Ein Festival »out of place« |
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Luftverschmutzung mal anders. Geyrhalters Matter out of Place | ||
(Foto: Diagonale Graz | Nikolaus Geyrhalter) |
Wer sich fragt, wozu wir heute noch »Kino« brauchen, also Orte, an denen Filme in Kinos gezeigt werden, sowie Filme, die anderes sind, als stromlinienförmiger Streamingcontent, der*die tat in diesem März gut daran, die Diagonale in Graz zu besuchen, das Festival des österreichischen Films, das immer zum Frühlingsbeginn stattfindet. Ich selbst bin zum ersten Mal in diesem Jahr in Graz und der Diagonale gewesen, und es war, wie meine Mutter sagen würde, die schon oft in Graz war und Graz sehr liebt, ganz zauberhaft.
Graz ist nach Wien die zweitgrößte Stadt Österreichs, was insofern bemerkenswert ist, als sie in meinen Augen kaum größer wirkte, als Heidelberg. Die Mur erinnert den ignoranten Deutschen an den Neckar. Das Flair ist glücklicherweise weniger baden-württembergisch als italienisch, was keineswegs als Diss an Heidelberg oder Baden-Württemberg (meinem Geburtsland und dem meiner Mutter) verstanden werden soll, und eher als Ausdruck der Freude darüber, im Frühjahr an einem italienisch anmutenden Ort gewesen zu sein. Ein »kleines« Städtchen, und gerade deshalb hervorragend geeignet, zum Brennglas zu werden für das komprimierte Filmschaffen eines »kleinen« Landes, das gleichzeitig so viel internationaler und weltläufiger ist, als in Deutschland. Die Filme, die gezeigt werden, sind bescheiden mit Bezug auf Format und Länge (schwer vorstellbar, hier ein Dreistundenepos zu sehen), während sie in der Enge der Altstadt, der Kinosäle, der Projektoren jede Beschränkung hinter sich lassen, um sich im Zuge der Projektion vor den Augen der Festivalbesucher zur Frage zu vergrößern: Was ist ein Ort? Wie können wir ihn bewohnen? Wie können uns Filme Orte bewohnen lassen, zeigen, öffnen? Und wenn dieser Ort die aus vielen Orten bestehende Welt ist – wie auf ihr leben, mit den Filmen, durch Filme?
Man nehme das schöne Kurzexperiment, das die scheidenden Intendanten Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger auf ihrer letzten Eröffnung dem Festival als »Postkarte« vorangestellt haben, NYC RGB von Viktoria Schmid. Es handelt sich um eine Folge einfacher Einstellungen auf die Skyline von New York, um »Ansichten« der Großstadt, in denen das Licht in sein Farbspektrum (rot, gelb, blau etc.) zerfällt. In mehrfacher Hinsicht ist der Kurzfilm eine Postkarte, eine »Sendung« oder räumliche »Übersetzung«, bei der Informationen verändert und verschlüsselt werden: als Übertragung der Wirklichkeit auf (analogen) Film, als Übertragung von Licht in ein gebrochenes Spektrum (Wirklichkeit und Licht werden im Film nie einfach »als solche« repräsentiert, sondern immer entstellt), und als Postkarte aus dem fernen New York in die Steiermark.
Der nächste Ort: der Club. Nicht jener der Eröffnungsparty, sondern jener auf der Leinwand. Ein geschlossener Kosmos, aus dem es kein Entrinnen gibt, alle herausführenden Fluchtlinien führen stets hierher zurück. Das extreme Gegenstück zur Öffnung von Schmids Film bietet der auf diesen folgende, eigentliche Eröffnungsfilm, Patric Chihas Das Tier im Dschungel, inspiriert von einer Kurzgeschichte von Henry James und mit ebenso melancholischem Unterton. Ein Club, von den späten Siebziger-, frühen Achtzigerjahren bis in die Gegenwart. Alles verändert sich, doch ein Paar (Tom Mercier und Anaïs Dumoustier) tanzt immer weiter, wie in einer konservierten Zeitblase. Eine Feier des Imaginären, Weltfremden, wie bei Yann Gonzalez oder Bertrand Mandico, märchenhaft, romantisch, eingeschlossen. Die Figuren erwarten, dass etwas Großes passiert, etwas Außergewöhnliches, doch dieses Etwas tritt nie ein, wird immer nur weiter erwartet (und besteht letztlich, wenig überraschend, im Ende, im Tod). Die Zeit vergeht nicht, sie ist angehalten. Nichts bewegt sich (und die sich bewegenden Körper auf der Tanzfläche demonstrieren nichts anderes, als dass sich nichts bewegt.) Was sich verändert, sind nur Oberflächen, Moden, Kostüme, Tanz- und Musikstile, sowie die disparat eingestreuten Insignien einer Außenwelt, die radikal außen vor bleibt, in der völligen Indifferenz der Protagonist*innen.
Apropos Zeit. NYC RGB erfindet sich seine Zeit, beziehungsweise die Projektion in Graz erfand sie sich, als von NYC nach Graz wandernde Postkarte, die gleichzeitig während der Projektion in Graz in der Zeit zum Ausgangspunkt zurückgeschickt wurde, um erneut abgesendet werden zu können. Der Kurzfilm erfindet – an jedem neuen Ort, an dem er gezeigt wird – eine periodische Zeit des Sendens und Empfangens, die ebenso unmessbar und gebrochen blieb wie die Spektralfarben des Lichts auf den Wolkenkratzern. Es sind nicht einfach schöne Bilder, die hier gesendet werden, sondern eine gebrochene Zeitlichkeit, in der man sich verliert. Die Wolkenkratzer sind keine kitschigen Motive, weil sie räumliche Errichtungen und Erektionen einer Zeitlichkeit sind, die sich nie stabilisiert. Eine Stadt beginnt zu wandern. Bei Chiha beginnt ein Club, stehenzubleiben, den Atem zu verlieren, auf dem Dancefloor zu kollabieren. Chiha »erfindet« nichts. Die Figuren wollen sich verlieren in einem »Club ohne Namen«, aber sie können sich nicht verlieren, weil hier alles zu aufgeräumt, voll und monoton bleibt, wie in einem Gaspard Noë-Film ohne LSD (prä- Vortex, natürlich). Wer Henry James machen will, muss genug Spielraum schaffen, in der Dinge verpasst werden können, so wie Leos Carax in Holy Motors, in der die Henry-James-Szene nur noch gespielt und inszeniert wird, an sich also immer schon verpasst und verloren ist, wie eine paradoxe, unmögliche, nur erträumte Erinnerung, eine Nostalgie ohne Referenz und von funkelnder Hohlheit.
Die abgeschlossene Raumzeit von Chihas Clubs ist dennoch aufschlussreich. Gerade die Achtzigerjahre werden zum weltabgewandten, apolitischen Ruhepol. Der Film zeigt eine Möglichkeit, über Politik (das Außen) und damit die Gegenwart (der Achtzigerjahre, unsere heutige) nicht reden zu müssen, weil es (das Außen) negiert wird. Die Achtzigerjahre werden zur ästhetischen Topographie des Eskapismus, zu einer Zeit außerhalb der Zeit, die der Zeit entkommen will (allem Politischen, allem »außerhalb des Clubs«).
Von besonderem Interesse, hinsichtlich der Frage des Ortes, erwiesen sich jene kurzen Experimentalfilme, die im ersten Slot der Programmsparte »Innovatives Kino« versammelt waren. In Michi Schmidls Formate des Scheiterns verlassen wir nie einen Schuppen, in dem eine Figur mit einem Hammer auf einen Holzpflock einschlägt, bevor Figur und Hammer sich im digitalen Morphing verlieren, ihre surrealen Formen ändern. Wo ich wohne von Susi Jirkuff illustriert mit schwindelerregenden Kohlestrichen eine Kurzgeschichte von Ilse Aichinger, deren Erzählerin sich vom vierten Stock immer tiefer bewegt, bis in den Keller und noch weiter hinab. In beiden Fällen saugt das Kurzformat in seiner konzentrierten Form uns ein wie in einen Strudel. Was wir brauchen, sind mehr solcher Filme, die Zuschauer*innen verorten, ihnen konkrete Plätze zuweisen: einen Platz über dem Abgrund, in den hineingefallen werden kann, vor einer sich im Licht brechenden Stadt (NYC RGB, der in der Sparte noch einmal lief) oder in einem Schuppen, in dem nichts beim selben bleibt (Formate des Scheiterns). Ein Ort ist nur (immer weiter) zu »gewinnen«, indem sich der Film nicht in der Aneinanderreihung von Vereinzelungen auflöst, sich auf einen Ort konzentriert, und diesen dabei nicht zu nur einem Sujet erhebt (zu »der Wirklichkeit« oder »dem Wirklichen«), ihn nicht einhegt in ein Gitter aus Romantik und Zeitlosigkeit (Das Tier im Dschungel), sondern ihn bearbeitet und zum Spielraum macht, in dem sich das Wirkliche erst nach und nach enthüllt. Darin besteht auch die Schönheit von Sasha Pirkers Gewesen sein wird, einer auf 16 mm gedrehten Erkundung der Wohnung des Wiener Künstlers und Architekten Heinz Frank, die die rot lackierten Räume vermisst wie eine Haut oder einen Maßanzug für Schaffen und Leben der Figur. Das körnige Bild wird gemacht, »geschneidert«, hat eine starke Präsenz und konzentriert sich ganz auf die Wohnung, endet aber mit einem Schober aus spontan entstandenen, nicht zur Ausstellung gedachten Zeichnungen, die der Künstler anfertigte wie ein seine Gefühlswelt dokumentierendes Tagebuch: ein Archiv und Zuviel an kryptischen Skizzen, das durchblättert wird und nicht mehr genug gesehen werden kann; ein Überschuss an Formen, die das (Innen-)Leben des 2020 Verstorbenen erneut verschlüsseln. Was (zu sehen) ist, wird (bei aller Konzentriertheit) gewesen sein, liegt in der Zukunft, ist in dieser aber schon wieder vergangen und damit immer nur weiter zukünftig (und weiter vergehend).
Mit Hinblick auf diese Ästhetik der fortlaufenden Erforschung von Orten / der fortlaufenden Verortung des Geschehens ist Matter Out Of Place von Nikolaus Geyrhalter ein Schlüsselfilm. Das Thema ist der Müll, dem Geyrhalter in verschiedenen Variationen rund um die Welt folgt, doch tatsächlich sucht Geyrhalter nach einer filmischen Form für die Struktur, die Müll (als menschliches Abfallprodukt und Signatur des Menschen) und die Natur des Planeten aufeinander bezieht. Die großformatigen, statischen Einstellungen richten genaue Blickwinkel ein, die Natur und Müll vereinen. Der Müll taucht auf unter Wiesen, auf Lastwagen, in Mülldeponien im Globalen Süden und reichen Bergdörfern in der Schweiz. Er ist bereits ein Teil der Natur, ein Schlüssel zur Welt – und gleichzeitig ihre Vermüllung und Verstellung. Der Müll bleibt Rest, Überschuss, a matter out of place, der seinem Verschwinden widersteht, nie in die Natur integriert werden kann, auch dann nicht, wenn beide ununterscheidbar werden. So am Ende, wenn erst Müll in einer Anlage zu Staub zerkleinert wird und wir nach einem Schnitt in der staubigen Wüste Nevadas sind, wo das »Burning Man Festival« stattfindet. Bei den Aufräumarbeiten fegen die Menschen den Wüstenboden, wollen noch die letzten, minimalsten Spuren ihrer Abfälle beseitigen. Zurück zur Natur, sozusagen, und ein unmögliches Unterfangen. Müll ist immer »zu viel«, aber »kein Müll« ist unmöglich, solange es noch wen gibt, der ihn produziert (und verschwinden lassen will). Geyrhalter verwandelt damit die (naheliegende und einfache) ökologische Forderung nach einer Reduktion von Müll und Nachhaltigkeit in den (komplexen) Nachvollzug der fatalen Präsenz des Menschen auf der Erde, die das Anthropozän zum Purgamentozän macht. Vor dem Hintergrund dieses Nicht-Verschwindens von Abfall geht es darum, Verantwortung für diese irreduziblen Spuren zu übernehmen, wie sie im Wüstenboden oder auf der steirischen Leinwand aufscheinen. Auf einen fatalen Überschuss an Müll antwortet für die Bewohner*innen der Erde ein fataler Überschuss an Verantwortung. Wir sind hier ein wenig am Rand der Welt und out of place, in Nevada oder der Steiermark. Genau am richtigen Ort, um zu sehen, wo wir leben.