der der größte Teil eines Films spielt, der vor allem das Portrait moralisch verwahr­loster, von gedan­ken­losem Überfluss und Zynismus geprägter Wohl­stands­ver­hält­nisse ist.
Dabei will der Film einmal mehr zeigen, dass Arme, Flücht­linge und andere Ausge­beu­tete moralisch keines­wegs besser sind. Das zeigt sich, als nach dem Untergang der Luxus­yacht die Über­le­benden auf einer einsamen Insel stranden, und sich die Macht­ver­hält­nisse verschieben. Wenn die chine­si­sche Toilet­ten­frau dann plötzlich den Olig­ar­chen komman­diert – dann lacht das europäi­sche Kino­pu­blikum so lange gellend, bis es ihm dämmert, dass auch es selbst gemeint ist.

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»The Ship is going under...« Dieser Film ist ein Geschenk für das Kino in Zeiten seiner exis­ten­ti­ellen Krise: Indem er das Publikum spaltet, indem er provo­ziert, indem er dazu anregt, nach dem Film weiter zu debat­tieren, nach­zu­denken und ihn sich viel­leicht gleich noch mal anzu­schauen, ist »Triangle of Sadness« eigent­lich ideales Autoren­kino. Wir haben es nur ein bisschen verlernt, auf solche Filme ange­messen zu reagieren und die Unein­deu­tig­keit, die sie in uns hervor­ruft, als Vorzug wert­zu­schätzen und zu begrüßen.

Gefällige mora­li­sche Posi­tionen, Botschaften fürs Poesie­album und Rücksicht auf Empfind­lich­keiten will Östlund nicht bieten. Er will irri­tieren und provo­zieren, will unser Weltbild erschüt­tern, anstatt es zu bestä­tigen. Und dabei zugleich Schönheit und alter­na­tive Welten auf die Leinwand bringen. Kino ist nicht nur, wenn schöne Menschen schöne Dinge tun, sondern auch, wenn kluge und über­ra­schende Sachen in schöner Weise gezeigt werden.

Der Grund, auf dem Östlunds eigener Film und sein vermut­li­ches Weltbild stehen, ist dabei so schlüpfrig und schwan­kend wie der, auf dem sich seine Figuren befinden – und nicht erst, als in seinem Film ein wilder Sturm aufkommt und das Traum­schiff der Reichen und früher mal Schönen zum Schwanken und schließ­lich zum Sinken bringt.

»The Ship is going under...« – das ist auch ein allge­meiner Befund. Ruben Östlund ist mögli­cher­weise ein Zyniker, er hat mögli­cher­weise sehr konser­va­tive Ansichten, die nur als »links« maskiert werden, aber sein Film ist hervor­ra­gendes und sehr witziges Kino.

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Fabeln über Männer, Moral und Dekadenz. Gemeinsam ist den Filmen von Ruben Östlund, dass sie von der aktuellen Gesell­schaft handeln. Sie sind mora­li­sche Fabeln, ohne zu mora­li­sieren. Oft sind es Filme über Männer, über Männ­lich­keit und die latente Gewalt des Männ­li­chen. Östlund zeigt gewalt­tä­tige Männer und moralisch belei­digte Frauen wie Männer, die öffent­liche Entschul­di­gungen und Schuld­ein­ge­ständ­nisse einfor­dern, gespie­gelt in den betre­tenen, peinlich berührten Reak­tionen einer Gesell­schaft, die solche Einge­ständ­nisse mitunter gar nicht haben will. Er zeigt unter­drückte Gewalt und die destruk­tive Natur des Menschen.

Dabei sind seine ungemein reich­hal­tigen, von Einfällen strot­zenden Filme präzise Infor­ma­tionen über den Stand der Dinge: Deka­denz­ana­lysen über Unsi­cher­heit und die Erschöp­fung unserer Welt, über sozialen Selbst­mord aus Angst vor dem Tode – und über die Notwen­dig­keit, uns neu zu erfinden.