Mitten im Zentrum |
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Berauschende Bilder, bitterböse Geschichte: Black Night (Copyright) | ||
(Foto: Türkische Filmtage München | ArtHood Entertainment) |
Von Sedat Aslan
Auch wenn der Umbau des Gasteigs mit mehr Fragezeichen als je zuvor versehen ist, kann sich das Team vom SinemaTürk Filmzentrum darüber freuen, mit den Türkischen Filmtagen wieder da angekommen zu sein, wo es hingehört: Zum ersten Mal seit der 30. Festivalausgabe im Jahre 2019, der abgesagte, rein online abgehaltene oder ins HP8 ausgelagerte Editionen folgten, ist die kuratierte Schau des türkischen Kinos zurück im Zentrum der Stadt. Anders als das DOK.fest wird das Event nicht in hybrider Form fortgeführt: das altehrwürdige Rottmann-Kino – eine ehemalige Stammstätte für das einst sogenannte »Gastarbeiterkino« – ist Hauptabspielstätte.
Klar umrissen ist die Programmstruktur – der Tag nach der Eröffnung ist als »Rainbow Friday« deklariert und wartet neben drei Langfilmen mit einer Podiumsdiskussion zum Thema LGBTQ+ im türkischen Kino auf. Am Sonntag laufen neben einem empfehlenswerten Kurzfilmprogramm drei Filme, die der Perspektive von Frauen gewidmet und allesamt auch von Frauen inszeniert sind. Alles dazwischen ist am Samstag zu sehen, der mit »Filme großer Meister« umschrieben ist; dies sind dann auch die visuell beeindruckendsten und thematisch ausgefallensten der diesjährigen Selektion. Man ist hier gewissermaßen mitten im Zentrum des zeitgenössischen türkischen Kinos, und ohne zu übertreiben lässt sich sagen, dass dieser Querschnitt aus zehn Lang- und fünf Kurzfilmen deutlich interessanter und vielfältiger ist als das, was man vor ein paar Wochen in Berlin vom deutschen Kino zu sehen bekam.
Zur feierlichen Eröffnung an diesem Donnerstagabend, die ausnahmsweise im Rio Filmpalast stattfindet, wird das Filmteam von Once Upon a Time in the Future: 2121 anwesend sein. In der Sci-Fi-Gesellschaftssatire von Serpil Altın leben die klimakatastrophengebeutelten Menschen der Zukunft im Untergrund. Weil die Ressourcen knapp sind, muss für jeden neuen Menschen ein alter Mensch gehen. Die Oma opfern für das Neugeborene? Diese perfide Frage stellt sich einer Familie. Die filmische Dystopie verspricht mehr, als sie letztlich halten kann, und der klaustrophobische Effekt, den das kellerumwölbte Kammerspiel hervorruft, ist auf Dauer, gelinde gesagt, nicht besonders produktiv, doch immerhin darf man sich auf an- und aufgeregte Diskussionen nach dem Film freuen, den Stoff dafür liefert er durchaus.
Ein besserer Eröffnungsfilm wäre der diesjährige türkische Oscar-Beitrag Kerr von Tayfun Pirselimoğlu gewesen, eine Koproduktion mit Griechenland und Frankreich, in der der Protagonist Can, wie aus einer Kafka-Erzählung entsprungen, rastlos durch unwirtliche monochrome Landschaften in seinem Heimatdorf umherirrt, auf der Suche nach einem Mörder. Er rennt stoisch gegen die Türen des Gesetzes, heißt: die Gesetze des Staates, aber auch die der dörflichen Gemeinschaft, bis es zu einer finalen Konfrontation mit seinen eigenen unterbewussten Ängsten kommt. Über diese metaphorische Erzählwelt schafft es Pirselimoğlu in der Adaption seines eigenen Romans, den Grad der Korruptheit der türkischen Gesellschaft als auch gesellschaftliche Ausnahmezustände wie die Corona-Pandemie zu behandeln, ohne sie konkret zu benennen. Der Hauptdarsteller Erdem Şenocak wird zum Screening erwartet.
Ebenso kann Black Night überzeugen, in dem Özcan Alper in berauschenden Bildern eine bitterböse Geschichte über Schuld und Sühne erzählt: Ishak kommt von der Stadt zurück aufs Land, um seine sterbende Mutter zu begleiten. Dabei wird er mit einer längst vergessen scheinenden Bluttat konfrontiert, die er bloßlegen und sich seiner Verantwortung dafür endgültig stellen möchte. Der Komplex um Individuen in verschlossenen Gemeinschaften sowie die (oftmals unterdrückten) homoerotischen Erzählelemente zeigen sich in den meisten der Festivalfilme, was trotz der ästhetischen Vielfalt mitverantwortlich für den Eindruck einer thematischen Homogenität ist. Nur zu Recht bekam Black Night den Hauptpreis in Antalya und, unlängst beim Filmfestival Türkei Deutschland in Nürnberg, den Darstellerpreis für Berkay Ateş.
Nicht unerwähnt bleiben soll das Special Screening am Montag direkt im Anschluss, wenn der hochgelobte Politthriller Burning Days von Emin Alper, der beim letztjährigen Festival du Cannes Premiere feierte und in der Vorauswahl für den Europäischen Filmpreis ist, in Anwesenheit des Darstellers Erdem Şenocak in den City-Kinos läuft.
Die Dokumentarfilme des Festivals sind gesondert zu würdigen, denn wie es gute Praxis bei den Türkischen Filmtagen ist, sind das die vielleicht stärksten Beiträge. This Is Not Me zeigt gleichermaßen zärtlich wie schonungslos, wie es um den Status Homosexueller in der modernen Türkei bestellt ist. Mustafa hat sich vor Jahren entschlossen, anders als sein Partner Mehmet, der Frau und Kinder hat, einer Lebenslüge zu entfliehen, und geht nach Istanbul, wo er – im Vergleich zur restlichen Türkei – relativ offen seine Neigungen ausleben und zu ihnen stehen kann. Mehmet hingegen, der es vorzieht, vor der Kamera sein Gesicht nicht zu zeigen, möchte Mehmet bei sich in Samsun wissen. Ein unlösbar scheinender Konflikt, über den eine Vielzahl an aktuellen gesellschaftspolitischen Themen verhandelt wird, ohne dass die Regisseurinnen Jeyan Kader Gülşen und Zekiye Kaçak – beide beim Screening anwesend – den Menschen aus den Augen verlieren. Hier trifft auch das gerne gebrauchte Wort des Handlungsortes als zusätzlicher Protagonist zu, ist Istanbul (vor allem der liberale Stadtteil Beyoğlu) doch Katalysator für Mustafas persönliche Entwicklung, aber auch die der gesamten Türkei, und illustriert gleichzeitig den Blick auf seine innere wie äußere Lebenswelt.
Wer glaubt, von der Inhaltsbeschreibung allein wie selbstverständlich auf Inhalt und Ästhetik eines Films schließen zu können, wird durch Witch Trilogy 15+ eines Besseren belehrt. Zwei Frauen, die beide jeweils den gewalttätigen Ehemann getötet haben und dafür im Gefängnis sitzen, erzählen ihre Geschichte. Wer manipulativen und moralinsauren Konsenskrampf befürchtet, wird vom Film völlig verblüfft und mitgerissen werden. Die Regisseurin Ceylan Özgün Özçelik macht nämlich eine Tugend aus der Not: die Verweigerung der türkischen Behörden von jeglichen Interviews mit den Protagonistinnen zwingt sie dazu, eigene Bilder für das nur schwer zu Bebildernde zu finden. Der gesprochene Off-Ton entstammt längerer Briefwechsel, die sie mit den Frauen geführt hat und von Schauspielerinnen interpretieren lässt (was sie am Schluss offenlegt). Ihre herausragende künstlerische Leistung liegt vor allem in der Montage des assoziativen und fragmentarischen Bildmaterials und im ausdrucksstarken Sounddesign, das sich mit den ausgewählten Erinnerungen und Reflexionen kongenial zu einem kraftvollen Manifest gegen Unrecht und Unterdrückung fügt – beileibe nicht nur im häuslichen Umfeld, sondern auch mitten im Zentrum des türkischen Staats- und Gemeinwesens.
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Eröffnung im Rio Filmpalast
Rosenheimer Str. 46, 81669 München | 30.03.2023
Festival im Neuen Rottmann
Rottmannstr. 15, 80333 München | 31.03. – 02.04.2023
Special Screening in den City Kinos
Sonnenstr. 12, 80331 München | 03.04.2023
Einzelticket: 11,- € / erm. 10,- €
5er-Ticket (nur Neues Rottmann): 45,- €
Podiumsdiskussion am 01.04.: Eintritt frei
An den Kinokassen wird es Spendenboxen für die Erdbebenopfer geben.