38. DOK.fest München 2023
Jute statt Plastik |
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Meisterwerk dokumentarischen Erzählens | ||
(Foto: DOK.fest München | Nishtha Jain) |
Von Hermann Barth
Jute-Symphonie. Einfach alles über die Jute-Industrie und die Menschen, die hier ihren kargen Lebensunterhalt verdienen, erfährt man in Nishtha Jains The Golden Thread. Das ist, zunächst, großes, bildstarkes, hochmusikalisches Kino, wenn es mit den Arbeiterinnen und Arbeitern der Frühschicht hineingeht in die riesigen Werkshallen der Hukamchand-Jute-Mühle in Westbengalen.
Hier werden die in Ballen gelieferten Fasern in Maschinen, die noch aus der britischen Kolonialzeit stammen, gebrochen, dort gesponnen, in einer anderen Halle laufen die Webstühle.
Später geht es hinaus auf die Felder, wo Corchorus capsularis, der indische Flachs, angebaut wird. Mühsamste Handarbeit beim Schneiden der zwei, drei Meter hohen Stengel, die schließlich in großen Bündeln zum Abtransport bereit liegen.
Was aussieht wie eine Floßlände, wo die Bündel ins Wasser kommen, sind »Röste«-Teiche. Nach einigen Tagen, von Steinen beschwert, verwandeln sich die äußeren Fasern der grünen Stengel unter Wasser zu Bast, der von Hand gelöst, gewaschen und an Gerüsten aufgehängt und getrocknet wird.
Über 20.000 Menschen leben in Abhängigkeit von einer einzigen Fabrik, dreimal am Tag verkünden die Sirenen den Wechsel der Schicht. Ein alter Arbeiter erzählt, wie vor drei, vier Jahrzehnten die Anwerbung funktionierte, in der Pause geht es in einer Männerrunde um mangelnde Versorgung im Krankheitsfall, das karge Essen, in einer Frauenrunde um Ausbeutung und die unsichere Zukunft, wenn nun eine Fabrik nach der anderen schließt.
Nishtha Jains Film führt dann hinaus, in die Umgebung, zieht immer weitere Kreise. Einer der Arbeiter singt in seiner Freizeit beim Karaoke von unerfüllter Liebe. Jungen und Mädchen, fröhliche Kinder, denen man ein besseres Leben wünscht, spielen auf dem Marktplatz – und wir erfahren, dass die Alten nur bleiben, weil es für sie keine andere Arbeit gibt, die Jungen aber versuchen, der Abhängigkeit zu entfliehen. Sofern sie es sich leisten können – denn mit dem wenigen Geld im Monat lässt sich keine Familie gründen. So bleibt, als Alternative, mit sicherer Festanstellung und ausreichendem Gehalt, für die jungen Männer nur die Armee.
Andererseits gibt es auch Aufrufe zur Solidarität, Wahlversprechen, Gewerkschaftsproteste – und die indische Kasten- und Klassengesellschaft: »Wer denkt schon ans soziale Ganze, wenn es nur noch ums persönliche Wohlergehen geht?« beklagt einer der Arbeiter. Auch wenn Göttin Lakshmi beim Diwali-Lichterfest festlich Einzug in die geschmückten Werkshallen hält, und für Harmonie, Glück und Reichtum sorgen soll – es ist nicht gut bestellt um die Zukunft der Jute-Mühlen und derer, die von und mit ihnen leben.
Dabei ist The Golden Thread eine bewunderswert präzise Arbeit. Mit eindrücklicher Bildsprache, einem besonderen, genau gearbeiteten Soundtrack, einer klugen Montage und spannenden Dramaturgie. Besonders beeindruckend und bewegend: Auch, wenn hier jede*r Einzelne notwendig immer beispielhaft für die vielen anderen steht – es ist stets spürbar, die Menschen vor und hinter der Kamera begegnen einander auf Augenhöhe.
Nishtha Jain, die sich schon bei ihrem Debüt City of Photos (2004) für die Wünsche und Sehnsüchte der Nicht-Privilegierten, das Leben der Anderen interessierte, die in Lakshmi and Me (2007) das prekäre Leben ihres Hausmädchens erkundete und in Gulabi Gang (2012) den bewunderswerten Kampf der Pink Saris und ihrer charismatischen Anführerin Sampat Pal Devi für die Rechte der Frauen begleitete, gelingt mit The Golden Thread ein Meisterwerk dokumentarischen Erzählens.