Wiener Blut. Wiener Mut |
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Sieht so der Missing Link zwischen reinen Blockbustern und reinem Kunstkino aus? | ||
(Foto: 60. Viennale | Pacifiction) |
»Wiener Blut, in diesem Saft die Kraft
Die Wiener Glut
Wia hom die Medizin
Dea Dekadenz hom wia an Preis verliehn
Dabei san wia moralisch überbliebn
Wia stehn und foin und liegn
Wia hom de Medizin«
- Falco, Wiener Blut
Da geht man sich nur mal kurz für 5 Minuten oben im 9. Stock des InterConti im Akkreditierungsbüro seine Akkreditierung holen und als man nach diesen fünf Minuten wieder rauskommt, sind zweieinhalb Stunden vergangen.
Wasser, Bier, Kaffee, Mezcal, Wasser dazu, nochmal Mezcal und nochmal, dann noch ein Kaffee, das alles zwischen 14 und 16 Uhr; Fredi, Sarah, Markus, Nina, Marius, Eva; Massage im Hotelzimmer; ist das, wenn sechs Leute dabei sind, eine Orgie, oder ein kontrollierter
Safe Space? Gilt Pressebeobachtung als Intimacy-Coaching? In Österreich kann man über solche Fragen noch lachen, auch nach der Causa Seidl. Der Gästeservice macht hier kompetentere Filmprogrammberatung als die meisten deutschen Auswahlkomitees. Und das Qualitätsmedium Kronenzeitung wird wieder berichten, die Viennale sei nur dazu da, dass sich irgendwelche dekadenten Filmspinner im Interconti auf Staatskosten schon nachmittags besaufen.
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So wie die verschiedenen Sorten Mezcal sich in Geschmack und Alkoholanteil unterscheiden, in Rauchigkeit und »Dichte« wie der Kenner sagt, so unterscheiden sich auch die Filme. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Qualitätsfragen im Kino und Qualitätsfragen bei guten Getränken und Speisen, keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Geschmack auf dem Gaumen und dem Geschmack aller anderen Sinne. Beides ist eine Frage des Trainings, der Erfahrung, der Kennerschaft. Beides ist nicht gottgegeben und einfach so da. Und beides ist schon nicht einfach »Meinung«.
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Filme machen und Filme sehen hat viel mit der Fähigkeit zu tun, auf Zeit zu spielen. Das auf Zeit spielen, das einfache Aussitzen der Dinge, das Geschehen-lassen und sitzenbleiben, das beharrlich bleiben, das einfach dableiben, das wirkt erstmal oberflächlich wie Trägheit, wie Konservatismus pur. Es ist bei genauerem Hinsehen aber das Gegenteil: Eine Widerstandshandlung und insofern auch progressiv. Es bedeutet, es sich nicht mit dem Zeitgeist gemein zu machen.
»Man muss der Zeit
Zeit lassen«, das ist etwas, was man von dem großen Filmemacher Francois Mitterand, der auch Politiker war und Staatspräsident der französischen Republik, was man von Francois Mitterand lernen konnte. Jaja, er hat in dem Sinn keinen Film gemacht. Aber sein ganzes Leben war ein einziger Film.
Der Zeit Zeit zu lassen, das kann man von der Viennale lernen. Nicht weil sie auch viele Filme zeigt, die der Zeit Zeit lassen, die sich in diesem Festivaljahr, der 60. Ausgabe, vielleicht fast etwas zu sehr dem »slow cinema« also dem Zeitgeist des sogenannten Kunstkinos hingeben. Sondern schon eher, weil das inter Continental, das vor fünf Jahren schon abgerissen sein sollte, immer noch steht wie das blühende Leben und entsprechend weiterhin Festivalzentrum ist. Aber vor allem weil man hier nicht auf plumpe Neuigkeitswerte setzt und sich Premierenfetischismus hingibt, sondern zeigt, was gezeigt werden muss und dazu ein paar Sachen, die überhaupt nicht gezeigt werden müssen, aber gezeigt werden sollten.
Es ist, wie immer hier in Wien, ein großartiges Festival mit einem wunderbaren Programm aus dem man kaum einen Film müssen möchte. Manches haben wir schon gesehen, und freuen uns, es nochmal zu sehen, zu wiederholen. Anderes holen wir nach. Wieder anderes überrascht uns, und wird am Ende zum Wichtigen dieses Kinojahres gehören.
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Es ist jetzt schon wieder zwei Jahre her, dann kam noch eine Pandemie dazwischen, dass ich bei der Viennale war. Es war höchste Zeit, wieder herzukommen. Für diesen Eindruck genügte schon der allererste Abend. Man trifft sie alle, Mathieu Amalric in der Lounge vom Gartenbaukino, später in der Straßenbahn, Gaston Solnicki nervös wie immer vor seinem Film, mit viel zu viel Karten, die er noch verteilt, »bitte nimm zwei«, am Schluss ist dieses sagenhafte Kino mit seinen 736 Plätzen natürlich doch voll, davor schon Werner Herzog, der auf kein deutsches Filmfestival kommt, hierhin aber schon. Albert Serra beim besagten Mezcal-trinken. Hier kann man sie treffen, hier kann man ungezwungen miteinander reden.
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Nach dem Besuch im Gartenbaukino dann noch ein Gespräch über das, was dem Kino heute so fehlt. Nicht nur dem deutschen, sondern dem Kino überhaupt.
Ich stelle nicht zum ersten Mal die These auf, dass das Kino heute zu normiert ist zwischen reinen Blockbustern und reinem Kunstkino, das Unreine fehlt. Albert Serras Pacifiction käme dem doch nahe, sagt mein Gegenüber. Ja
schon, aber auch der macht es dem Publikum nicht leicht genug. Meine Frage ist eher die: Wo sind die Filme, wie sie früher Francois Truffaut und Claude Sautet gemacht haben? Filme, in denen früher Belmondo und Romy Schneider gespielt haben Piccoli und Jeanne Moreau? Wer macht die heute?
Vielleicht ist es das Mythische, das fehlt, vermutet mein Gesprächspartner.
Vielleicht ist das wirklich der Punkt: Wir brauchen Mythen, Mythos, Mythologie auch in der zeitgenössischen Kunst. Wir brauchen Zukunft, Utopie, Wiederverzauberung der Welt.
Wer unter den heutigen Filmemachern versteht diese Frage überhaupt noch? Und wer ist fähig zu einer Antwort? Zu einer Antwort, die über Verrätselung und Intellektualisierung hinausgeht und die auch nicht Vulgarisierung bedeutet. Also weder Apichatpong noch Marvel. Wo ist der Hitchcock von heute?
Oder glaubt irgendwer ernsthaft, dass wir den nicht mehr brauchen Fragezeichen des wir auf Mythen verzichten könnten? Wohlgemerkt: moderne Mythen, »Mythen des Alltags« (Roland
Barthes), »Neue Mythologie« (Friedrich Schlegel).
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Einer, der ganz gewiss nicht glaubt, ist Werner Herzog.
»Ich werde erwachsen.« meinte der 80-jährige im Filmgespräch in Wien. Erstmal schimpfte er über die Streamingdienste: »Streamen – da will ein Algorithmus den Redakteur spielen. Alle zehn Sekunden muss einer sprechen.«
Man müsse gegen so etwas ankämpfen, auch wenn der Filmemacher gegen Konzerne unterlegen sei: »Man muss streetwise sein oder eine kriminelle Energie haben. Man muss Grenzen überschreiten! Es ist die Natur des Filmemachens, dass sich alles in den Weg stellt
– und es zu überwinden.
Das einzige was zählt, ist, was ich auf der Leinwand sehe. Seelenqualen sind mir völlig egal.«
Über Herzogs wirklich ausgezeichneten und überraschend facettenreichen Vulkanfilm schreiben wir dann nächste Woche. Wie überhaupt über die Filme auf der Viennale.