04.05.2023
38. DOK.fest München 2023

Fast, quick & dirty

38. DOK.fest München

Kurzkritiken zum 38. DOK.fest München, in Zusammenarbeit mit der LMU München und dem Filmkritik-Nachwuchs

Von Redaktion

Tanja – Tagebuch einer Gueril­lera
R: Marcel Mettel­siefen / D 2023 / DOK.horizonte

Aus dem geka­chelten hollän­di­schen Reihen­haus in den kolum­bia­ni­schen Dschungel: Marcel Mettel­siefen porträ­tiert eine mitt­ler­weile 45-jährige Frau in all ihren Wider­sprüchen. Der Lange­weile entkommen wollte die Studentin Tanja Nijmeijer und trat deshalb eine Stelle als Englisch­leh­rerin in Bogota an. Ohnehin links einge­stellt, poli­ti­sierte sich die Nieder­län­derin ange­sichts des horrenden Armuts­ge­fälles in Kolumbien immer stärker und schloss sich nach einer Rundreise der Rebel­len­armee FARC an. Dort avan­cierte die mehr­spra­chige Gueril­lera bis in die Führungs­ebene. Sie vertrat ihre revo­lu­ti­onäre „Familie“ sogar bei den Verhand­lungen mit der Regierung, die mit dem Frie­dens­no­bel­preis gekrönt wurden. Als 2007 ihre FARC-kriti­schen Tage­bücher im Dschungel entdeckt wurden, Tanja selbst aber jahrelang verschwunden blieb, machte das weltweit Schlag­zeilen. Ein fesselnder, dialek­ti­scher Film über eine Lebens­ent­schei­dung, die sich nicht revi­dieren lässt: Nijmeijer wird von Interpol gesucht. (Katrin Hill­gruber)
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Eigent­lich eigent­lich Januar
R: Jan Peters / D 2022 / Best of Fests

Den Januar, den nüch­ternsten aller Monate, will er in 31 Sequenzen à drei Minuten fest­halten – so Jan Peters‘ Plan. Was folgt, ist eine einzige herrliche Abschwei­fung auf altem, zum Teil der Zerset­zung durch das Erdreich und andere Substanzen preis­ge­ge­benem Film­ma­te­rial. Mit dieser Methode mate­ria­li­siert der manische Tage­buch­schreiber Peters die verrin­nende Zeit und seine Refle­xionen darüber: Sei es zum „Bild­ab­fall der Geschichte“, zum „Unglücks­ver­spre­chen deutscher Punktexte“, zu Schreib­blo­ckaden oder To-Do-Listen, die sich immer weiter perp­etu­ieren. Indem er über alte Fotos seiner eigenen Familie nachsinnt und ab welchem Punkt diese zu „Waisen­bil­dern“ werden, holt Peters wie nebenbei die jüngere deutsche Geschichte in seinen Mahlstrom aus Gedanken. So überzeugt sein Film neben der origi­nellen Optik auch sprach­lich – als essay­is­ti­scher Hoch­ge­nuss, der in seinen besten Momenten an lite­ra­ri­sche Colla­gisten wie Arno Schmidt oder Rolf Dieter Brinkmann erinnert. (Katrin Hill­gruber)
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Manifesto
R: Angie Vinchito, Russland 2022 | DOK.focus POWER OF MEDIA?

Ein Mädchen, blond, um die zwölf, wünscht dem Land einen guten Morgen. Sie nuschelt verschlafen, ist offen­sicht­lich gerade erst aufge­wacht. Die Kamera wackelt, sie filmt sich. Zu Beginn zeigt Manifesto, wie viel Teenager von ihrem Leben im Internet doku­men­tieren, von der ersten Tasse Tee ab, egal wie scheinbar insi­gni­fi­kant. Dann wünscht man sich diese Insi­gni­fi­kanz zurück. Manifesto ist ein Mosaik aus Videos, das Regisseur:in Angie Vinchito aus Social-Media-Videos russi­scher Teenager zusam­men­ge­fügt hat. Viele dieser Clips sind schwer anzusehen, sie zeigen sexuelle und physische Gewalt, Selbst­ver­let­zung und Amokläufe. Alles wird durch die Linse der Teenager gezeigt, teils kommen­tieren sie, weinen, singen, schreien Parolen, manche filmen mit stiller Anklage. Der Film zeigt jedoch auch, wie univer­sell Szenen von Schul­strei­chen und Gekicher wirken. Die Unschuld, die auf die Gewalt prallt, berührt und verstört. (Maria Krampfl / LMU München)
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Paradise
R: Alexander Abaturov, FR/CH 2022 | DOK.inter­na­tional

Mit dem Schmelzen des letzten Schnees beginnt für die Menschen im Nordosten Sibiriens ein Kampf gegen die Wald­brände: ein Kampf gegen Goliath. Es ist, so das Gesetz, gegen die sich wuchtig ausbrei­tenden »Feuer­dra­chen« keine profes­sio­nelle, staat­liche Inter­ven­tion zu erwarten. Abaturov und sein Kame­ra­mann Paul Guilhaume (Best Cine­ma­to­graphy IDFA 2022) nehmen uns auf eine bild­ge­wal­tige Reise in eine Hölle mit, in der viel gelacht wird. Harte Fakten über das Leben der Dorf­be­wohner werden kontras­tiert mit einer lokalen Thea­ter­probe, was für den Zuschauer eine magische Flucht vor der Realität zulässt. Bis uns wieder das tosende Inferno einholt. Ein Film über Menschen, die trotz allem immer an ihre Nächsten denken – und ein Film, der auf den Haupt­preis hoffen darf. (Thomas Slatter / HFF München)
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#Racegirl: Das Comeback der Sophia Flörsch
R: Sonia Otto, Deutsch­land 2023 | Münchner Premieren

Eine Renn­fah­rerin erlebt und überlebt bei einem Formel-3-Rennen in Macau einen Horror­crash. Mit der eigenen Sterb­lich­keit und den Risiken ihrer Leiden­schaft konfron­tiert, entscheidet sich Sophia Flörsch dazu, weiter­zu­ma­chen. Ob sie das kann, liegt jedoch zunächst daran, ob ihr Körper heilt. Als die Ärzte ihr das Okay geben, springt sie wieder in den Sitz, startet ihre Renn­kar­riere auf ein Neues. Es wartet auf sie ein Ritt zu hohen Höhen und herben Enttäu­schungen. Der Film ist eine klas­si­sche Feel-Good-Doku im leicht­gän­gigen Netflix-Stil, die mit viel Fokus auf die Probleme von Frauen in männer­do­mi­nierten Sport­arten und einer fesselnden Geschichte mit tollen Neben­cha­rak­teren auffahren kann. Letztlich: eine wunder­volle, fesselnde Unter­hal­tung mit tollen Bildern und span­nenden Charak­teren. (Paul Dobbers / LMU München)
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Wir waren Kumpel
R: Christian Johannes Koch, Jonas Matau­schek / D, CH 2023 / DOK.deutsch Wett­be­werb

Glück auf! Nein: Schicht im Schacht! Mitte August 2018 war Schluss auf Ibben­büren, der letzten deutschen Stein­kohle-Zeche. Ein letztes Mal einfahren, ein letztes Mal unter Tage … ein letztes Mal die Rituale in der Waschkaue nach der Schicht. Gerade noch recht­zeitig waren Christian Johannes Koch, Jonas Matau­schek und Kame­ra­mann Sebastian Klatt vor Ort, um die (faszi­nie­rende, perfekt durch­or­ga­ni­sierte) Arbeit in dieser unter­ge­gan­genen Groß­in­dus­trie, das besondere soziale Mitein­ander, die Kame­rad­schaft unter den Berg­leuten aufzu­zeichnen. Und jetzt? Wie geht es weiter im Leben? Thomas verlegt sich aufs Kochen. Langer wird Schul­bus­fahrer, Locke tut sich schwer mit dem unfrei­wil­ligen Vorru­he­stand, Martina, Trans* Frau, wechselt in den Salz­bergbau – und für Kiri, den stolzen Rangier­lok­führer, der es vor gut 20 Jahren nach der erzwun­genen Flucht aus Sri Lanka nach Deutsch­land geschafft hat, bricht, beinah, die Welt zusammen. // Ein Langzeit-Projekt. Breit angelegt. Mäandernd. Gesten. Blicke. Rituale. (Intimste) Texte. Und noch viel mehr zwischen den Zeilen. Den Menschen: ganz nah. (Hermann Barth)
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Journey through our world
R: Petra Lataster-Czisch, Peter Lataster / NL 2023 / Best of fests

Was machen die Raben? Fragt Ingrid an Tränen­tagen. Der Regen, die Katze, die Raupe –wo schaut man hin, was ist wichtig, was macht man, wenn man einge­schlossen ist, reduziert, aufs Wesent­liche. Nicht „into“, but „through“. Eine Wohnung Parterre: plus Hinterhof / Garten, in Amsterdam. (Nun ja, Funny Covid). Eine Studie in „Resilienz“. Film Diary. Ach, mit Petra und Piotr, den Nachbarn, dem ukrai­ni­schen Paar von oben, ist doch alles o.k.. Paar-Geschichten eben. Der Nach­barsbub, springt Trampolin, stun­den­lang. Hah, ist doch zum Läuse­melken, sagen die Ameisen. Die Wespe: klaut der Spinne die Beute. Ein Geburtstag. Weih­nachten. Silvester. Ostern. Ab und an dann halt doch Schubert: „Winter­reise“. Aber jetzt spielen wir Ozu. Laurel und Hardy. Nur Ingrid eben. Ein Abschied. Für immer. Die Raben: Ihr Junges. Längst flügge. // Schon sehr nieder­län­disch. Jonas Mekas aber (und wir): hellauf begeis­tert! (Hermann Barth)
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27 Storeys
R: Bianca Gleis­singer / Ö, D 2022 / Best of Fests

Glück­li­ches Öster­reich, in dem sogar ein Begriff wie „sozialer Wohnungsbau“ etwas Unan­ge­strengtes, Lebens­frohes verheißen kann. Für ihren ersten abend­fül­lenden Doku­men­tar­film ist Bianca Gleis­singer nach Alterlaa zurück­ge­kehrt, wo sie in den 1990er Jahren eine unbe­schwerte Kindheit verlebte, wie einge­blen­dete Fami­li­en­fotos und Film­aus­schnitte zeigen. Der von Harry Glück entwor­fene Häuser­park im Süden Wiens, ein Pres­ti­ge­ob­jekt des sozialen Wohnungs­baus der Zweiten Republik, umfasst 240.000 Quadrat­meter. Als Stadt in der Stadt ist Alterlaa beliebte Heimat für insgesamt 10.000 Menschen. Trotz niedriger Decken und viel Beton leben sie weit­ge­hend im Grünen, zum Teil schon seit der Gründung in den 1970er Jahren. Sie alle gehören einer Genos­sen­schaft an, die sich selbst verwaltet. Die aus Drei­er­blö­cken bestehenden Hoch­haus­zeilen sind 400 Meter lang und verjüngen sich pyramidal nach oben, wobei die unteren zwölf der insgesamt 27 Etagen (daher der Titel 27 Storeys) über groß­zü­gige Terras­sen­gärten verfügen.
Mit viel Witz, Sinn für Situa­ti­ons­komik und einer gehörigen Portion Selbst­ironie besucht die Filme­ma­cherin ihre im wahrsten Sinn des Wortes alten Nach­ba­rinnen und Nachbarn – Alterlaa gilt als das größte „Pensio­nis­ten­heim“ des Landes. Bianca Gleis­singer schaut in der genos­sen­schaft­li­chen Nähstube vorbei, bei den Modell­bauern oder im Freddy-Quinn-Museum von Brigitta und Eduard Klinger – für dessen Leitung übrigens dringend eine passio­nierte Persön­lich­keit gesucht wird, da sich die seit 1956 in Sachen Quinn aktiven Klingers endlich in den Ruhestand begeben wollen. 120 Stunden Rohma­te­rial, gedreht von Gleis­sin­gers konge­nialem Kame­ra­mann Klemens Koscher, sind in fünf­jäh­riger Arbeit inklusive Corona-Zwangs­pause zu einer liebe­vollen, hinter­grün­digen Hommage auf ein soziales Biotop mit eigener U-Bahn­sta­tion geronnen. (Katrin Hill­gruber)
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Iron Butter­flies
R: Roman Liubyi / Ukraine, D 2023 / DOK.focus: Power of Media?

Am 17. Juli 2014 kam der Tod für die 298 Passa­giere des Flugzeugs Malaysia-Airlines-Flug 17 in Gestalt unzäh­liger Schmet­ter­linge. Denn die Löcher, welche die Raketen des russi­schen Flug­ab­wehr­sys­tems Buk M1 (russisch „Buche“) in vermeint­lich feind­liche Flug­ob­jekte reißen, erinnern an die Umrisse von Schmet­ter­lingen. So war auch das Cockpit des zivilen Passa­gier­flug­zeugs von Iron Butter­flies durch­löchert, wie ein inter­na­tio­nales Ermitt­ler­ko­mitee rekon­stru­ierte. Auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur hatte das Flugzeug die Ostukraine in der Region Donezk über­flogen, in der damals schon – vom Westen weit­ge­hend ignoriert – Kämpfe zwischen prorus­si­schen Sepa­ra­tisten und der ukrai­ni­schen Armee herrschten. Der in Lwiw lebende Regisseur Roman Liubyi rekon­stru­iert minutiös den Funk­ver­kehr, der vor und nach dem „schönen Absturz“ herrschte, wie sich die Aggres­soren ausdrückten. Angeblich dachten sie, es hätte sich um ein ukrai­ni­sches Trans­port­flug­zeug gehandelt. Bis heute bestreitet Russland jede Verant­wor­tung für den Abschuss. Dieser stelle für die Nieder­lande den größten Angriff auf Zivi­listen seit dem Zweiten Weltkrieg dar, hieß es bei dem Amster­damer Gerichts­ver­fahren gegen die abwe­senden Ange­klagten. Im Rückblick erscheint der Abschuss der MH-17 als Fanal für den russi­schen Angriffs­krieg auf die Ukraine und als Lehrstück über den Zusam­men­hang von Gewalt und Lüge, etwa wenn Kommen­tare aus dem russi­schen Staats­fern­sehen einge­blendet werden.
„Iron Butter­flies“ begnügt sich jedoch nicht mit der Rekon­struk­tion der Fakten, mit span­nenden Ausschnitten aus einem Lehrfilm des sowje­ti­schen Militärs über die Flug­ab­wehr und der Befragung trau­ernder Angehö­riger in Holland, Malaysia und Austra­lien. Vielmehr setzen der künst­le­risch ehrgei­zige Regisseur und seine in München lebende Co-Autorin Mila Zhluk­tenko der grausamen Wirk­lich­keit Spiel­szenen in Schwarz­weiß entgegen: Soldaten mit verpi­xelten Gesich­tern, die einen panto­mi­mi­schen Tanz aufführen, weiße Stühle, die inmitten von Sonnen­blumen aufge­stellt werden (die Maschine stürzte in ein Feld der für die Ukraine ikoni­schen Blumen) oder Metall­staub, den ein Magnet ansaugt. Besonders berühren die Kinder­zeich­nungen – unter den Opfern befanden sich 80 Minder­jäh­rige. Wenn das ästhe­ti­sche Doppel­kon­zept auch nicht durchweg überzeugt, so schaffen die eigen­wil­ligen Spiel­se­quenzen doch einen wert­vollen Freiraum für die eigene Reflexion. (Katrin Hill­gruber)
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Magic Mountain
R: Mariam Chachia, Nik Voigt / Georgien, Polen 2022 / DOK.inter­na­tional

Abas­tu­mani – was für ein majes­tä­ti­sches Wort, erst recht, wenn es in geschwun­genen geor­gi­schen Lettern auf der Leinwand erscheint. Für die Filme­ma­cherin Mariam Chachia verband sich mit Abas­tu­mani, dem abge­schie­denen Lungen­sa­na­to­rium in den Bergen, lange Zeit eine Drohung. Denn hätte sie sich nicht von ihrer zufällig entdeckten Tuber­ku­lose erholt, wäre sie dort einge­wiesen worden. Mit ihrem briti­schen Co-Regisseur und Kame­ra­mann Nick Voigt begibt sie sich an diesen Ort der Ausge­stoßenen, von denen die meisten ohne Aussicht auf Heilung rauchend und karten­spie­lend ihre Tage verdäm­mern. Während Lungen­tu­ber­ku­lose in West­eu­ropa weit­ge­hend ausge­rottet werden konnte, flackert die hoch­an­ste­ckende, lebens­ge­fähr­liche Krankheit in Russland, aber auch in Georgien immer wieder auf, vor allem unter Gefäng­nis­in­sassen. Ihre rauen Sitten haben die Kranken auf den geor­gi­schen „Zauber­berg“ mitge­bracht, wo sie sich nur wider­stre­bend den Kommandos der abge­klärten russi­schen Ärztin fügen – und die Dreh­ar­beiten mit äußerstem Miss­trauen verfolgen. Ähnlich wie in Thomas Manns Davoser Anstalts­roman „Der Zauber­berg“, der am Vorabend des Ersten Welt­kriegs spielt, habe sie im zeit­gleich errich­teten Abas­tu­mani eine magische Atmo­sphäre empfunden, so Mariam Chachia. »Die Zukunft meines Landes steht fest, aber seine Vergan­gen­heit ist frag­würdig«, konsta­tiert sie bitter, als Nik Voigts Kamera den Abriss des gewal­tigen Komplexes festhält, samt furiosen Staub­wolken und einer nun obdach­losen Rotkehl­chen-Familie. Ein Oligarch hat das Ende des Sana­to­riums besiegelt: Die Patienten müssen ihre Zimmer innerhalb von zwei Stunden verlassen, ihre Zukunft erscheint ebenso ungewiss wie die des Personals. Magic Mountain ist ein Abgesang auf eine zwie­späl­tige Einrich­tung, der vor allem durch die stille Poesie seiner Bilder besticht. (Katrin Hill­gruber)
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Be Water – Voices from Hong Kong
R: Lia Erbal, Deutsch­land 2023 | DOK.inter­na­tional

Flüssig sein, so beschreiben die Protes­tie­renden in Hongkong ihre Heran­ge­hens­weise. Im Kontrast zu China entstehen die Proteste hier demo­kra­tisch. Be Water: Voices From Hong Kong erzählt die Geschichte der Proteste in der Sonder­ver­wal­tungs­zone, ange­fangen mit den Regen­schirm-Protesten 2014 bis hin zu den Straßen­schlachten 2020. Eine Frau und weitere Prot­ago­nist*innen lassen das Streben der Bevöl­ke­rung nach Freiheit und einem brutalen Unter­drü­cker hautnah heran­rü­cken. Auch die Gescheh­nisse auf poli­ti­scher Ebene werden fokus­siert: Wir folgen Euro­pa­po­li­tiker Reinhard Bütikofer bei seinem ganz persön­li­chen Kampf gegen die chine­si­schen Bemühungen, die Welt von Hongkong so fern wie möglich zu halten. Resultat ist ein äußerst immersives und emotio­nales Erlebnis zu einer Krise, die wir in Europa mehr und mehr aus den Augen verloren haben – die aber in naher Zukunft, auch mit Blick auf Taiwan, umso wichtiger sein könnte. (Paul Dobbers / LMU München)
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Dreaming Arizona
R: Jon Bang Carlsen, Dänemark, Estland, Norwegen 2022 | Best of Fests

Eine Klein­stadt irgendwo in Arizona. Eine Gruppe Jugend­li­cher, die ihr letztes Jahr an der High­school absol­vieren. Ein Thea­ter­s­tück der Schüler stellt ihr Leben, auch das alltäg­liche in den Mittel­punkt. Die Grenzen zwischen dem Thea­ter­s­tück, dem Alltag der Prot­ago­nisten, deren Träumen und fiktio­nalen Episoden verlaufen fließend, sofern es sie überhaupt gibt – die Frage schließt sich an, ob der Film auf einem ausge­wie­senen Doku­men­tar­film­fes­tival nicht etwas deplat­ziert sein könnte. Zwei­fellos jedoch entwi­ckelt Dreaming Arizona einen atmo­sphäri­schen Sog, in den man sich gerne begibt, und man merkt zunehmend: Es ist tatsäch­lich nur ein Traum von und in Arizona – ob es ein Alptraum ist oder nicht, muss sich erst erweisen. (Paula Ruppert)
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Scab Vendor
R: Mariana Thome, Lucas De Barros, Brasilien 2022 | DOK.panorama

Here comes Jonathan Shaw, here comes trouble. Scab Vendor: ein Porträt über den Sohn des berühmten Big-Band-Musikers Artie Shaw und der Schau­spie­lerin Doris Dowling – aufge­wachsen im Alptraum des ameri­ka­ni­schen Traums. Ein abwe­sender Vater und eine alko­hol­kranke Mutter. Gespickt mit Origi­nal­auf­nahmen und animierten Zeich­nungen für den Scrabbook-Look. Die Comic-Effekte vermi­schen sich mit tradi­tio­neller Tattoo­kunst – Shaw ist nicht nur Promi-Spross, sondern auch Pionier der US-Tattoo­kultur. Ein Vagabund auf der Suche nach sich selbst, dazwi­schen finden sich über­ra­schende Verbin­dungen zu Johnny Depp und Charles Manson sowie ein Strudel aus Drogen. Mit derb-poeti­scher Sprache erzählt Jonathan Shaw seine Geschichte. Für 90 Minuten taucht man in eine von einem düsteren Schleier umgebene Welt, die nicht nur Shaws Leben, sondern auch eine popkul­tu­relle Entwick­lung erzählt – und damit ziemlich bunt ist. (Katharina Huber / LMU München)

Art Talent Show
R: Tomáš Bojar und Adéla Komrzý, CZ 2022 | Best of Fests

Art Talent Show
(Foto: DOK.fest München | Adela Komrzy)

»Jeder sagt hier, dass er sich einfach ausdrü­cken will«, schnaubt ein Professor während des Aufnah­me­ver­fah­rens an der Akademie der Bildenden Künste Prag eine junge Künst­lerin an, »aber wofür ist ihre Kunst nun wirklich?« Den beiden Regis­seuren gelingt es sehr dynamisch, mit stoischer Kamera zu dekon­stru­ieren, was es bedeutet, kontem­po­räre Kunst zu schaffen und gleich­zeitig die Heraus­for­de­rung, sie zu lehren. Kurz bevor wir meinen, Wesent­li­ches verstanden zu haben, wird meis­ter­haft auf eine neue Situation geschnitten und der Zuschauer gezwungen, seine eigene Position zu hinter­fragen. Liefert Art Talent Show eine vernich­tende Absage an die junge Gene­ra­tion? Oder zeigt er uns deutlich auf, was es für eine Kunst ist, Kunst zu schaffen? (Thomas Slatter / HFF München)
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Ruäch
R: Andreas Müller, Simon Guy Fässler, Schweiz 2023 | DOK.deutsch

Ruäch
(Foto: DOK.fest München | Andreas Müller, Simon Guy Fässler)

Was ist ein Ruäch? Einer, der nicht jenisch ist, definiert Prot­ago­nistin Lisbeth ganz einfach. Das sei auch nicht abwertend gemeint, versi­chert sie. Aber, wie man im Film immer wieder merkt, schwingt doch eine Prise Miss­trauen mit. Die ist auch nicht unbe­gründet: Die Reise durch das jenische Europa führt ihn immer wieder zu ketten­rau­chenden alten Frauen und Männern, die bei Akkor­de­on­musik oder am Lager­feuer ihre Erin­ne­rungen von Diskri­mi­nie­rung und Miss­hand­lung erzählen. Von Kindern, die von Behörden verschleppt wurden und von Ärzten, die sie zur Steri­li­sie­rung gedrängt haben. Das Filmteam Müller, Fessler und Bächtiger tritt in die Rolle des Ruäch, einem inter­es­sierten Außen­seiter. Der Film versteckt ihre Anwe­sen­heit nicht, öfter weisen Prot­ago­nisten auf ihren Status hin, oder weichen plötzlich doch aus, wenn sie das Gefühl haben, zu viel von ihrer Kultur preis­zu­geben. Ruäch doku­men­tiert die Lebens­welt eines Volkes, das sich sonst bewusst Blick und Kamera entzieht. (Maria Krampfl / LMU München)
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Piano­forte
R: Jakub Piątek, Polen, Deutsch­land 2023 | DOK.music

Pianoforte
(Foto: DOK.fest München | Jakub Piątek)

Der Chopin-Wett­be­werb in Warschau ist einer der größten und renom­mier­testen Klavier­wett­be­werbe der Welt. In ihm tritt die Welt­spitze der aufstre­benden Pianisten gegen­ein­ander an – wer gewinnt, hat den Grund­stein seiner Solo­kar­riere fest gelegt. Piano­forte portrai­tiert ein paar der jungen Musiker im Wett­be­werb, zeigt, wie sie von Drill und Disziplin geprägt sind, wie sie mit dem immensen Stress umgehen. Es ist klar, dass es für die Teil­nehmer eine Chance ist, sich nach außen hin zu präsen­tieren, und doch wirken nur wenige von ihnen besonders selbst­dar­stel­le­risch. Ein riesiges Lob gilt der Montage und dem Ton. Die Schnitte zwischen den einzelnen Pianisten sind innerhalb der einzelnen Wett­be­werbs­stücke reibungslos, bei Stück­wech­seln wird auf die Harmonien geachtet, nie sind Ton und Bild asynchron. Ein Muss für Musik­lieb­haber. (Paula Ruppert)
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Umberto Eco – A Library of the World

R: Davide Ferrario, Italien 2022 | Dok.panorama

Eine private Biblio­thek mit über 30.000 Büchern? Wer außer Umberto Eco errich­tete eine so umfang­reiche Sammlung? Davide Ferrario nimmt uns in Umberto Eco – A Library of the World mit auf die Reise durch das Labyrinth der Biblio­thek des italie­ni­schen Univer­sal­ge­lehrten, berühmt für den Best­seller »Der Name der Rose«. Nach seinem Tod im Jahr 2016 ergänzen Inter­views mit seiner Familie und Wegbe­glei­tern die Archiv­auf­nahmen. Resultat: ein anschau­li­cher, poin­tierter Einblick in das geistige Leben von Eco. Wir erfahren: Seine Affinität zu Geschrie­benem bestimmte sein lebens­läng­li­ches Schaffen, für ihn sind Biblio­theken Symbol und Realität des kollek­tiven Gedächt­nisses der Mensch­heit. Vor Staunen stumm folgt man dem Film in Ecos Welt der Bücher. (Ursula Witten­zeller / LMU München)
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Close to Vermeer

R: Suzanne Raes, NL 2023 | Dok.panorama

Was ist die Anzie­hungs­kraft von Vermeer (1632-1675)? Die aktuelle Ausstel­lung im Rijks­mu­seum in Amsterdam mit 28 von 37 Werken des nieder­län­di­schen Barock­ma­lers war binnen 3 Tagen für die gesamte Dauer ausver­kauft. In Close to Vermeer, vermut­lich eine Anspie­lung auf die animierte Online-Museums-Präsen­ta­tion »Closer to Johannes Vermeer«, lädt Suzanne Raes ein, den Kurator der Werkschau Gregor Weber bei den Vorbe­rei­tungen und der Beur­tei­lung der Echtheit von Werken zu begleiten. Der Blick über die Schultern des Insiders eröffnet über­ra­schende Perspek­tiven auf profes­sio­nelle Muse­ums­ar­beit und das Schaffen des Malers, seinen virtuosen Umgang mit Nähe und Distanz, mit Innen- und Außenwelt. Eine faszi­nie­rende Annähe­rung an die Sphinx von Delft, den Meister des Lichts. (Ursula Witten­zeller / LMU München)
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The Visitors

R: Veronika Lišková, Slowakei, Tsche­chien, Norwegen 2022 | Best of Fests

Die Norwe­gi­sie­rung von Spitz­bergen. Der Vertrag von Spitz­bergen von 1920 stellt die Insel­gruppe unter die Ober­ho­heit von Norwegen und erlaubt Angehö­rigen der Vertrags­staaten auf Svalbard, wie es auf norwe­gisch heißt, zu arbeiten. In The Visitors zieht die tsche­chi­sche Anthro­po­login Zdenka mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in die ehemalige Berg­ar­bei­ter­stadt Longye­ar­byen, um den gesell­schaft­li­chen und klima­ti­schen Wandel zu erfor­schen. Veronika Lišková veran­schau­licht mit Zdenka, was es bedeutet, in einem der nörd­lichsten bewohnten Orte als Nicht-Norwe­gerin zu leben. Mit einer Kette von Inter­views hinter­fragt sie die von der norwe­gi­schen Regierung verfolgte Politik gegenüber Auslän­dern in Longye­ar­byen, die sich deshalb zunehmend uner­wünscht fühlen. (Ursula Witten­zeller / LMU München)
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Breaking Social
R: Fredrik Gertten, Schweden 2023 | DOK.panorama

Breaking Social
(Foto: DOK.fest München | Fredrik Gertten)

Können wir uns die Reichen noch leisten? Fredrik Gerttens Breaking Social greift die großen Fragen des zeit­genös­si­schen vage-linken Diskurses auf. Inter­views mit Partnern von Groß­bri­tan­nien über Malta bis Chile geben Auskunft über das Kernthema der Korrup­tion. Deutlich wird, dass die Korrup­tion nicht nur isoliert in einzelnen Gesell­schaften vorliegt, sondern als globales System zerstö­re­risch wirkt. Die zentrale These: »The moment people are becoming angry, that’s the moment things are actually already improving.« Street Art und Proteste in Chile, getaucht in warmes Licht und untermalt von emotio­naler Musik, sollen opti­mis­tisch stimmen. Aber: Die These stimmt nur bedingt. Das Inkraft­treten einer neuen Verfas­sung in Chile, präsen­tiert als einer der Höhe­punkte des Films, wurde 2022 abgelehnt und bleibt ungewiss. Wenn Künstler eine Instal­la­tion propa­gieren, die einen Baum auf ein Beton­ge­bäude proji­ziert, mit einem Slogan »Lass Hoffnung wachsen«, kommt man nicht umhin, sich zu fragen: Woraus denn eigent­lich? Ange­sichts der globalen Skala der Korrup­tion wird man durchaus wütend – für Hoffnung aber liefert Breaking Social wenig frucht­baren Nährboden.. (Maria Krampfl / LMU München)
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She Chef
R: Melanie Liebheit, Gereon Wetzel, DE, AT 2022 | Münchner Premieren

Die Frau gehört in die Küche! In She Chef jedoch geht es nicht um jeder­manns Küche, sondern um die Ster­neküchen dieser Welt. Und dort sind die rang­höchsten Köche meist tatsäch­lich Männer. Der Film folgt Prot­ago­nistin Agnes durch Praktika in verschie­densten Küchen, die sie nach ihrer Ausbil­dung absol­viert, um Erfahrung zu sammeln. Dabei wirken zu Anfang manche der Gespräche über Frauen in der Ster­neküche etwas gewollt, auch der Umgangston in den Küchen scheint fast zu freund­lich; doch der Blick hinter die Kulissen dieser eigenen Art der Gastro­nomie ist ohne Zweifel lohnens­wert. (Paula Ruppert)

Nach Ausbil­dung im Stei­re­reck in Wien, einem der besten Restau­rants Öster­reichs, und Prämie­rung als Koch­welt­meis­terin sucht in She Chef die 25-jährige Agnes ihren eigenen Weg in der Welt der männ­li­chen Starköche. Erste Stationen sind die Michelin Restau­rants Vendôme in Bergisch Gladbach, unter Coro­nabe­schrän­kungen das Disfrutar in Barcelona mit mole­ku­larer Meeres­früch­teküche und das Koks auf den Färöer Inseln mit radikaler Regio­na­lität. Dabei lernen sie und das
Publikum Küche, Kochkunst und Arbeits­be­din­gungen kennen, die unter­schied­li­cher nicht sein könnten. Melanie Liebheit und Gereon Wetzel verlocken zudem mit außer­ge­wöhn­li­chen Speisen und Einbli­cken hinter die Kulissen. Sie vermit­teln Licht und Schatten des Wegs von Agnes und ihrer Selbst­fin­dung. Ange­kommen über­rascht das Uner­war­tete. (Ursula Witten­zeller / LMU München)
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And the King Said, What a Fantastic Machine
R: Axel Danielson, Maxi­mi­lien Van Aertryck, Schweden/Dänemark 2023 | DOK.focus POWER OF MEDIA?

And the King Said
(Foto: DOK.fest München | Axel Danielson, Maxi­mi­lien van Aertryck)

Der Filmtitel zitiert King Edward VII., der seine Coro­na­tion schon 1902 filmisch verherr­licht sah. Will sagen: Der Film stabi­li­siert Herr­schaft! Mit Postman (Wir amüsieren uns zu Tode) gedacht: Lesen demo­kra­ti­siert; glotzen verdummt. Und doch vertrauen die beiden schwe­di­schen Regis­seure Axel Danielson und Maxi­mi­lien Van Aertryck darauf, den jugend­li­chen Zuschauern (die Berlinale zeigte den Film in der Kinder- und Jugend­sek­tion) image literacy zu vermit­teln, sie zu selbst­be­stimmten Navi­ga­toren auf dem Ozean der Bilder zu erziehen: die kluge Schnitt­dra­ma­turgie des Film-Editors Mikel Cee Karlson (Triangle of Sadness) betont das Verblö­dungs­po­ten­tial unserer narziss­ti­schen Sucht nach Selbst­be­spie­ge­lung, tut das aber auf vergnüg­liche Weise. Das Ende doku­men­tiert ein Kunst­hap­pe­ning: eine dieser fantas­ti­schen Maschinen wird aus einem Flugzeug geworfen und filmt ihren eigenen Absturz. Diese zitierte Selbst­ab­schaf­fungs­geste des Mediums unter­läuft die Machart des Films. Die Film­kritik dankt es ihm größ­ten­teils. Have fun! (Martin Wagner / LMU München)
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Gold­hammer
R: André Krummel, DE 2023 | DOK.focus POWER OF MEDIA?

Schwul, konver­tierter Jude und Rechts­po­pu­list. Marcel Gold­hammer ist zwar der Prot­ago­nist dieses Films und doch hat das Publikum keine Ahnung, wer da eigent­lich vor ihm sitzt. Und das bleibt auch das Rätsel des Films. Meist insze­niert sich Marcel selbst: Wenn er weint, weil er seine Oma nie am Grab gesehen hat, dann wieder gekün­s­teltes Lachen. Die doku­men­ta­ri­sche Arbeit hat den schil­lernden Prozess fest­ge­halten. Eigent­lich wollte der Film die Geschichte eines schwulen Teenagers vom Land erzählen, der nach Berlin abhaut, um Schau­spieler zu werden. Der aber wollte nach dem »Tatort« lieber als Escort arbeiten. Videos zeigen Marcel bei der Arbeit, beim Koksen mit der KaDeWe-Karte und mit einem »Heil Merkel« vor dem Deutschen Bundestag. Man wird nie erfahren, wer Marcel Gold­hammer wirklich ist – und genau diese Leer­stelle macht den Film so viel­schichtig. (Amélie Engelmann / LMU München)
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