04.05.2023

Hybride Formen allerorten

Stop filming us but listen
Stop Filming Us but Listen: Überraschender Ansatz einer nicht mehr postkolonialen Perspektive
(Foto: 20. Dokumentarfilmwoche Hamburg)

Die 20. Dokumentarfilmwoche Hamburg präsentierte sieben Tage lang den State of the Art des internationalen Dokumentarfilmschaffens

Von Eckhard Haschen

»Ein Programm, das dazu einlädt, über die Welt nach­zu­denken, empa­thisch mit dem Unbe­kannten zu sein und sich auf neue Perspek­tiven einzu­lassen«, diesen Anspruch hatte sich
das 13-köpfige Kollektiv der Doku­men­tar­film­woche Hamburg für seine Jubiläums­aus­gabe selbst gesetzt. Und nach Ansicht des über­wie­genden Teils der dies­jäh­rigen Auswahl lässt sich konsta­tieren: Es wurde nicht zu viel verspro­chen.

Dass es überhaupt möglich war, einen so großen Anteil der gezeigten Film auf der Leinwand zu sehen, lag daran, dass das Festival – auch um seinem Namen endlich einmal wieder gerecht zu werden – diesmal um zwei Tage verlän­gert wurde und so gleichsam von Kino zu Kino wanderte. Was aber nicht heißt, dass es kein Zentrum gab, Dieses befand sich in der fux eG, einer ehema­ligen Kaserne, wo es neben täglichen Werk­statt­ge­sprächen, ergän­zenden Filmen in einem kleinen Kino und dem Festival-Club die faszi­nie­rende Ausstel­lung »Die fünfte Wand – Navina Sudaram: Innen­an­sichten einer Außen­sei­terin oder Außen­an­sichten eine Innen­sei­terin« zu sehen gab. Hervor­ge­gangen aus dem gleich­na­migen Online-Archiv haben die Kura­to­rinnen Mareike Bernien und Merle Kröger hierfür Filme, Repor­tagen, Mode­ra­tionen, Texte, Briefe und Fotos der vor einem Jahr gestor­benen Filme­ma­cherin und Redak­teurin aus 40 Jahren Tätigkeit für das Fernsehen zusam­men­ge­stellt und muster­gültig präsen­tiert.

Gibt es hier immerhin schon zuweilen über­ra­schende Ansätze einer nicht mehr post­ko­lo­nialen Perspek­tive, so wird diese eigent­lich erst in Filmen wie Stop Filming Us but Listen von Berna­dette Vivuya und Kagoma Ya Twahirwa voll eingelöst. Das kongo­le­si­sche Regie-Duo über­schreibt und rekon­tex­tua­li­siert hier nämlich den Film Stop Filming Us, in dem der nieder­län­di­sche Regisseur Boris Postema vor zwei Jahren die lokale Kunst und Filmszene porträ­tierte und dabei den Blick eines weißen Europäers nie ganz ablegen konnte.

So vorur­teils­frei wie überhaupt nur möglich blickt seit Jahr­zehnten der schon lange in Schweden lebende Peter Nestler auf die Welt und die Menschen. Folglich auch in seinen zwei neuesten Arbeiten Unrecht und Wider­stand sowie Der offene Blick – Künst­le­rinnen und Künstler der Sinti und Roma, die so etwas wie Zwil­lings­filme sind, und in denen sich Nestler auf meinet­wegen klas­si­sche Weise dem Leben von Sinti und Roma in Deutsch­land nähert, aber sich in keinem Moment über die Menschen erhebt, die bis heute kaum als gleich­be­rech­tigte Bürger anerkannt werden.

Vergleichs­weise klassisch kommt auch noch Für die Vielen – Die Arbei­ter­kammer Wien von Constantin Wulff daher. Ohne beleh­renden Kommentar und dabei nicht selten an die Filme von Frederick Wiseman erinnernd, porträ­tiert Wulff eine Insti­tu­tion in all ihren Facetten. Einen durch­ge­henden Kommentar hat zwar Nuclear Family von Erin und Travis Wilkerson (letzterem widmete das Festival 2018 eine Retro­spek­tive), – ein Roadtrip zu den Orten ameri­ka­ni­scher Atom­bom­ben­ver­suche – doch ist der so persön­lich gehalten, dass man sich nie belehrt fühlt. Dem Fiktiven, das den Film­bil­dern ja schon ihrer Natur nach stets einge­schrieben ist, nähert sich Jan Peters‘ Tage­buch­film Eigent­lich eigent­lich Januar, der als Eröff­nungs­film gezeigt wurde. Hier kann man den vorgeb­lich aus Super-8 gedrehten Bildern genauso wenig trauen wie dem wunderbar mäan­derndem Kommentar. In The Plains von David Easteal, haben die von der Rückbank gefilmten Auto­fahren eines Anwalts aus Melbourne sicher­lich statt­ge­funden, aber nicht erst, wenn man weiß, dass der Kollege, den er gele­gent­lich mitnimmt, der Regisseur des Films ist, merkt man, dass hier so einiges gescriptet wurde. Aber dies eben so gut, dass man es sich gern drei Stunden lang anschaut.