30.03.2023

Ein Festival »out of place«

Matter out of Place
Luftverschmutzung mal anders. Geyrhalters Matter out of Place
(Foto: Diagonale Graz | Nikolaus Geyrhalter)

Ein Besuch der Diagonale im ganz zauberhaften Graz

Von Philipp Stadelmaier

Wer sich fragt, wozu wir heute noch »Kino« brauchen, also Orte, an denen Filme in Kinos gezeigt werden, sowie Filme, die anderes sind, als strom­li­ni­en­för­miger Strea­ming­con­tent, der*die tat in diesem März gut daran, die Diagonale in Graz zu besuchen, das Festival des öster­rei­chi­schen Films, das immer zum Früh­lings­be­ginn statt­findet. Ich selbst bin zum ersten Mal in diesem Jahr in Graz und der Diagonale gewesen, und es war, wie meine Mutter sagen würde, die schon oft in Graz war und Graz sehr liebt, ganz zauber­haft.

Graz ist nach Wien die zweit­größte Stadt Öster­reichs, was insofern bemer­kens­wert ist, als sie in meinen Augen kaum größer wirkte, als Heidel­berg. Die Mur erinnert den igno­ranten Deutschen an den Neckar. Das Flair ist glück­li­cher­weise weniger baden-würt­tem­ber­gisch als italie­nisch, was keines­wegs als Diss an Heidel­berg oder Baden-Würt­tem­berg (meinem Geburts­land und dem meiner Mutter) verstanden werden soll, und eher als Ausdruck der Freude darüber, im Frühjahr an einem italie­nisch anmu­tenden Ort gewesen zu sein. Ein »kleines« Städtchen, und gerade deshalb hervor­ra­gend geeignet, zum Brennglas zu werden für das kompri­mierte Film­schaffen eines »kleinen« Landes, das gleich­zeitig so viel inter­na­tio­naler und welt­läu­figer ist, als in Deutsch­land. Die Filme, die gezeigt werden, sind bescheiden mit Bezug auf Format und Länge (schwer vorstellbar, hier ein Drei­stun­den­epos zu sehen), während sie in der Enge der Altstadt, der Kinosäle, der Projek­toren jede Beschrän­kung hinter sich lassen, um sich im Zuge der Projek­tion vor den Augen der Festi­val­be­su­cher zur Frage zu vergrößern: Was ist ein Ort? Wie können wir ihn bewohnen? Wie können uns Filme Orte bewohnen lassen, zeigen, öffnen? Und wenn dieser Ort die aus vielen Orten bestehende Welt ist – wie auf ihr leben, mit den Filmen, durch Filme?

Man nehme das schöne Kurz­ex­pe­ri­ment, das die schei­denden Inten­danten Peter Schern­huber und Sebastian Höglinger auf ihrer letzten Eröffnung dem Festival als »Postkarte« voran­ge­stellt haben, NYC RGB von Viktoria Schmid. Es handelt sich um eine Folge einfacher Einstel­lungen auf die Skyline von New York, um »Ansichten« der Großstadt, in denen das Licht in sein Farb­spek­trum (rot, gelb, blau etc.) zerfällt. In mehr­fa­cher Hinsicht ist der Kurzfilm eine Postkarte, eine »Sendung« oder räumliche »Über­set­zung«, bei der Infor­ma­tionen verändert und verschlüs­selt werden: als Über­tra­gung der Wirk­lich­keit auf (analogen) Film, als Über­tra­gung von Licht in ein gebro­chenes Spektrum (Wirk­lich­keit und Licht werden im Film nie einfach »als solche« reprä­sen­tiert, sondern immer entstellt), und als Postkarte aus dem fernen New York in die Stei­er­mark.

Der nächste Ort: der Club. Nicht jener der Eröff­nungs­party, sondern jener auf der Leinwand. Ein geschlos­sener Kosmos, aus dem es kein Entrinnen gibt, alle heraus­füh­renden Flucht­li­nien führen stets hierher zurück. Das extreme Gegen­s­tück zur Öffnung von Schmids Film bietet der auf diesen folgende, eigent­liche Eröff­nungs­film, Patric Chihas Das Tier im Dschungel, inspi­riert von einer Kurz­ge­schichte von Henry James und mit ebenso melan­cho­li­schem Unterton. Ein Club, von den späten Siebziger-, frühen Acht­zi­ger­jahren bis in die Gegenwart. Alles verändert sich, doch ein Paar (Tom Mercier und Anaïs Dumoustier) tanzt immer weiter, wie in einer konser­vierten Zeitblase. Eine Feier des Imaginären, Welt­fremden, wie bei Yann Gonzalez oder Bertrand Mandico, märchen­haft, roman­tisch, einge­schlossen. Die Figuren erwarten, dass etwas Großes passiert, etwas Außer­ge­wöhn­li­ches, doch dieses Etwas tritt nie ein, wird immer nur weiter erwartet (und besteht letztlich, wenig über­ra­schend, im Ende, im Tod). Die Zeit vergeht nicht, sie ist ange­halten. Nichts bewegt sich (und die sich bewe­genden Körper auf der Tanz­fläche demons­trieren nichts anderes, als dass sich nichts bewegt.) Was sich verändert, sind nur Ober­flächen, Moden, Kostüme, Tanz- und Musik­stile, sowie die disparat einge­streuten Insignien einer Außenwelt, die radikal außen vor bleibt, in der völligen Indif­fe­renz der Prot­ago­nist*innen.

Apropos Zeit. NYC RGB erfindet sich seine Zeit, bezie­hungs­weise die Projek­tion in Graz erfand sie sich, als von NYC nach Graz wandernde Postkarte, die gleich­zeitig während der Projek­tion in Graz in der Zeit zum Ausgangs­punkt zurück­ge­schickt wurde, um erneut abge­sendet werden zu können. Der Kurzfilm erfindet – an jedem neuen Ort, an dem er gezeigt wird – eine peri­odi­sche Zeit des Sendens und Empfan­gens, die ebenso unmessbar und gebrochen blieb wie die Spek­tral­farben des Lichts auf den Wolken­krat­zern. Es sind nicht einfach schöne Bilder, die hier gesendet werden, sondern eine gebro­chene Zeit­lich­keit, in der man sich verliert. Die Wolken­kratzer sind keine kitschigen Motive, weil sie räumliche Errich­tungen und Erek­tionen einer Zeit­lich­keit sind, die sich nie stabi­li­siert. Eine Stadt beginnt zu wandern. Bei Chiha beginnt ein Club, stehen­zu­bleiben, den Atem zu verlieren, auf dem Dance­f­loor zu kolla­bieren. Chiha »erfindet« nichts. Die Figuren wollen sich verlieren in einem »Club ohne Namen«, aber sie können sich nicht verlieren, weil hier alles zu aufgeräumt, voll und monoton bleibt, wie in einem Gaspard Noë-Film ohne LSD (prä- Vortex, natürlich). Wer Henry James machen will, muss genug Spielraum schaffen, in der Dinge verpasst werden können, so wie Leos Carax in Holy Motors, in der die Henry-James-Szene nur noch gespielt und insze­niert wird, an sich also immer schon verpasst und verloren ist, wie eine paradoxe, unmög­liche, nur erträumte Erin­ne­rung, eine Nostalgie ohne Referenz und von funkelnder Hohlheit.

Die abge­schlos­sene Raumzeit von Chihas Clubs ist dennoch aufschluss­reich. Gerade die Acht­zi­ger­jahre werden zum welt­ab­ge­wandten, apoli­ti­schen Ruhepol. Der Film zeigt eine Möglich­keit, über Politik (das Außen) und damit die Gegenwart (der Acht­zi­ger­jahre, unsere heutige) nicht reden zu müssen, weil es (das Außen) negiert wird. Die Acht­zi­ger­jahre werden zur ästhe­ti­schen Topo­gra­phie des Eska­pismus, zu einer Zeit außerhalb der Zeit, die der Zeit entkommen will (allem Poli­ti­schen, allem »außerhalb des Clubs«).

Von beson­derem Interesse, hinsicht­lich der Frage des Ortes, erwiesen sich jene kurzen Expe­ri­men­tal­filme, die im ersten Slot der Programm­sparte »Inno­va­tives Kino« versam­melt waren. In Michi Schmidls Formate des Schei­terns verlassen wir nie einen Schuppen, in dem eine Figur mit einem Hammer auf einen Holz­pflock einschlägt, bevor Figur und Hammer sich im digitalen Morphing verlieren, ihre surrealen Formen ändern. Wo ich wohne von Susi Jirkuff illus­triert mit schwin­del­erre­genden Kohle­stri­chen eine Kurz­ge­schichte von Ilse Aichinger, deren Erzäh­lerin sich vom vierten Stock immer tiefer bewegt, bis in den Keller und noch weiter hinab. In beiden Fällen saugt das Kurz­format in seiner konzen­trierten Form uns ein wie in einen Strudel. Was wir brauchen, sind mehr solcher Filme, die Zuschauer*innen verorten, ihnen konkrete Plätze zuweisen: einen Platz über dem Abgrund, in den hinein­ge­fallen werden kann, vor einer sich im Licht brechenden Stadt (NYC RGB, der in der Sparte noch einmal lief) oder in einem Schuppen, in dem nichts beim selben bleibt (Formate des Schei­terns). Ein Ort ist nur (immer weiter) zu »gewinnen«, indem sich der Film nicht in der Anein­an­der­rei­hung von Verein­ze­lungen auflöst, sich auf einen Ort konzen­triert, und diesen dabei nicht zu nur einem Sujet erhebt (zu »der Wirk­lich­keit« oder »dem Wirk­li­chen«), ihn nicht einhegt in ein Gitter aus Romantik und Zeit­lo­sig­keit (Das Tier im Dschungel), sondern ihn bear­beitet und zum Spielraum macht, in dem sich das Wirkliche erst nach und nach enthüllt. Darin besteht auch die Schönheit von Sasha Pirkers Gewesen sein wird, einer auf 16 mm gedrehten Erkundung der Wohnung des Wiener Künstlers und Archi­tekten Heinz Frank, die die rot lackierten Räume vermisst wie eine Haut oder einen Maßanzug für Schaffen und Leben der Figur. Das körnige Bild wird gemacht, »geschnei­dert«, hat eine starke Präsenz und konzen­triert sich ganz auf die Wohnung, endet aber mit einem Schober aus spontan entstan­denen, nicht zur Ausstel­lung gedachten Zeich­nungen, die der Künstler anfer­tigte wie ein seine Gefühls­welt doku­men­tie­rendes Tagebuch: ein Archiv und Zuviel an kryp­ti­schen Skizzen, das durch­blät­tert wird und nicht mehr genug gesehen werden kann; ein Über­schuss an Formen, die das (Innen-)Leben des 2020 Verstor­benen erneut verschlüs­seln. Was (zu sehen) ist, wird (bei aller Konzen­triert­heit) gewesen sein, liegt in der Zukunft, ist in dieser aber schon wieder vergangen und damit immer nur weiter zukünftig (und weiter vergehend).

Mit Hinblick auf diese Ästhetik der fort­lau­fenden Erfor­schung von Orten / der fort­lau­fenden Verortung des Gesche­hens ist Matter Out Of Place von Nikolaus Geyr­halter ein Schlüs­sel­film. Das Thema ist der Müll, dem Geyr­halter in verschie­denen Varia­tionen rund um die Welt folgt, doch tatsäch­lich sucht Geyr­halter nach einer filmi­schen Form für die Struktur, die Müll (als mensch­li­ches Abfall­pro­dukt und Signatur des Menschen) und die Natur des Planeten aufein­ander bezieht. Die groß­for­ma­tigen, stati­schen Einstel­lungen richten genaue Blick­winkel ein, die Natur und Müll vereinen. Der Müll taucht auf unter Wiesen, auf Lastwagen, in Müll­de­po­nien im Globalen Süden und reichen Berg­dör­fern in der Schweiz. Er ist bereits ein Teil der Natur, ein Schlüssel zur Welt – und gleich­zeitig ihre Vermül­lung und Verstel­lung. Der Müll bleibt Rest, Über­schuss, a matter out of place, der seinem Verschwinden wider­steht, nie in die Natur inte­griert werden kann, auch dann nicht, wenn beide unun­ter­scheidbar werden. So am Ende, wenn erst Müll in einer Anlage zu Staub zerklei­nert wird und wir nach einem Schnitt in der staubigen Wüste Nevadas sind, wo das »Burning Man Festival« statt­findet. Bei den Aufräum­ar­beiten fegen die Menschen den Wüsten­boden, wollen noch die letzten, mini­malsten Spuren ihrer Abfälle besei­tigen. Zurück zur Natur, sozusagen, und ein unmög­li­ches Unter­fangen. Müll ist immer »zu viel«, aber »kein Müll« ist unmöglich, solange es noch wen gibt, der ihn produ­ziert (und verschwinden lassen will). Geyr­halter verwan­delt damit die (nahe­lie­gende und einfache) ökolo­gi­sche Forderung nach einer Reduktion von Müll und Nach­hal­tig­keit in den (komplexen) Nach­vollzug der fatalen Präsenz des Menschen auf der Erde, die das Anthro­pozän zum Purga­men­tozän macht. Vor dem Hinter­grund dieses Nicht-Verschwin­dens von Abfall geht es darum, Verant­wor­tung für diese irre­du­zi­blen Spuren zu über­nehmen, wie sie im Wüsten­boden oder auf der stei­ri­schen Leinwand aufscheinen. Auf einen fatalen Über­schuss an Müll antwortet für die Bewohner*innen der Erde ein fataler Über­schuss an Verant­wor­tung. Wir sind hier ein wenig am Rand der Welt und out of place, in Nevada oder der Stei­er­mark. Genau am richtigen Ort, um zu sehen, wo wir leben.