Wo Pommes???
Wo Pommes??? |
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Langzeitporträt: Kalle Kosmonaut | ||
(Foto: mindjazz pictures) |
Von Nora Moschuering
Es ist tragisch, wenn man seinen Pommes-Platz verliert, den Platz, an dem sich nachts alle treffen, weil sie Hunger haben, betrunken sind, nicht nach Hause wollen. Da sitzen sie dann im Schneidersitz um die Bude und führen die letzten Gespräche der Nacht. Das Licht rund um den Verkaufstresen ist neonlampen-weiß, die Gesichter müde und der Fettgeruch ok, ehrlicherweise sogar etwas anheimelnd. Nur zur Erklärung, ich vergleich hier nicht Pommes mit Dokumentarfilm, nein, ich war auf der Suche nach dem außerfilmischsten und melancholischsten Moment, den ich in letzter Zeit hatte. Mein schönster dokumentarischer Augenblick war im Januar, als ich den Stuttgarter Filmwinter besucht habe und etwas verblüfft vor dem Pommes-Wurst-Verkauf, direkt in Stadtmitte landete, der jetzt mit großen Holzplatten verschalt ist. Früher haben da grün gekleidete Verkäufer und Wurstbrater gearbeitet – resolute Männer, denen die Hitze und die nächtliche Arbeit nichts auszumachen schienen. Jetzt ist alles dicht und irgendjemand hat da etwas unmotiviert, aber doch verzweifelt: »Wo Pommes???« auf die Sperrholzwand geschrieben. Ja, voll. Gute Frage, auf die es, zumindest auf der Wand, keine Antwort gibt. Mein gemachtes Foto hätte sich auch auf dem Instagram-Kanal von Lars Eidinger gut gemacht, aber dazu später mehr. Mit einem Loch im Bauch beschloss ich also im kalten Januar 2023, meine neue Serie so zu nennen: »Wo Pommes???«.
Klammer dieses ersten Monats bildet die Beschäftigung mit dem dokumentarischen Porträt, denn es soll hier nicht nur darum gehen, dokumentarische Filmstarts eines Monats anzubesprechen, sondern auch versucht werden, sie thematisch unter eine, zugegebenermaßen, sehr weite Haube zu packen, aus der die Filme natürlich rechts und links und auch über den Monat hinausfallen werden. Dieses Mal sind das: Tine Kuglers und Günther Kurths Kalle Kosmonaut, der seit dem 26.01. in den Kinos läuft, Pepe Danquarts Daniel Richter, der ab dem 02.02. läuft, Jörg Adolphs Vogelperspektiven, der am 16.02. startet, und Reiner Holzemers Lars Eidinger, der am 23.03. in die Kinos kommt.
In der Malerei sind Porträts quasi auf ein Frame reduziert, die Requisite wohlausgesucht und drapiert, und beispielsweise Tizian hat auf seinem Porträt den großen, hervorstehenden Unterkiefer von Karl V. gut kaschiert. Porträts waren teuer, dies führte natürlich nicht zu realen, sondern idealistischen Darstellungen: Kleidung, Haltung, Blick, Umgebung, Hintergrund, Mitdargestellte, Farben, Licht, Raum, alles war Inszenierung, mit dem Bewusstsein für Wirkung, sowohl auf die Zeitgenossen als auch für die Nachwelt. Menschen, die nicht mächtig waren, also weder über Stand noch Geld verfügten, wurden überhaupt nicht dargestellt. Heute versucht man hinter die Oberfläche zu blicken, doch trotzdem kann man nicht nur in den auf ihre Art sehr malerischen Porträts des Filmemachers Ulrich Seidl Anklänge dieser gemalten Porträts finden.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts machten sich die Maler des Realismus auf die Suche nach der »Wahrheit«, entfernten sich vom Klassizismus und auch der Romantik. Zudem kam es auch durch die Erfindung der Fotografie, der Industrialisierung und der Verstädterung zu einem Wandel der Definition dessen, was man als malerisch beschreiben würde: Sujet, Personen, Orte, Licht, Farbe, Aus- und Anschnitte, alles änderte sich. Natürlich waren die Bilder immer noch konstruiert, aber sie wurden »realistischer« und das Dargestellte war nicht mehr so »royal«. Außerdem versuchten sie so etwas wie »Zeit« in den Bildern mitzudenken: Bewegungen, Dampf, Regen, angeschnittene Figuren. Der Film und damit die Möglichkeit, wirklich Bilder in der Zeit zu machen, ließ nicht lange auf sich warten.
Zum Anfang drei Männer, die es gerne haben, porträtiert zu werden, zwei davon, weil es ihr Job ist, in der Öffentlichkeit zu stehen, und einer: keine Ahnung, weil er sich mit 10 über Begleiter freut, mit 13 zusammen mit seinen Freunden ein Publikum braucht, mit 16 vielleicht wirklich als eine Art Ablass, bevor er nach Körperverletzung ins Gefängnis muss, mit 18 als Freunde und Zeugen für seine Liebe und seine Wut und mit 20 vielleicht als Publikum für seine Musik. Wer weiß und so Gründe und Verhältnisse ändern sich auch über die Zeit. In der Langzeitdokumentation begleitet man Kalle über 10 Jahre. Er wächst in einem Plattenbau in der Allee der Kosmonauten in Berlin auf. Kalle will etwas erreichen, das gelingt ihm zwar erst mal nur in Posen, aber man nimmt es ihm ab. Der Film beginnt mit Kalle, da ist er 16, roter Pulli, Kippe, Silberkette, Sommersprossen, kurzes Haar, schaut in die Kamera oder da drüber hinweg, zu den Menschen dahinter. Im Hintergrund, abgerupftes Grün und dahinter eine Betonhauswand. Kalle in seiner Umgebung, in dem Ort, der dem Film den Titel gibt. Er wirkt selbstbewusst, aber eher vordergründig, dahinter spürt man, dass er unsicher ist: er steht kurz vor dem Gerichtstermin. Dann sieht man Kalle in einer Animation, das macht der Film immer wieder: mit Animationen Bilder dafür zu finden, was in seinem Kopf vorgeht. Das setzt natürlich schon einen Ton.
Dann Kalle mit 10: Er redet über sich, seinen Tagesablauf, sein Leben und seine Wünsche. So gehen wir mit Kalle, begegnen Bekannten, Freund*innen, einer Polizistin, die über Marzahn-Hellersdorf und Kalle spricht, gehen mit auf die Hochzeit eines Betreuers der »Arche« und bei den Treffen mit der Mutter und ihrem neuen Freund. Dabei kommt man auch der Mutter näher und ihren Eltern, der Vergangenheit in der DDR, was der Mauerfall für sie bedeutete, aber nur kurz, und dann wieder zurück zu Kalle, der darauf aufbaut – oder eben auch nicht.
Irgendwann fragt Kalle: »Will keiner mit mir reden?« und aus dem Off kommt: »Doch wir hören dir zu!« Kalle Kosmonaut hat mehrere Enden, manche, die man festhalten will, manche, die tragisch sind, manche, die dramatisch sind, in jedem Fall aber immer sehr wacklige – aber so ist das im Dokumentarfilm.
Schönerweise werden ja Maler mittlerweile filmisch porträtiert, statt immer nur andere zu porträtieren. Richter lässt sich parallel zum Film auch noch von Eva Meyer-Hermann, einer Kunsthistorikerin, porträtieren, die an einem Buch über ihn arbeitet. Der Maler ist sich also der Bedeutung von Porträts über ihn (oder seine Kunst) bewusst. Richter sitzt in seinem Atelier auf einem grauen Sofa, graue Trainingsjacke, unbedacht übergezogen, Dreitagebart, etwas fettiges Haar, um die linke Hand eine blaue Schiene, an der zwei Papageien herumknabbern. Hinter ihm sieht man die Rückseite von Leinwänden. Er macht eine Pause. Daniel Richter ist ein Atelierfilm und Lars Eidinger nicht unähnlich, den man so gesehen dann einen Probebühnenfilm nennen kann. Lars Eidinger beginnt, als Eidinger nach Salzburg kommt, zu den ersten Lese-Proben, und endet bei der Premiere des »Jedermann« 2021. Eidingers gute Seite ist die Linke (die von Verena Altenberger auch), von dieser Seite sieht man ihn dann auch regelmäßig in einem Interview, dabei sitzt er draußen, im Hintergrund sieht man unscharf einen kleinen See und Bäume, er trägt einen schwarzen Blazer, Dreitagebart, längeres Haar, ruhig, reflektierend, mit einer Distanz zu sich und seinem Werk, anders als Richter, der mittendrin sitzt.
Beide sind sich in ihrem Mitteilungsbedürfnis nicht unähnlich und das meine ich gar nicht despektierlich, die Atelier- und Probebühnenelemente sind für mich aber tatsächlich die eindrücklicheren, daneben gibt es natürlich Ausstellungsplanungen und Eröffnungen, Hamlet und Richard III und Wegbegleiter*innen, die über die gute Freundschaft oder Zusammenarbeit berichten. Beide Filme sind auf eine merkwürdige Art intim, aber dabei doch distanziert, weil sie sich hauptsächlich um die Arbeit der beiden Künstler drehen und nur wenig mit ihrer Vergangenheit, Ausbildung oder Familie beschäftigen.
Dass eine Kunsthistorikerin ein Buch über Richter macht, ist auf mehreren Ebenen interessant, denn der Film kommt immer wieder auf den Kunstmarkt zu sprechen, in dem Richters Bilder mittlerweile im sechs-, siebenstelligen Bereich gehandelt werden und wo es weniger Kunsthistoriker*innen sind, die bestimmen, was wert hat, sondern ein unkontrollierter und damit auch manipulierbarer Kunstmarkt, der auf subjektiven Interessen und Geldanlagen basiert. Fragen danach weicht Richter allerdings aus, dabei fällt es ihm sonst nicht schwer zu sprechen, auch über seine abstrakte Arbeit als Maler, aber vielleicht ist der Widerspruch, als (vielleicht immer noch) Linker dann doch zu groß. Regisseur Danquart ist wenig zu hören, Richter braucht man scheinbar nur anzustupsen, damit er ins Reden kommt, anders als im anderen Atelier-Richter-Film: Gerhard Richter – Painting (2011) von Corinna Belz, die in einem ständigen Dialog mit Gerhard Richter steht, der zudem, und anders als Daniel Richter, nur ungern über seine Arbeit/Bilder spricht. Jonathan Meese dazu: »Daniel labert einfach, das ist doch super«. Meese ist auch der Einzige, der mehr über sich als über Richter erzählt und der dann einfach mal literally zwei Porträts malt: Von Daniel und von sich.
Der Christies-Auktionator ist Meeses Gegenstück, eigentlich zwei Typen, die nicht zusammenpassen, und eine absurde Situation, die Hanno Rauterberg in Die Kunst und das gute Leben (2015) beschreibt: Was macht die moderne Kunst mit diesem Widerspruch? Richters Bild »Tarifa« (2001) z.B. wird versteigert, ein eindrückliches Bild, auf dem in einem gelben Gummiboot sieben lebensgroße Menschen sitzen, deren Gesichter panikartig und auch totenkopfgleich aussehen, dabei merkwürdig bunt und seltsam abstrakt, unter ihnen eine große Fläche sehr dunklen Wassers. Es geht raus für über eine Millionen Pfund, verkauft an sonstwen, der mit sonstwas Geld macht. In diesen Momenten stellt sich durch die Gegenüberstellung im Film eine Ambivalenz ein, eine Spannung, auf die leider Richter zu wenig eingeht, Zweifel oder Unsicherheiten scheint er im Allgemeinen wenig zu haben.
Ich bin sehr gespannt auf Laura Poitras: All the Beauty and the Bloodshed (Kinostart: 26.05.). In ihm geht es sowohl um die Künstlerin Nan Goldin als auch um ihren Kampf gegen die US-amerikanische Pharmadynastie Sackler, die für die tödliche Opioidkrise in den USA mitverantwortlich gemacht wird. Die Mäzenatenfamilie hat zahlreiche Kunstinstitutionen unterstützt, ihr Name taucht mittlerweile bei vielen von ihnen nicht mehr auf, auch dank Goldin, die mit einer von ihr gegründeten Gruppe öffentlich gegen die Familie protestiert hat.
Einen realen Eidinger-Moment hatte ich mal, als ich mit ihm ein Bier in der Favorit Bar getrunken habe, was mir wahrscheinlich nur gelungen ist, weil ich ihn hinter dem Bart nicht gleich erkannt habe. Ich hatte danach noch viele Eidinger-Momente, einen z.B. beim Schauen des übrigens sehr guten Böller und Brot-Porträts: Wer hat Angst vor Sibylle Berg?, da ist er bei einer Lesung ihrer Texte zu sehen, nur im Hintergrund, aber: Da war er wieder. Wie auch in den Deichkind-Videos, bei Insta, als DJ mit Aufklebern im Gesicht, irgendwie so omnipräsent und exzentrisch. Eidinger spielt, kämpft, zweifelt, Eidinger lernt den Text, arbeitet mit der Sprache, seinem Körper, den anderen Schauspieler*innen, beschreibt den spielerischen Moment mit den Mitspieler*innen, aus dem für ihn die Kreativität kommt, Dinge zu probieren und auch wieder verwerfen zu können. Sehr schön ist Edith Clever als Tod und als Puristin neben Eidinger im Jedermann 2021. In Lars Eidinger ist ein bisschen mehr Biografie verwoben, und zur Sprache kommen auch Dinge wie die Aldi-Tüte für 550 Euro, die er vermarktet hat, indem er sich vor Obdachlosen fotografieren ließ, wofür er viel Kritik bekam (zu Recht) oder auch seine »Berlinale-Tränen«, für die er viel Häme eingesteckt hat (zu Unrecht). Der Film ist etwas diskursiver, aber sonst sind sie sich, wie auch die beiden Protagonisten, sehr ähnlich, auch wenn der eine seine Kunst ausgelagert hat, während der andere sie vollständig verkörpert.
Eigentlich möchte ich nur vom Wachtelkönig erzählen, einer kleinen, eher unscheinbaren Vogelart, die im Murnauer Moos lebt, und wenn er singt, dann klingt das wie eine heisere Ente. Über den Wachtelkönig und die Tüpfelralle hat der Ornithologe Norbert Schäffer seine Doktorarbeit geschrieben. Jetzt ist er Vorsitzender des LBV-Landesbundes für Vogel- und Naturschutz in Bayern. Daneben setzt der Verleger und Vogelbeobachtung-Sachbuchautor Arnulf Conradi den Ton. Man sieht Conradi ganz zu Beginn in einem Tonstudio hinter einem Mikrofon, das fast vollständig sein Gesicht verdeckt. Zwei Menschen, der eine real-politischer, der andere poetischer. Auch das Filmemachen wird mit reingenommen, denn man kann Conradis Beschreibungen über das Vogelgucken mit denen eines Filmbildes vergleichen: Die Ränder des Bildes bilden einen Rahmen, der alles andere ausschließt und den Blick konzentriert. Die Größenverhältnisse verändern sich, wir gehen nah dran, wir sind auf der Größe des Vogels, sehen Gras und Bäume aus seinem Blickwinkel und beobachten ihn in Zeitlupe. Und genau das macht auch der Film, denn die dritte – zugegebenermaßen recht große – Gruppe, die hier porträtiert wird, sind eben die Vögel selber und ihre Perspektive.
Die Biografien der beide Menschen kommen nur am Rande vor und auch immer nur im Kontext mit ihrer Leidenschaft für Vögel: Conradi, der in der Uckermark wohnt, streift mit seinen Hunden durch die Natur, häufig sieht man ihn von weiter weg oder auch von hinten, immer ist er eingebettet in seine Umgebung. Schäffer lebt in Bayern, er ist präsenter, aber ihm in seiner Unaufdringlichkeit nicht unähnlich. Schäffer und Conradi lernen sich gegenseitig im Film erst kennen, sprechen und beschäftigen sich miteinander, der Regisseur Jörg Adolph schafft eine Situation, auch sonst hat der Film keine gesetzten Interviews, ein bisschen wie bei Daniel Richter.
Es gibt eine schöne Szene gleich zu Beginn, in der es um das Titelbild des LBV-Magzins geht: meist sind es nämlich (Vogel-)Porträts, die darauf abgebildet sind und damit zurück zum Wachtelkönig, der ein Leben in Deckung lebt, in hohen Wiesen und Moosen und denen ihr Lebensraum immer mehr zerstört wird. Während des Films lernt man nach und nach ganz verschiedene Vögel kennen: Trottellummen, Bartgeier, Spatzen, Wiedehopf, Gimpel, Kuckuck und viele mehr. Neben Einführungen in ihre Leben werden die Bartgeier ausgewildert, die Wachtelkönige bekommen Sender, um ihre Zugrouten verfolgen zu können, und kleine Trottellummen werden von der Mole gerettet. Sie bekommen also sogar ein klein bisschen was sehr individuelles: »Das sind nicht irgendwelche Vogelarten, diese Arten haben Namen« (die zugegebenermaßen oft wirklich sehr hübsch sind), sagt Schäffer einmal, als er bei »den Grünen« spricht. Schäffer ist beim Bayerischen Jagdverband, im Landtag, als das Volksbegehren »Rettet die Bienen« angenommen wurde, bei einer Analyse von dessen Umsetzung, bei den Landwirten ... überall macht er Lobbyarbeit für Vögel, Arten-Vielfalt, ihren Lebensraum und den Umwelt- und Klimaschutz.
Auch hier identifizieren sich zwei mit ihrer Arbeit und ihrer Leidenschaft (Conradi ist mir hierbei das ein oder andere Mal etwas zu gefühlig), sie tun das aber auf ganz andere Weise als die Künstler und der Film begegnet ihnen auch ganz anders. Es ist nicht nur ein tier- sondern auch ein zutiefst menschenfreundlicher Film, über Kommunikation, Verständnis und Geduld.
Zum Schluss dann auch ein sehr dokumentarischer Moment aus Vogelperspektiven: Die Schönheit eines Vogelschwarms über einem kargen Feld, in der Ferne blätterlose Bäume, über die sie sich in Wellen bewegen, der dann auf die Kamera zukommt und direkt darüber hinweg fliegt: Ein Rauschen: Zwitschern!