38. DOK.fest München 2023
Fast, quick & dirty |
Von Redaktion
Tanja – Tagebuch einer Guerillera
R: Marcel Mettelsiefen / D 2023 / DOK.horizonte
Aus dem gekachelten holländischen Reihenhaus in den kolumbianischen Dschungel: Marcel Mettelsiefen porträtiert eine mittlerweile 45-jährige Frau in all ihren Widersprüchen. Der Langeweile entkommen wollte die Studentin Tanja Nijmeijer und trat deshalb eine Stelle als Englischlehrerin in Bogota an. Ohnehin links eingestellt, politisierte sich die Niederländerin angesichts des horrenden Armutsgefälles in Kolumbien immer stärker und schloss sich nach einer
Rundreise der Rebellenarmee FARC an. Dort avancierte die mehrsprachige Guerillera bis in die Führungsebene. Sie vertrat ihre revolutionäre „Familie“ sogar bei den Verhandlungen mit der Regierung, die mit dem Friedensnobelpreis gekrönt wurden. Als 2007 ihre FARC-kritischen Tagebücher im Dschungel entdeckt wurden, Tanja selbst aber jahrelang verschwunden blieb, machte das weltweit Schlagzeilen. Ein fesselnder, dialektischer Film über eine Lebensentscheidung, die
sich nicht revidieren lässt: Nijmeijer wird von Interpol gesucht. (Katrin Hillgruber)
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Eigentlich eigentlich Januar
R: Jan Peters / D 2022 / Best of Fests
Den Januar, den nüchternsten aller Monate, will er in 31 Sequenzen à drei Minuten festhalten – so Jan Peters‘ Plan. Was folgt, ist eine einzige herrliche Abschweifung auf altem, zum Teil der Zersetzung durch das Erdreich und andere Substanzen preisgegebenem Filmmaterial. Mit dieser Methode materialisiert der manische Tagebuchschreiber Peters die verrinnende Zeit und seine Reflexionen darüber: Sei es zum „Bildabfall der Geschichte“, zum
„Unglücksversprechen deutscher Punktexte“, zu Schreibblockaden oder To-Do-Listen, die sich immer weiter perpetuieren. Indem er über alte Fotos seiner eigenen Familie nachsinnt und ab welchem Punkt diese zu „Waisenbildern“ werden, holt Peters wie nebenbei die jüngere deutsche Geschichte in seinen Mahlstrom aus Gedanken. So überzeugt sein Film neben der originellen Optik auch sprachlich – als essayistischer Hochgenuss, der in seinen besten Momenten an
literarische Collagisten wie Arno Schmidt oder Rolf Dieter Brinkmann erinnert. (Katrin Hillgruber)
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Manifesto
R: Angie Vinchito, Russland 2022 | DOK.focus POWER OF MEDIA?
Ein Mädchen, blond, um die zwölf, wünscht dem Land einen guten Morgen. Sie nuschelt verschlafen, ist offensichtlich gerade erst aufgewacht. Die Kamera wackelt, sie filmt sich. Zu Beginn zeigt Manifesto, wie viel Teenager von ihrem Leben im Internet dokumentieren, von der ersten Tasse Tee ab, egal wie scheinbar insignifikant. Dann wünscht man sich diese Insignifikanz zurück. Manifesto ist ein Mosaik aus Videos, das Regisseur:in Angie
Vinchito aus Social-Media-Videos russischer Teenager zusammengefügt hat. Viele dieser Clips sind schwer anzusehen, sie zeigen sexuelle und physische Gewalt, Selbstverletzung und Amokläufe. Alles wird durch die Linse der Teenager gezeigt, teils kommentieren sie, weinen, singen, schreien Parolen, manche filmen mit stiller Anklage. Der Film zeigt jedoch auch, wie universell Szenen von Schulstreichen und Gekicher wirken. Die Unschuld, die auf die Gewalt prallt, berührt und verstört.
(Maria Krampfl / LMU München)
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Paradise
R: Alexander Abaturov, FR/CH 2022 | DOK.international
Mit dem Schmelzen des letzten Schnees beginnt für die Menschen im Nordosten Sibiriens ein Kampf gegen die Waldbrände: ein Kampf gegen Goliath. Es ist, so das Gesetz, gegen die sich wuchtig ausbreitenden »Feuerdrachen« keine professionelle, staatliche Intervention zu erwarten. Abaturov und sein Kameramann Paul Guilhaume (Best Cinematography IDFA 2022) nehmen uns auf eine bildgewaltige Reise in eine Hölle mit, in der viel gelacht wird. Harte Fakten über das Leben der
Dorfbewohner werden kontrastiert mit einer lokalen Theaterprobe, was für den Zuschauer eine magische Flucht vor der Realität zulässt. Bis uns wieder das tosende Inferno einholt. Ein Film über Menschen, die trotz allem immer an ihre Nächsten denken – und ein Film, der auf den Hauptpreis hoffen darf. (Thomas Slatter / HFF München)
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#Racegirl: Das Comeback der Sophia Flörsch
R: Sonia Otto, Deutschland 2023 | Münchner Premieren
Eine Rennfahrerin erlebt und überlebt bei einem Formel-3-Rennen in Macau einen Horrorcrash. Mit der eigenen Sterblichkeit und den Risiken ihrer Leidenschaft konfrontiert, entscheidet sich Sophia Flörsch dazu, weiterzumachen. Ob sie das kann, liegt jedoch zunächst daran, ob ihr Körper heilt. Als die Ärzte ihr das Okay geben, springt sie wieder in den Sitz, startet ihre Rennkarriere auf ein Neues. Es wartet auf sie ein Ritt zu hohen Höhen und herben Enttäuschungen. Der Film ist
eine klassische Feel-Good-Doku im leichtgängigen Netflix-Stil, die mit viel Fokus auf die Probleme von Frauen in männerdominierten Sportarten und einer fesselnden Geschichte mit tollen Nebencharakteren auffahren kann. Letztlich: eine wundervolle, fesselnde Unterhaltung mit tollen Bildern und spannenden Charakteren. (Paul Dobbers / LMU München)
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Wir waren Kumpel
R: Christian Johannes Koch, Jonas Matauschek / D, CH 2023 / DOK.deutsch Wettbewerb
Glück auf! Nein: Schicht im Schacht! Mitte August 2018 war Schluss auf Ibbenbüren, der letzten deutschen Steinkohle-Zeche. Ein letztes Mal einfahren, ein letztes Mal unter Tage … ein letztes Mal die Rituale in der Waschkaue nach der Schicht. Gerade noch rechtzeitig waren Christian Johannes Koch, Jonas Matauschek und Kameramann Sebastian Klatt vor Ort, um die (faszinierende, perfekt durchorganisierte) Arbeit in dieser untergegangenen Großindustrie, das
besondere soziale Miteinander, die Kameradschaft unter den Bergleuten aufzuzeichnen. Und jetzt? Wie geht es weiter im Leben? Thomas verlegt sich aufs Kochen. Langer wird Schulbusfahrer, Locke tut sich schwer mit dem unfreiwilligen Vorruhestand, Martina, Trans* Frau, wechselt in den Salzbergbau – und für Kiri, den stolzen Rangierlokführer, der es vor gut 20 Jahren nach der erzwungenen Flucht aus Sri Lanka nach Deutschland geschafft hat, bricht, beinah, die Welt zusammen. //
Ein Langzeit-Projekt. Breit angelegt. Mäandernd. Gesten. Blicke. Rituale. (Intimste) Texte. Und noch viel mehr zwischen den Zeilen. Den Menschen: ganz nah. (Hermann Barth)
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Journey through our world
R: Petra Lataster-Czisch, Peter Lataster / NL 2023 / Best of fests
Was machen die Raben? Fragt Ingrid an Tränentagen. Der Regen, die Katze, die Raupe –wo schaut man hin, was ist wichtig, was macht man, wenn man eingeschlossen ist, reduziert, aufs Wesentliche. Nicht „into“, but „through“. Eine Wohnung Parterre: plus Hinterhof / Garten, in Amsterdam. (Nun ja, Funny Covid). Eine Studie in „Resilienz“. Film Diary. Ach, mit Petra und Piotr, den Nachbarn, dem ukrainischen Paar von oben, ist doch alles o.k..
Paar-Geschichten eben. Der Nachbarsbub, springt Trampolin, stundenlang. Hah, ist doch zum Läusemelken, sagen die Ameisen. Die Wespe: klaut der Spinne die Beute. Ein Geburtstag. Weihnachten. Silvester. Ostern. Ab und an dann halt doch Schubert: „Winterreise“. Aber jetzt spielen wir Ozu. Laurel und Hardy. Nur Ingrid eben. Ein Abschied. Für immer. Die Raben: Ihr Junges. Längst flügge. // Schon sehr niederländisch. Jonas Mekas aber (und wir): hellauf begeistert! (Hermann
Barth)
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27 Storeys
R: Bianca Gleissinger / Ö, D 2022 / Best of Fests
Glückliches Österreich, in dem sogar ein Begriff wie „sozialer Wohnungsbau“ etwas Unangestrengtes, Lebensfrohes verheißen kann. Für ihren ersten abendfüllenden Dokumentarfilm ist Bianca Gleissinger nach Alterlaa zurückgekehrt, wo sie in den 1990er Jahren eine unbeschwerte Kindheit verlebte, wie eingeblendete Familienfotos und Filmausschnitte zeigen. Der von Harry Glück entworfene Häuserpark im Süden Wiens, ein Prestigeobjekt des sozialen
Wohnungsbaus der Zweiten Republik, umfasst 240.000 Quadratmeter. Als Stadt in der Stadt ist Alterlaa beliebte Heimat für insgesamt 10.000 Menschen. Trotz niedriger Decken und viel Beton leben sie weitgehend im Grünen, zum Teil schon seit der Gründung in den 1970er Jahren. Sie alle gehören einer Genossenschaft an, die sich selbst verwaltet. Die aus Dreierblöcken bestehenden Hochhauszeilen sind 400 Meter lang und verjüngen sich pyramidal nach oben, wobei die unteren zwölf der insgesamt
27 Etagen (daher der Titel 27 Storeys) über großzügige Terrassengärten verfügen.
Mit viel Witz, Sinn für Situationskomik und einer gehörigen Portion Selbstironie besucht die Filmemacherin ihre im wahrsten Sinn des Wortes alten Nachbarinnen und Nachbarn – Alterlaa gilt als das größte „Pensionistenheim“ des Landes. Bianca Gleissinger schaut in der genossenschaftlichen Nähstube vorbei, bei den Modellbauern oder im
Freddy-Quinn-Museum von Brigitta und Eduard Klinger – für dessen Leitung übrigens dringend eine passionierte Persönlichkeit gesucht wird, da sich die seit 1956 in Sachen Quinn aktiven Klingers endlich in den Ruhestand begeben wollen. 120 Stunden Rohmaterial, gedreht von Gleissingers kongenialem Kameramann Klemens Koscher, sind in fünfjähriger Arbeit inklusive Corona-Zwangspause zu einer liebevollen, hintergründigen Hommage auf ein soziales Biotop mit eigener
U-Bahnstation geronnen. (Katrin Hillgruber)
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Iron Butterflies
R: Roman Liubyi / Ukraine, D 2023 / DOK.focus: Power of Media?
Am 17. Juli 2014 kam der Tod für die 298 Passagiere des Flugzeugs Malaysia-Airlines-Flug 17 in Gestalt unzähliger Schmetterlinge. Denn die Löcher, welche die Raketen des russischen Flugabwehrsystems Buk M1 (russisch „Buche“) in vermeintlich feindliche Flugobjekte reißen, erinnern an die Umrisse von Schmetterlingen. So war auch das Cockpit des zivilen Passagierflugzeugs von Iron Butterflies durchlöchert, wie ein internationales Ermittlerkomitee
rekonstruierte. Auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur hatte das Flugzeug die Ostukraine in der Region Donezk überflogen, in der damals schon – vom Westen weitgehend ignoriert – Kämpfe zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee herrschten. Der in Lwiw lebende Regisseur Roman Liubyi rekonstruiert minutiös den Funkverkehr, der vor und nach dem „schönen Absturz“ herrschte, wie sich die Aggressoren ausdrückten. Angeblich dachten sie,
es hätte sich um ein ukrainisches Transportflugzeug gehandelt. Bis heute bestreitet Russland jede Verantwortung für den Abschuss. Dieser stelle für die Niederlande den größten Angriff auf Zivilisten seit dem Zweiten Weltkrieg dar, hieß es bei dem Amsterdamer Gerichtsverfahren gegen die abwesenden Angeklagten. Im Rückblick erscheint der Abschuss der MH-17 als Fanal für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und als Lehrstück über den Zusammenhang von Gewalt und Lüge, etwa
wenn Kommentare aus dem russischen Staatsfernsehen eingeblendet werden.
„Iron Butterflies“ begnügt sich jedoch nicht mit der Rekonstruktion der Fakten, mit spannenden Ausschnitten aus einem Lehrfilm des sowjetischen Militärs über die Flugabwehr und der Befragung trauernder Angehöriger in Holland, Malaysia und Australien. Vielmehr setzen der künstlerisch ehrgeizige Regisseur und seine in München lebende Co-Autorin Mila Zhluktenko der grausamen Wirklichkeit
Spielszenen in Schwarzweiß entgegen: Soldaten mit verpixelten Gesichtern, die einen pantomimischen Tanz aufführen, weiße Stühle, die inmitten von Sonnenblumen aufgestellt werden (die Maschine stürzte in ein Feld der für die Ukraine ikonischen Blumen) oder Metallstaub, den ein Magnet ansaugt. Besonders berühren die Kinderzeichnungen – unter den Opfern befanden sich 80 Minderjährige. Wenn das ästhetische Doppelkonzept auch nicht durchweg überzeugt, so schaffen die
eigenwilligen Spielsequenzen doch einen wertvollen Freiraum für die eigene Reflexion. (Katrin Hillgruber)
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Magic Mountain
R: Mariam Chachia, Nik Voigt / Georgien, Polen 2022 / DOK.international
Abastumani – was für ein majestätisches Wort, erst recht, wenn es in geschwungenen georgischen Lettern auf der Leinwand erscheint. Für die Filmemacherin Mariam Chachia verband sich mit Abastumani, dem abgeschiedenen Lungensanatorium in den Bergen, lange Zeit eine Drohung. Denn hätte sie sich nicht von ihrer zufällig entdeckten Tuberkulose erholt, wäre sie dort eingewiesen worden. Mit ihrem britischen Co-Regisseur und Kameramann Nick Voigt begibt sie sich
an diesen Ort der Ausgestoßenen, von denen die meisten ohne Aussicht auf Heilung rauchend und kartenspielend ihre Tage verdämmern. Während Lungentuberkulose in Westeuropa weitgehend ausgerottet werden konnte, flackert die hochansteckende, lebensgefährliche Krankheit in Russland, aber auch in Georgien immer wieder auf, vor allem unter Gefängnisinsassen. Ihre rauen Sitten haben die Kranken auf den georgischen „Zauberberg“ mitgebracht, wo sie sich nur
widerstrebend den Kommandos der abgeklärten russischen Ärztin fügen – und die Dreharbeiten mit äußerstem Misstrauen verfolgen. Ähnlich wie in Thomas Manns Davoser Anstaltsroman „Der Zauberberg“, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs spielt, habe sie im zeitgleich errichteten Abastumani eine magische Atmosphäre empfunden, so Mariam Chachia. »Die Zukunft meines Landes steht fest, aber seine Vergangenheit ist fragwürdig«, konstatiert sie bitter, als Nik Voigts
Kamera den Abriss des gewaltigen Komplexes festhält, samt furiosen Staubwolken und einer nun obdachlosen Rotkehlchen-Familie. Ein Oligarch hat das Ende des Sanatoriums besiegelt: Die Patienten müssen ihre Zimmer innerhalb von zwei Stunden verlassen, ihre Zukunft erscheint ebenso ungewiss wie die des Personals. Magic Mountain ist ein Abgesang auf eine zwiespältige Einrichtung, der vor allem durch die stille Poesie seiner Bilder besticht. (Katrin
Hillgruber)
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Be Water – Voices from Hong Kong
R: Lia Erbal, Deutschland 2023 | DOK.international
Flüssig sein, so beschreiben die Protestierenden in Hongkong ihre Herangehensweise. Im Kontrast zu China entstehen die Proteste hier demokratisch. Be Water: Voices From Hong Kong erzählt die Geschichte der Proteste in der Sonderverwaltungszone, angefangen mit den Regenschirm-Protesten 2014 bis hin zu den Straßenschlachten 2020. Eine Frau und weitere Protagonist*innen lassen das Streben der Bevölkerung nach Freiheit und einem brutalen Unterdrücker
hautnah heranrücken. Auch die Geschehnisse auf politischer Ebene werden fokussiert: Wir folgen Europapolitiker Reinhard Bütikofer bei seinem ganz persönlichen Kampf gegen die chinesischen Bemühungen, die Welt von Hongkong so fern wie möglich zu halten. Resultat ist ein äußerst immersives und emotionales Erlebnis zu einer Krise, die wir in Europa mehr und mehr aus den Augen verloren haben – die aber in naher Zukunft, auch mit Blick auf Taiwan, umso wichtiger sein könnte.
(Paul Dobbers / LMU München)
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Dreaming Arizona
R: Jon Bang Carlsen, Dänemark, Estland, Norwegen 2022 | Best of Fests
Eine Kleinstadt irgendwo in Arizona. Eine Gruppe Jugendlicher, die ihr letztes Jahr an der Highschool absolvieren. Ein Theaterstück der Schüler stellt ihr Leben, auch das alltägliche in den Mittelpunkt. Die Grenzen zwischen dem Theaterstück, dem Alltag der Protagonisten, deren Träumen und fiktionalen Episoden verlaufen fließend, sofern es sie überhaupt gibt – die Frage schließt sich an, ob der Film auf einem ausgewiesenen Dokumentarfilmfestival nicht etwas
deplatziert sein könnte. Zweifellos jedoch entwickelt Dreaming Arizona einen atmosphärischen Sog, in den man sich gerne begibt, und man merkt zunehmend: Es ist tatsächlich nur ein Traum von und in Arizona – ob es ein Alptraum ist oder nicht, muss sich erst erweisen. (Paula Ruppert)
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Scab Vendor
R: Mariana Thome, Lucas De Barros, Brasilien 2022 | DOK.panorama
Here comes Jonathan Shaw, here comes trouble. Scab Vendor: ein Porträt über den Sohn des berühmten Big-Band-Musikers Artie Shaw und der Schauspielerin Doris Dowling – aufgewachsen im Alptraum des amerikanischen Traums. Ein abwesender Vater und eine alkoholkranke Mutter. Gespickt mit Originalaufnahmen und animierten Zeichnungen für den Scrabbook-Look. Die Comic-Effekte vermischen sich mit traditioneller Tattookunst – Shaw ist nicht nur Promi-Spross, sondern auch Pionier der US-Tattookultur. Ein Vagabund auf der Suche nach sich selbst, dazwischen finden sich überraschende Verbindungen zu Johnny Depp und Charles Manson sowie ein Strudel aus Drogen. Mit derb-poetischer Sprache erzählt Jonathan Shaw seine Geschichte. Für 90 Minuten taucht man in eine von einem düsteren Schleier umgebene Welt, die nicht nur Shaws Leben, sondern auch eine popkulturelle Entwicklung erzählt – und damit ziemlich bunt ist. (Katharina Huber / LMU München)
Art Talent Show
R: Tomáš Bojar und Adéla Komrzý, CZ 2022 | Best of Fests
»Jeder sagt hier, dass er sich einfach ausdrücken will«, schnaubt ein Professor während des Aufnahmeverfahrens an der Akademie der Bildenden Künste Prag eine junge Künstlerin an, »aber wofür ist ihre Kunst nun wirklich?« Den beiden Regisseuren gelingt es sehr dynamisch, mit stoischer Kamera zu dekonstruieren, was es bedeutet, kontemporäre Kunst zu schaffen und gleichzeitig die Herausforderung, sie zu lehren. Kurz bevor wir meinen, Wesentliches verstanden zu haben,
wird meisterhaft auf eine neue Situation geschnitten und der Zuschauer gezwungen, seine eigene Position zu hinterfragen. Liefert Art Talent Show eine vernichtende Absage an die junge Generation? Oder zeigt er uns deutlich auf, was es für eine Kunst ist, Kunst zu schaffen? (Thomas Slatter / HFF München)
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Ruäch
R: Andreas Müller, Simon Guy Fässler, Schweiz 2023 | DOK.deutsch
Was ist ein Ruäch? Einer, der nicht jenisch ist, definiert Protagonistin Lisbeth ganz einfach. Das sei auch nicht abwertend gemeint, versichert sie. Aber, wie man im Film immer wieder merkt, schwingt doch eine Prise Misstrauen mit. Die ist auch nicht unbegründet: Die Reise durch das jenische Europa führt ihn immer wieder zu kettenrauchenden alten Frauen und Männern, die bei Akkordeonmusik oder am Lagerfeuer ihre Erinnerungen von Diskriminierung und Misshandlung
erzählen. Von Kindern, die von Behörden verschleppt wurden und von Ärzten, die sie zur Sterilisierung gedrängt haben. Das Filmteam Müller, Fessler und Bächtiger tritt in die Rolle des Ruäch, einem interessierten Außenseiter. Der Film versteckt ihre Anwesenheit nicht, öfter weisen Protagonisten auf ihren Status hin, oder weichen plötzlich doch aus, wenn sie das Gefühl haben, zu viel von ihrer Kultur preiszugeben. Ruäch dokumentiert die Lebenswelt eines Volkes, das sich sonst
bewusst Blick und Kamera entzieht. (Maria Krampfl / LMU München)
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Pianoforte
R: Jakub Piątek, Polen, Deutschland 2023 | DOK.music
Der Chopin-Wettbewerb in Warschau ist einer der größten und renommiertesten Klavierwettbewerbe der Welt. In ihm tritt die Weltspitze der aufstrebenden Pianisten gegeneinander an – wer gewinnt, hat den Grundstein seiner Solokarriere fest gelegt. Pianoforte portraitiert ein paar der jungen Musiker im Wettbewerb, zeigt, wie sie von Drill und Disziplin geprägt sind, wie sie mit dem immensen Stress umgehen. Es ist klar, dass es für die
Teilnehmer eine Chance ist, sich nach außen hin zu präsentieren, und doch wirken nur wenige von ihnen besonders selbstdarstellerisch. Ein riesiges Lob gilt der Montage und dem Ton. Die Schnitte zwischen den einzelnen Pianisten sind innerhalb der einzelnen Wettbewerbsstücke reibungslos, bei Stückwechseln wird auf die Harmonien geachtet, nie sind Ton und Bild asynchron. Ein Muss für Musikliebhaber. (Paula Ruppert)
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Umberto Eco – A Library of the World
R: Davide Ferrario, Italien 2022 | Dok.panorama
Eine private Bibliothek mit über 30.000 Büchern? Wer außer Umberto Eco errichtete eine so umfangreiche Sammlung? Davide Ferrario nimmt uns in Umberto Eco – A Library of the World mit auf die Reise durch das Labyrinth der Bibliothek des italienischen Universalgelehrten, berühmt für den Bestseller »Der Name der Rose«. Nach seinem Tod im Jahr 2016 ergänzen Interviews mit seiner Familie und Wegbegleitern die Archivaufnahmen. Resultat: ein
anschaulicher, pointierter Einblick in das geistige Leben von Eco. Wir erfahren: Seine Affinität zu Geschriebenem bestimmte sein lebenslängliches Schaffen, für ihn sind Bibliotheken Symbol und Realität des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit. Vor Staunen stumm folgt man dem Film in Ecos Welt der Bücher. (Ursula Wittenzeller / LMU München)
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Close to Vermeer
R: Suzanne Raes, NL 2023 | Dok.panorama
Was ist die Anziehungskraft von Vermeer (1632-1675)? Die aktuelle Ausstellung im Rijksmuseum in Amsterdam mit 28 von 37 Werken des niederländischen Barockmalers war binnen 3 Tagen für die gesamte Dauer ausverkauft. In Close to Vermeer, vermutlich eine Anspielung auf die animierte Online-Museums-Präsentation »Closer to Johannes Vermeer«, lädt
Suzanne Raes ein, den Kurator der Werkschau Gregor Weber bei den Vorbereitungen und der Beurteilung der Echtheit von Werken zu begleiten. Der Blick über die Schultern des Insiders eröffnet überraschende Perspektiven auf professionelle Museumsarbeit und das Schaffen des Malers, seinen virtuosen Umgang mit Nähe und Distanz, mit Innen- und Außenwelt. Eine faszinierende Annäherung an die Sphinx von Delft, den Meister des Lichts. (Ursula Wittenzeller / LMU München)
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The Visitors
R: Veronika Lišková, Slowakei, Tschechien, Norwegen 2022 | Best of Fests
Die Norwegisierung von Spitzbergen. Der Vertrag von Spitzbergen von 1920 stellt die Inselgruppe unter die Oberhoheit von Norwegen und erlaubt Angehörigen der Vertragsstaaten auf Svalbard, wie es auf norwegisch heißt, zu arbeiten. In The Visitors zieht die tschechische Anthropologin Zdenka mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in die ehemalige Bergarbeiterstadt Longyearbyen, um den gesellschaftlichen und klimatischen Wandel zu
erforschen. Veronika Lišková veranschaulicht mit Zdenka, was es bedeutet, in einem der nördlichsten bewohnten Orte als Nicht-Norwegerin zu leben. Mit einer Kette von Interviews hinterfragt sie die von der norwegischen Regierung verfolgte Politik gegenüber Ausländern in Longyearbyen, die sich deshalb zunehmend unerwünscht fühlen. (Ursula Wittenzeller / LMU München)
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Breaking Social
R: Fredrik Gertten, Schweden 2023 | DOK.panorama
Können wir uns die Reichen noch leisten? Fredrik Gerttens Breaking Social greift die großen Fragen des zeitgenössischen vage-linken Diskurses auf. Interviews mit Partnern von Großbritannien über Malta bis Chile geben Auskunft über das Kernthema der Korruption. Deutlich wird, dass die Korruption nicht nur isoliert in einzelnen Gesellschaften vorliegt, sondern als globales System zerstörerisch wirkt. Die zentrale These: »The moment people are becoming
angry, that’s the moment things are actually already improving.« Street Art und Proteste in Chile, getaucht in warmes Licht und untermalt von emotionaler Musik, sollen optimistisch stimmen. Aber: Die These stimmt nur bedingt. Das Inkrafttreten einer neuen Verfassung in Chile, präsentiert als einer der Höhepunkte des Films, wurde 2022 abgelehnt und bleibt ungewiss. Wenn Künstler eine Installation propagieren, die einen Baum auf ein Betongebäude projiziert, mit einem Slogan
»Lass Hoffnung wachsen«, kommt man nicht umhin, sich zu fragen: Woraus denn eigentlich? Angesichts der globalen Skala der Korruption wird man durchaus wütend – für Hoffnung aber liefert Breaking Social wenig fruchtbaren Nährboden.. (Maria Krampfl / LMU München)
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She Chef
R: Melanie Liebheit, Gereon Wetzel, DE, AT 2022 | Münchner Premieren
Die Frau gehört in die Küche! In She Chef jedoch geht es nicht um jedermanns Küche, sondern um die Sterneküchen dieser Welt. Und dort sind die ranghöchsten Köche meist tatsächlich Männer. Der Film folgt Protagonistin Agnes durch Praktika in verschiedensten Küchen, die sie nach ihrer Ausbildung absolviert, um Erfahrung zu sammeln. Dabei wirken zu Anfang manche der Gespräche über Frauen in der Sterneküche etwas gewollt, auch der Umgangston in den Küchen scheint fast zu freundlich; doch der Blick hinter die Kulissen dieser eigenen Art der Gastronomie ist ohne Zweifel lohnenswert. (Paula Ruppert)
Nach Ausbildung im Steirereck in Wien, einem der besten Restaurants Österreichs, und Prämierung als Kochweltmeisterin sucht in She Chef die 25-jährige Agnes ihren eigenen Weg in der Welt der männlichen Starköche. Erste Stationen sind die Michelin Restaurants Vendôme in Bergisch Gladbach, unter Coronabeschränkungen das Disfrutar in Barcelona mit molekularer
Meeresfrüchteküche und das Koks auf den Färöer Inseln mit radikaler Regionalität. Dabei lernen sie und das
Publikum Küche, Kochkunst und Arbeitsbedingungen kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Melanie Liebheit und Gereon Wetzel verlocken zudem mit außergewöhnlichen Speisen und Einblicken hinter die Kulissen. Sie vermitteln Licht und Schatten des Wegs von Agnes und ihrer Selbstfindung. Angekommen überrascht das Unerwartete. (Ursula Wittenzeller / LMU
München)
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And the King Said, What a Fantastic Machine
R: Axel Danielson, Maximilien Van Aertryck, Schweden/Dänemark 2023 | DOK.focus POWER OF MEDIA?
Der Filmtitel zitiert King Edward VII., der seine Coronation schon 1902 filmisch verherrlicht sah. Will sagen: Der Film stabilisiert Herrschaft! Mit Postman (Wir amüsieren uns zu Tode) gedacht: Lesen demokratisiert; glotzen verdummt. Und doch vertrauen die beiden schwedischen Regisseure Axel Danielson und Maximilien Van Aertryck darauf, den jugendlichen Zuschauern (die Berlinale zeigte den Film in der Kinder- und Jugendsektion) image literacy zu vermitteln, sie zu
selbstbestimmten Navigatoren auf dem Ozean der Bilder zu erziehen: die kluge Schnittdramaturgie des Film-Editors Mikel Cee Karlson (Triangle of Sadness) betont das Verblödungspotential unserer narzisstischen Sucht nach Selbstbespiegelung, tut das aber auf vergnügliche Weise. Das Ende dokumentiert ein Kunsthappening: eine dieser fantastischen Maschinen wird aus einem Flugzeug geworfen und filmt ihren eigenen Absturz. Diese zitierte Selbstabschaffungsgeste des Mediums
unterläuft die Machart des Films. Die Filmkritik dankt es ihm größtenteils. Have fun! (Martin Wagner / LMU München)
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Goldhammer
R: André Krummel, DE 2023 | DOK.focus POWER OF MEDIA?
Schwul, konvertierter Jude und Rechtspopulist. Marcel Goldhammer ist zwar der Protagonist dieses Films und doch hat das Publikum keine Ahnung, wer da eigentlich vor ihm sitzt. Und das bleibt auch das Rätsel des Films. Meist inszeniert sich Marcel selbst: Wenn er weint, weil er seine Oma nie am Grab gesehen hat, dann wieder gekünsteltes Lachen. Die dokumentarische Arbeit hat den schillernden Prozess festgehalten. Eigentlich wollte der Film die Geschichte eines
schwulen Teenagers vom Land erzählen, der nach Berlin abhaut, um Schauspieler zu werden. Der aber wollte nach dem »Tatort« lieber als Escort arbeiten. Videos zeigen Marcel bei der Arbeit, beim Koksen mit der KaDeWe-Karte und mit einem »Heil Merkel« vor dem Deutschen Bundestag. Man wird nie erfahren, wer Marcel Goldhammer wirklich ist – und genau diese Leerstelle macht den Film so vielschichtig. (Amélie Engelmann / LMU München)
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