Filme mit und ohne Patina |
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Der Muff der Gardinen: La Palisiada | ||
(Foto: IFFR | Philip Sotnychenko, La Palisiada) |
Von Dunja Bialas
Als Rotterdam 2020 seine letzte physische, »in person«-Edition abschloss, war die Zukunft noch eine andere. Die Festivalmacherin und international erfahrene Programmerin Vanja Kaludjercic war gerade angetreten, die Ausgabe war noch von der Handschrift ihres Vorgängers geprägt. Der niederländische Filmproduzent Bero Beyer hatte das Festival für das heimische Publikum ausgerichtet, wodurch es zunehmend schwierig wurde, englisch, nicht niederländisch untertitelte Vorführungen der großen Filme zu finden. Damit hatte er wohl auch dem Druck des niederländischen Verleih- und Kinomarktes nachgegeben, aus Rotterdam ein »Preview«-Festival zu machen, wie er auch mit der Einrichtung der Online-Streaming-Plattform »IFFR Unleashed« 2018 das Festivalprogramm breiter bekannt machen wollte.
Die neue Festivalleiterin Vanja Kaludjercic hat nun nach zwei Ausgaben, die nur online stattfinden konnten, eine tiefgehende Veränderung des Festivals herbeigeführt. Im Sommer letzten Jahres wurde bekannt, dass sie das gesamte Filmauswahlteam vor die Tür gesetzt hat. Ohne Skrupel und ohne Gnadenbrote zu verteilen. Die Branche war alarmiert, vor allem auch wegen der sich manifestierenden perkären Situation der Festivalarbeiter*innen, die teilweise seit Jahrzehnten für
Rotterdam tätig gewesen waren – was sich natürlich auch auf andere Festivals, wenn nicht sogar auf den Festivalzirkus insgesamt übertragen lässt.
Auf künstlerisch-kuratorischer Ebene will Kaludjercic unbedingt einen Neubeginn signalisieren, mit einem international aufgestellten Kuratorenteam. Bekannte Namen sind darunter, wie Olaf Möller, der bereits zuvor für Rotterdam Filmprogramme konzipiert hatte (er verantwortet die Retro-Reihe »Cinema Regained«) und jetzt
auch für den deutschsprachigen Film zuständig ist. Oder Olivier Pierre, den man vom FID Marseille kennt, er ist nun für die französischsprachigen Filme zuständig. Auch Rebecca Depas kennt man bereits aus Marseille und Nyon, sie sucht nun für Rotterdam nach Filmen aus Italien, Spanien und Portugal. Schließlich die Kanadierin Michelle Carey, die zuvor beim Berlinale Talent Campus war, sie ist nun für den englischsprachigen Raum verantwortlich. (Hier die ganze Namensliste.)
Trotz dieser Veränderungen in der Tiefenstruktur des Festivals aber blieb die Oberfläche gleich. Rotterdam untergliedert sich immer noch in Sektionen mit metaphorisch-kryptischen Reihentiteln. Da sind die drei Wettbewerbsprogramme mit Weltpremieren: In der Tiger Competition (lang & kurz) laufen erste und zweite Filmen von Nachwuchsregisseuren, die »diverse« Big Screen Competition will eine Brücke schlagen zwischen populärem, klassischem und Arthouse-Kino, so heißt es zumindest im Katalog – was immer das genau heißen mag. Hier bestimmt eine Publikumsjury den Preis, in den anderen Sektionen Fachjurys.
Dann gibt es die große Sektion »Regular Programmes« mit sechs Untersektionen: Bright Future (Debütfilme mit einem »originellen Thema und einem individuellen Stil«), Cinema Regained, Harbour (größere Namen, die für eine andere Art des Kinos stehen), Limelight mit Previews und Best of Festivals, RTM (die Regionalsektion), Short & Mid-length (der ganze andere Rest).
Auch das Spektrum der präsentierten Filme fühlte sich vertraut an: Vom experimental-politischen Kino des Philippinen Khavn de la Cruz, der mit National Anarchist: Lino Brocka einen Kompilationsfilm zum Meister des philippinischen Melodramatikers und Kino-Aktivisten schuf, über »Sequels« großer Rotterdamer Erfolgsfilme, wie Laura Citarellas Vierstundenfilm Trenque Lauquen aus Argentinien, der die labyrinthische Erzählweise von La Flor wiederholt (und einen immensen Sog entwickelt, Citarella ist die La Flor-Produzentin), bis hin zu etablierten, dennoch kaum bekannten Größen wie dem Franzosen Guillaume Nicloux, der mit La tour eine toll horrifizierende Lockdown-Apokalypse zeigte.
Kaum bekannte Namen für ein großes Publikum also, und dennoch waren viele Vorstellungen ausverkauft. Rotterdam war ein Erfolg fürs Kino, keine Frage.
Der Tiger-Award ist als Newcomer-Sektion von Haus aus eine Versammlung Unbekannter. Neben der teilweise irritierenden Heterogenität der Filme ließ sich aber ein Interesse der Kuratoren am Reflektieren von Medialität ableiten. Unter den Filmen gab es erwartbare, cinephile 16mm-Nostalgie, in Form von Naomi Uman Three Sparks. Die mexikanisch-amerikanische Experimentalfilmkünstlerin fantastiert mithilfe ihrer Bolex eine Ethnographie im Hinterland Albaniens herbei, ausgehend vom »Kanun«, dem mittelalterlichen Regelwerk für das Zusammenleben in Gesellschaft. Es setzte sich als patriarchales Gewohnheitsrecht durch, mit erstaunlichen Schlupflöchern für unverheiratete Frauen, denen ähnliche Rechte wie den Männern zugestanden wurden. Das Korn des Filmmaterials und die Reinszenierungen von vermeintlich historischen Situationen, unterbrochen von Kanun-Zitaten, machen einen großen Reiz des Films aus. In der zweiten, übermäßig langen Hälfte jedoch dominiert leider ein digital gedrehtes Making-Off, das nicht nur die nostalgische Medien-Illusion zerstört.
100 Seasons des schwedischen Choreografen Giovanni Bucchieri wandte sich dem neueren Medium des Videos als Aufschreibesystem zu. Der Film ist eine Autofiktion, die Bucchieri aus seinem privaten Archiv mittels Videoaufnahmen aus seiner frühen Erwachsenenzeit inklusive Suche nach der ersten Liebe und dem Eingeständnis seiner Depression kombiniert. In vielen Szenen überlagert Bucchieri die Zeitebenen, projiziert in seinem Wohnzimmer die Hi8-Aufnahmen mit seiner Freundin auf ein aufgehängtes Bettlaken. Als er schließlich seinen Tod und Begräbnis imaginiert, bricht er das Blättern im Tagebuch auf und öffnet sich der Fiktion. Im weiteren zeigt sich die Waghalsigkeit, Therapie in Kunst umzusetzen.
Thematisch war Nummer achttien ein Echo zu 100 Seasons: der niederländische Künstler Guido van der Werve rekonstruiert und begleitet seine Rekonvaleszenz nach einem schweren Fahrradunfall, mit einer humorvollen Luzidität und dekorativen Detailverliebtheit, wie man sie öfters im niederländischen Film antrifft. Bei beiden Filmemachern allerdings ist nicht sicher, dass sie ihren Weg weiterhin in der Filmregie suchen werden.
Unmittelbar in der Fiktion beginnt hingegen der gleichfalls autofiktional lesbare New Strains. Das New Yorker Filmemacherpaar Artemis Shaw und Prashanth Kamalakanthan sind auch im echten Leben ein Paar, in ihrem gemeinsamen Langfilmdebüt fiktionalisieren sie sich zur pandemischen Lockdownzeit in eine Filmhandlung. Kamalakanthan zeigt sich als übelgelaunter, eifersüchtiger und langweiliger Partner von Shaw, die es immer wieder hinauszieht zu Spaziergängen und vieldeutigen Begegnungen mit Fremden. Gefilmt mit einer Videokamera, offenbart der Film in Home-Video-Ästhetik das allmähliche Irrewerden zwischen Eingeschlossensein, Desinfektionsmitteln und der Suche nach einem Mundschutz. Der Film ist Independent und Mumblecore, mit dem wahnwitzigen Touch, sich selbst keinesfalls ernstzunehmen. Eine Fortsetzung ist schon geplant: New Stains soll vom (imaginierten) Leben mit einem Säugling handeln. (Website von Artemis Shaw)
Auch zu diesem Film gibt es ein Echo: Lukas Nathraths Falsche-Freunde-Film Letzter Abend, der gerade auf dem Saarbrücker Filmfestival Max Ophüls Preis für die Beste Regie ausgezeichnet wurde. Der Pseudo-Mumblecore zeigt ein bisschen zu gewollt und ein wenig zu schematisch das Desaster eines verpatzten »Last Supper«, mit überzeichneten Figuren und einer grundlegenden Hilflosigkeit für
die filmische Darstellung von Depression.
Das Produktionsland Deutschland schlug Festivalleiterin Kaludjercic in einem Interview mit Screendaily bezeichnenderweise den unterrepräsentierten Filmländern zu: »And while Germany produces a lot of films, it’s nice to have
a German competition entry as it doesn’t happen so often. The goal and the direction is to bring in new voices from territories who don’t so frequently get a spot.«
VHS spielt im Gewinnerfilm des FIPRESCI Awards La Palisiada eine große Rolle, dem zweifellos besten und vielschichtigsten Film des Tiger-Wettbewerbs. Der ukrainische Regisseur Philip Sotnychenko fügt hier zwei disparate Ereignisse zusammen. Der Film beginnt mit einem Knall, der Erschießung eines jungen Mannes durch seine Mutter. Er hatte sich zu sehr in Rage geredet angesichts der Stofftiere und Dekokissen, die in der elterlichen Wohnung eine subtile Diktatur übernommen haben, es ist ein ausgefeilter politischer Redeschwall, der sich im Licht der Schlafzimmerlampe ausbreitet und über die Mutter ergießt, die gerade wie eine akkurate Jeanne Dielman das Bett zum Schlafengehen bereiten wollte. Mit dem Schuss macht der Film einen Sprung aus der Gegenwart zurück ins Jahr 1996. Die Jahreszahl markiert fünf Jahre Unabhängigkeit der Ukraine, fünf Jahre Auflösung der ehemaligen Sowjetmacht in die Nationalstaaten, und das letzte Jahr des ersten Tschetschenienkrieges (1994-96), ein früher Krieg Russlands mit den postsowjetischen Staaten, dem schon ein Krieg mit Transnistrien (1992) vorangegangen war, dem ein zweiter Tschetschenienkrieg (1999-2009) folgen sollte und ein Krieg mit Georgien (2008) – und dies alles vor dem Ukrainekrieg (2014 / 2022).
Sotnychenko fährt im Zoom an die zurückliegende Zeit heran, auch ganz wörtlich. Durchgehend in VHS-Ästhetik gefilmt, etabliert er einen brüchigen Vintage-Erinnerungsstil durch unruhige Zoomfahrten auf teilweise unverständliche Situationen, akzentuiert die Patina bräunlich-grauer, postsowjetischer Wohn- und Sitzungszimmer, überboten von einem Video-im-Film, das die brutale Verhaftung einer Reihe von Männern dokumentiert. Ihnen wird später der Prozess gemacht, mit einer zweiten, finalen Erschießung. »La palisiada«, so heißt es einmal in diesem bewusst undurchschaubaren, anspielungsreichen, trotz der Ästhetik wenig nostalgischen und zugleich wütenden und verspielten Film, sei eine rhetorische Figur der Wiederholung. Hier steigt in der Wiederholung die postsowjetische Ära wieder auf, als unverständliche, weil nicht verstehbare Fratze der Geschichte, die nur ein Vorbote für Kommendes, ebenso Undurchschaubares ist.
Mit Gagaland der jungen Chinesin Teng Yuhan schließlich schloss der Tiger-Award an die sinnentleerten Kulturpraktiken der Generation Z an, der bei all seiner redundanten Nervigkeit auf der Meta-Ebene durchaus interessant war. In TikToks wird hier der Gaga getanzt, bis einem die Sinne durchdrehen, es geht um die Befreiung der Körper.
Als perfider Befreiungsschlag einer politisch und körperlich stillgestellten Generation ist der Video-Sampel-Film
ein Hammer, durchaus mit Nachahmungspotential.
Die Autorin war Mitglied der FIPRESCI-Jury.