Ein Kontinent in ganzer Farbtiefe |
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Eindrucksvoll und hochaktuell: Atomnomaden | ||
(Foto: 20. Crossing Europe) |
In die elektronische Musik mischt sich ein Surren und Summen, dann ist ein Ticken vernehmbar, das an einen Geigerzähler erinnert. Vor die Silhouette der Kühltürme, die so bedrohlich wie gleichmütig in der Landschaft stehen, schieben sich malerische Formationen aus Dampfwolken. Die Betonkolosse werden von weißen Wohnwagen angesteuert, die in gehörigem Respekt parken. Ameisengleich entströmen zu nachtschlafender Zeit die Diener der Türme: Frankreichs sogenannte Atomnomaden, Leiharbeiter und -Arbeiterinnen, deren Zahl auf 33.000 geschätzt wird. Diese unsichtbare Armee des Prekariats hält die 56 Meiler der überzeugten Atomnation Frankreich in Schach. Dafür pendeln die Arbeiter zwischen Orten wie Cattenom, Dampierre oder Saint Laurent, zum Teil mit ihren Familien. Haben die »Bioroboter« im Zuge ihrer – wenn auch gutbezahlten – Drecksarbeit eine bestimmte Strahlendosis erreicht, werden sie ausgetauscht und mit den gesundheitlichen Folgen ihres Jobs alleingelassen.
Für ihren eindrucksvollen und hochaktuellen Dokumentarfilm Atomnomaden haben Kilian Armando Friedrich, Tizian Stromp Zargari und der Kameramann Jacob Maria Kohl, Studenten der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) im dritten Jahr, monatelang selbst im Wohnwagen Frankreich durchkämmt. Behutsam näherten sie sich Menschen wie dem scheuen Familienvater Jérȏme oder einem hundenärrischen Paar an. Im Kontrast dazu richteten sie die Kamera mit einem statischen 35-Millimeter-Objektiv auf die unbetretbaren Kraftwerke, wie Kohl im charmanten Linzer City-Kino erzählte.
Indem diese drei Dokumentaristen eine verborgene europäische Wirklichkeit zu Tage gefördert haben, bilden sie gleichsam die DNA des Linzer Filmfestivals Crossing Europe ab. Dieses nimmt seit seiner Gründung im Jahr 2004 durch Wolfgang Steininger, damals Geschäftsführer zweier Programmkinos in Linz, konsequent den gesamten Kontinent samt Ländern mit schwacher filmischer Infrastruktur in den Blick. Auf der anderen Seite vergisst Crossing Europe aber nie seinen oberösterreichischen Anker beziehungsweise Heimathafen an der Donau. Dieser duale Ansatz zeigt sich an der beeindruckend großen Zahl eingeladener Produktionen aus Mittel- und Osteuropa, aber auch aus Armenien oder Island, und der beliebten Filmreihe »Local Artists«. Sie feiert traditionell das Experimentelle, stets mit Bezug zu Oberösterreich. Der Leinwand-Purist Siegfried A. Fruhauf aus Grießkirchen erhielt eine lobende Erwähnung für Cave Painting. Isabella Friedls Debütfilm Cloudy Memories erörtert auf berührende Weise innerfamiliäre Themen wie Demenz oder den Wunsch auszuwandern. Die Fragen seien wichtig, die Antworten temporär, zitierte die Filmemacherin ihre 101-jährige Großmutter, als sie im Ursulinenhof den Hauptpreis der »Competition Local Artists« entgegennahm. Ihre Kollegin Selma Doborac, ausgezeichnet für die Monolog-Collage De facto zur sogenannten Vergangenheitsbewältigung, lobt die »Kontinuität der Begleitung und Werkentwicklung«, die sie vom Festival erfahren habe. Dieses begreift sich als institutionalisierten Schub für das regionale Filmschaffen, nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit der Kunstuniversität und dem Lentos-Museum, beide direkt am Donauufer gelegen. Das bringt einen 11-minütigen Kurzfilm wie 850 000 Trümmer der Erinnerung von Sabrina Kern und Martin Weichselbaumer auf die Leinwand, eine ästhetisch bestrickende Demontage des Mythos der österreichischen Trümmerfrau. Während im Off mehrstimmig Bittbriefe ehemaliger Nationalsozialistinnen verlesen werden (»Ich kann nicht glauben, dass der Führer umsonst gelebt hat«), macht sich eine Schauspielerin am Wiener »Trümmerfrauen-Denkmal« zu schaffen. Dabei trägt sie einen Catsuit, der exakt in der beige-bläulichen Maserung des Denkmal-Steins gehalten ist.
Wie bei der »Viennale« und der »Grazer Diagonale« ist bei Österreichs drittem großen Filmfestival eine landestypische unbedingte Liebe zum Kino zu spüren, eine ausgeprägte und mitreißende Neugier auf Unbekanntes. »Europa, wir müssen reden!«, hatte sich die 20. Jubiläumsausgabe von Crossing Europe vorgenommen – und alle Prospekte, Tüten und Schaufenster der frühlingsfrischen Linzer Innenstadt rund um den barocken Hauptplatz in dunkles Magentapink getaucht. Zwei »Anniversary Pic(k)s« verdeutlichten wiederum den zweifachen Ansatz: Eröffnungsfilm des ersten Festivals war Über eine Straße, den Edith Stauber und Michaela Mair 2003 über die vielbefahrene Linzer Dametzstraße drehten. Heute noch imponiert die Nähe dieses zeitgeschichtlichen Dokuments zu seinen Protagonisten, sei es auf dem Zollamt, beim Loblied auf eine westfälische Waschmaschine, das in einer Behinderten-WG angestimmt wird, oder im multinationalen Handyshop, was die Behauptung vom »reinen Österreich« widerlege, wie ein Zuschauer meinte.
Ebenfalls anlässlich des Jubiläums wiederholt wurde der Omnibus-Film Lost and Found. Dazu hatte Crossing Europe vor zwanzig Jahren, kurz vor dem euphorisch erwarteten EU-Beitritt mehrerer ost- und südosteuropäischer Länder, Regietalente wie den Rumänen Cristian Mungiu, die Bulgarin Nadejda Koseva oder den Serben Stefan Arsenijević eingeladen. Der Blick nach Osteuropa sei nach wie vor unterrepräsentiert, meinte Sabine Gebetsroither: »Aufgabe unseres Festivals ist es, diese Filmkulturen zu präsentieren.« Eine der schönsten Stellen in diesem farbtiefen 35-Millimeter-Film ist die, in der in Mungius Episode »Turkey Girl« ein heimlich vor dem Schlachter geretteter zahmer Truthahn seiner Besitzerin unvermutet wieder vor die Füße flattert, und zwar vor dem gigantischen Ceauṣescu-Palast in Bukarest.
Die seit einem Jahr amtierenden Festivalleiterinnen Katharina Riedler und Sabine Gebetsroither konnten 16.000 Besucherinnen und Besucher in den sechs beteiligten Innenstadt-Kinos begrüßen, deutlich mehr als im noch von Corona verunsicherten Vorjahr. Das Publikum verteilte sich auf 139 Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilme aus 45 Ländern, deren Sprachen allerdings wie so oft von dem ubiquitären, leider viele Diskussionen verflachenden Flughafen-Englisch überlagert wurden. Das zeigte sich exemplarisch bei der Diskussion »Das Unzeigbare zeigen«, die auf den zutiefst erschütternden ukrainischen Dokumentarfilm Shidniy front (Eastern Front) folgte. Darin ist unter anderem ein sterbender Soldat im Rettungswagen zu sehen, gedreht von Yevhen Titarenko, der sich einem ukrainischen Sanitätsbataillon angeschlossen hat. Co-Regisseur ist der renommierte Vitaly Mansky, 1963 in Lwiw geboren, aber bis zu seiner Emigration nach Riga in Russland ansässig. Auf Russisch las er nun dem ach so verständnisvollen Westen die Leviten. Nach einer Vorführung sei er einmal gefragt worden: »Wir helfen doch schon der Ukraine. Warum zeigen Sie uns dieses Inferno?« Ein Film über den der Ukraine aufgezwungenen Überlebenskampf müsse all dessen Dreck und Eiter, aber auch das Leid der unbeteiligten Tiere zeigen, so Mansky: »Im Krieg gibt es keine Heiligen.«
An die bedrückenden Bilder von Butscha und anderen Massengräbern in der Ukraine lässt unwillkürlich Jan Baumgartners Dokumentarfilm The DNA of Dignity denken. Der 35-jährige Berner hat eine zweite Heimat in Sarajewo gefunden. In Bosnien gelten nach dem 1999 beendeten Balkankrieg immer noch rund 11.000 Menschen als vermisst. Baumgartner zeigt in ruhigen, Respekt und Würde vermittelnden Einstellungen die Arbeit des örtlichen Teams der »Internationalen Kommission für vermisste Personen« (ICMP). Die Gerichtsmedizinerin Dragana und ihre Kollegen sortieren mit Hingabe aufgefundene Knochen, Zähne und persönliche Gegenstände, um die Identität der Toten festzustellen. Angesichts der Schönheit des menschlichen Skeletts erscheint es umso unverständlicher, was Menschen sich untereinander antun. Beinahe meditativ geraten die Aufnahmen der bosnischen Landschaft von einem Kran aus (Kamera: Lukas Nicolaus). Sie meide Spaziergänge im Wald, sagt die Mutter zweier vermisster Söhne, da sie die Landschaft als Komplizin des Vergessens empfinde.
Wie Atomnomaden gewährt Jan Baumgartners Film Einblicke in eine schwer zugängliche Welt. Allen zugänglich war hingegen die öffentliche Bibliothek im Zentrum Birminghams, bis sie trotz Protesten abgerissen wurde. Dem brutalistischen Betonpalast von John Madin setzt Andy Howlett mit Paradise Lost: History in the Unmaking ein feinsinniges essayistisches Denkmal. Die Bibliothek sehe aus, als ob dort Bücher verbrannt, aber nicht aufbewahrt würden, zitiert Howlett ein Bonmot von Prinz Charles. Und tritt den Beweis an, dass rund um das erratische Bauwerk in Form einer auf den Kopf gestellten Stufenpyramide (»ziggurat«) allerhand öffentlicher Raum war, dessen Benutzung nichts kostete. Das sei im postkapitalistischen Birmingham mit seiner neureichen Glitter-Architektur und dem Stadtmotto »Forward« nicht vorgesehen, so das ernüchternde Fazit. Zu erleben war dieses kulturgeschichtliche Kleinod in der Linzer Reihe »Architektur und Gesellschaft«.
Sozialkritische Themen dominierten das Festival, auch bei den Wettbewerbssiegern. Der Spielfilm Petites (Little Ones) von Julie Lerat-Gersant führt in ein französisches Heim für minderjährige Mütter, zwischen denen es erwartungsgemäß schroff bis warmherzig zugeht. Den Hauptpreis in der Kategorie »Best Fiction Film« gewann Damian Kocurs Chleb i sól (Bread and Salt), dem Münchner Publikum eventuell schon durch das »Mittelpunkt Europa Filmfest« vom März bekannt. Das sensible Provinzdrama rund um plötzlich aufkeimende Fremdenfeindlichkeit wird von den Laiendarstellern Tymoteusz und Jacek Bies getragen. Ebenfalls nach Polen ging der Preis für den besten Dokumentarfilm: Silent Love von Marek Kozaliewicz. Er beobachtet eindringlich Aga, die nach dem Tod ihrer Mutter in die Provinz zurückkehrt, um ihren halbwüchsigen Bruder großzuziehen. Vom Tanzlehrer zu »männlichem Benehmen« angehalten, reagiert der 14-Jährige zunächst irritiert, als die offen lesbische Freundin seiner Schwester bei ihnen einzieht. In einem streng katholischen bis reaktionären Umfeld raufen sich die drei zu einer ungewöhnlichen Familie zusammen, mit offenem Ausgang. In Roberta Torres Le favolose (The fabulous ones) beklagt eine Runde von Trans-Diven im Ankleidezimmer mit herrlich italienischem Pathos ihr Schicksal zwischen Gewalterfahrung auf dem Strich und verletzender Verleugnung durch die Familie. Allein, die gute Absicht macht noch keinen guten Film.
So viel harte Wirklichkeit ruft nach filmischen Fluchten in die Phantasie, zumindest spätabends. Wann werden Familienfotos zu Waisenbildern, fragt sich Jan Peters in seinem erquickend redseligen Film-Essay Eigentlich eigentlich Januar, der auch beim Münchner DOK.fest läuft. Am schönsten zum Jubiläums-Magenta von »Crossing Europe« passte das hysterische Mutter-Sohn-Drama La Piedad von Eduardo Casanova, eine spanisch-argentinische Koproduktion. Ihre Protagonisten huschen in rosa Seidengewändern über schwarzweißgemaserte Marmorböden, zu sehen in der von Markus Keuschnigg kuratierten Reihe »Nachtsicht«, einer weiteren Inspiration dieses Filmfestivals, das Europa wahrlich zu feiern versteht.