08.12.2022

Die Hausfrau und die Hure

Plakat Jean Dielman
Französisches Plakat zu Jeanne Dielman zum Filmstart 1975
(Plakat: Wikicommons)

Vom Einbruch der Subjektivität der Frauen in die Filmkultur: Chantal Akermans Jeanne Dielman

Von Jutta Brückner

Als ich las, dass bei der letzten Kritiker­um­frage von »sight & sound« die Palme für den 'besten Film aller Zeiten' an Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles von Chantal Akerman gegangen ist, las ich gleich nochmal, denn ich konnte es nicht glauben.

Jeanne Dielman ist der erste wirklich femi­nis­ti­sche Film der Film­ge­schichte. Nicht weil er doku­men­ta­risch oder paro­len­haft Thesen der Frau­en­be­we­gung prokla­mierte. Das taten andere Filme, und es sind wichtige und gute darunter. Und ich habe auch wenig gegen Parolen oder Thesen, wenn sie ange­bracht sind. Aber die Schwie­rig­keit mit Filmen ist eben die, dass sie sehr viel mehr sein müssen, als nur Träger­ma­te­rial für Parolen oder Thesen.
In den über­raschten Kritiken wurde Jeanne Dielman jetzt gerühmt als ein bis dahin nicht gesehener Blick auf den Alltag einer Hausfrau. Das ist auch nicht falsch. Aber es ist der Alltag einer Hausfrau, die heimlich und nebenbei als Prosti­tu­ierte arbeitet. Das war etwas, was zu jener Zeit als der Film entstand, zwischen Frauen heftig disku­tiert wurde: Ob nicht auch die verhei­ra­tete Hausfrau eine Hure ist, da der Mann für ihren Unterhalt bezahlt und dafür das Recht hat, jederzeit von ihr Sex einzu­for­dern, den sie »ihm ohne Zeichen von Protest oder Wider­willen zu gewähren habe«. Das stand in einem Urteil des Bundes­ge­richts­hofs von 1966.

Der Bundes­ge­richtshof war sich sicher­lich nicht darüber im Klaren, dass er damit das Dasein einer verhei­ra­teten Frau dem einer Prosti­tu­ierten gleich­ge­stellt hatte. Auch Jean-Luc Godard hat sich zumindest in Deux ou trois choses que je sais d’elle mit diesem Problem beschäf­tigt. Aber er tat es mit doku­men­ta­ri­schem Gestus in den Grenzen und dem Muster eines 90 Minuten langen Films. Filmzeit war erzählte Zeit, nicht erlebte Zeit. Und so wird es bei Godard zu einem inter­es­santen Problem, was bei Chantal Akerman zu etwas ganz anderem wird. Die Routinen eines Alltags werden hier ungekürzt und in Echtzeit vorge­führt, meistens in einem geschlos­senen Raum, der Wohnung, die für viele Frauen die Welt ist. Die Ausgren­zung der Frau aus der Gesell­schaft und der Geschichte führt zu einem anderen Erleben von Raum und Zeit. Die Drama­turgie, die sich (mehr oder weniger lose) auch heute noch an der Geschichte des Helden orien­tiert, wird hier voll­kommen geleugnet. So wie auch im Alltag von Frauen vieles in der Bedeu­tungs­lo­sig­keit dessen verschwindet, was jeden Tag von neuem getan werden muss. Das ist für mich das Umstür­zende gewesen, als ich diesen Film das erste Mal gesehen habe.

Und deshalb habe ich mich sehr gefreut, als ich die Nachricht las, dass endlich dieser Film die Bedeutung erfährt, die ihm gebührt. An ihm wird deutlich, dass in den letzten 40-50 Jahren filmende Frauen so viel zum Welt­kul­tur­erbe des Films beigetragen haben, das aber meistens unbemerkt geblieben ist. Man kann gegen jeden Kanon einwenden, dass er besten­falls ein Spie­gel­bild seiner Zeit ist und oft nur der jewei­ligen Borniert­heiten. Aber weil er in dem verwir­renden Medi­en­durch­ein­ander unserer Zeit auch wie ein Hilfs­mittel funk­tio­niert, sind solche Umfragen wichtig. Und ohnehin weiß jeder und jede, dass es den besten Film aller Zeiten gar nicht gibt. So wie mit dem Femi­nismus die Subjek­ti­vität der Frauen in die Geschichte einbrach, so wird mit dieser Wahl endlich klar, dass dies auch für die Film­kultur gilt. Viel­leicht ist Chantal Akermans Film nicht der beste Film der Film­ge­schichte, aber das war Citizen Kane auch nicht. Und der Film, der beim nächsten Mal den Spit­zen­platz einnimmt, wird es auch nicht sein.