04.05.2023

Etwas Besseres als den Tod

Motherland
Gewann den Preis der Fipresci: Motherland von Alexander Mihalkovich, Hanna Badziaka
(Foto: GoEast | Alexander Mihalkovich, Hanna Badziaka)

Das 23. goEast für den mittel- und osteuropäischen Film zeigte in einem Kaleidoskop die Vielfalt und den Reichtum der Kultur und des Kinos in einer immensen Region

Von Paula Ruppert

Das goEast-Festival des mittel- und osteu­ro­päi­schen Films in Wiesbaden versteht sich seit jeher als Ort des Dialogs zwischen Ost und West. Dass dieser Dialog zunehmend schwierig, aber wichtiger denn je ist, dürfte wohl unum­stritten sein. Die dies­jäh­rige, 23. Ausgabe des Festivals war geprägt von der unge­bro­chenen Soli­da­rität mit der Ukraine, schaffte aber gleich­zeitig den Spagat zu einem überaus viel­fäl­tigen und breit gefächerten Programm. Und wer es neben der Qual der Wahl der Filme noch schaffte, einzelne Gespräche des Sympo­siums zu besuchen, das dieses Jahr unter dem Motto »Deco­lo­ni­zing the (Post-)Soviet Screen« stand, erhielt äußerst spannende, teils auch kritische Einblicke in die Film­in­dus­trie und Kino­land­schaft verschie­denster post­so­wje­ti­scher Länder früher und heute.

Auch wenn es unmöglich war, jeden Film dieses so viel­sei­tigen Programms zu sehen, war eine Sache recht schnell klar: jede einzelne Kino­vor­stel­lung eröffnet neue Welten, neue Eindrücke, neue Einblicke. Ein paar dieser Einblicke stellen die nach­fol­genden Impres­sionen des Festivals vor.

Skizzen wenig erzählter Geschichten

Sieben völlig unter­schied­liche Kurzfilme aus Regionen post­so­wje­ti­scher Länder, die von ethni­schen Minder­heiten bewohnt sind, konkur­rierten um den dies­jäh­rigen RheinMain Kurz­film­preis. Dabei gibt es doku­men­ta­ri­sche und fiktio­nale Beiträge, die unter­schied­lichste Aspekte beleuchten: zum Beispiel den verschwin­denden Aralsee und wie er die Leute zurück­lässt (Aralkum – Lobende Erwähnung), verschie­dene Ethnien in Kirgi­si­stan (Neither on the Mountain nor in the Field) oder das Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrem Sohn, der es in der konser­va­tiven Dorf­ge­sell­schaft schwer hat (Tale). Diese Filme mögen viel­leicht keine Meis­ter­werke sein, doch sie zeigen absolut das Potential der Filme­ma­cher. Das Konzept des ukrai­ni­schen Khayt (R: Sashko Protyah), einem in der Zukunft ange­sie­delten vermeint­li­chen Doku­men­tar­film, ist wohl Geschmacks­sache; Vladlena Sandus
No Nation Without Culture (Gewinner), der auto­bio­gra­phisch beein­flusst den Tsche­tsche­ni­en­krieg behandelt, bleibt vor allem wegen der überaus schlechten Tontechnik im Gedächtnis. Besonders positiv hervor taten sich jedoch u.a. wegen seiner Figuren Aital des Russen Vladimir Munkuev, der Betrug, Wirkung und Glaube an Scha­ma­nentum thema­ti­siert, sowie der russische Exul­ta­tion von Arslan Manasian, der vor allem durch seine hervor­ra­gende Kamera besticht.

Düster bis groteske Fiktion

Unun­ter­bro­chener Weih­nachts­stress gepaart mit Elementen des Psycho­thril­lers, kammer­spiel­artig. Von Anfang an ist klar, dass etwas nicht stimmt. The Uncle des Duos David Kapac und Andrija Mardešić lässt sich schwer einem Genre zuordnen, ist jedoch wahr­schein­lich eine Mischung aus allem, die stre­cken­weise grotesk erscheint. Man fühlt sich unwei­ger­lich an Und täglich grüßt das Murmel­tier erinnert, aller­dings mit einigen Längen und ein paar nicht ganz hinein­pas­senden Episoden. Das Repe­ti­tive der Handlung ist hier völlig von den Figuren selbst geschaffen, wobei nie geklärt wird, warum. Es ist außerdem das Portrait einer Familie, deren Verhält­nisse unter­ein­ander nicht allzu klar sind. Zudem ist alles etwas verwir­rend, und man hat das Gefühl, der Film will zu viel, verspielt dadurch sein Potential – und lässt den Zuschauer eher unzu­frieden zurück.

Weniger repetitiv ist La Palisiada des Ukrainers Philip Sotny­chenko. Auch hier gibt es Wieder­ho­lungen, aber auf eine völlig andere Art und Weise. Den Titel würden wohl die wenigsten ihrem Bauch­ge­fühl nach einem ukrai­ni­schen Film zuordnen, und so rätsel­haft wie der Klang dieses Wortes und das Wort selbst ist auch der ganze Film. Es geht um die Todes­strafe, um 1996 sowie das Hier und Jetzt, um Schuld und Schuld­zu­wei­sungen, um die Verflech­tungen von Geschichte und Schick­salen. Die Verbin­dungen und Verflech­tungen sind oft undurch­sichtig, so verschleiert wie manche Kame­ra­ein­stel­lung zu Beginn des Films. Die Kamera spielt mehrere Rollen: Mal ist ihr Zeugnis in der Handlung wichtig, mal scheint sie wirklich zu sehen und eine handelnde Figur zu sein, mal ist sie doch außen­ste­hend beob­ach­tend. Teils fast episo­den­haft lässt La Palisiada viele Inter­pre­ta­tionen zu – eindeutig und klar in seiner Aussage ist dieser Film nicht, vielmehr etwas verwir­rend und auch unbe­frie­di­gend.

Doku­men­ta­tionen von Krieg, Miss­ständen, der Gesell­schaft, dem Leben …

Auch wenn sie in einem Kriegs­ge­biet aufwachsen, haben junge Leute Träume und können sie verwirk­li­chen, wenn sie nur fest genug daran glauben und sich für ihre Wünsche einsetzen. Der Doku­men­tar­film We will not fade away der Ukrai­nierin Alisa Kovalenko (CEEOL Preis für den besten Doku­men­tar­film) zeigt das Leben einer Gruppe Jugend­li­cher im Donbass, deren Alltag der Krieg ist und die davon träumen, die Welt zu sehen. Der Film ist dabei immer nah bei seinen Prot­ago­nisten und deren Leben, in dem der Krieg unun­ter­bro­chen im Hinter­grund ist. Jede und jeder hat ein eigenes Ziel sowie den Traum, in den Himalaya zu fahren. Der Film ist erstaun­lich hell und freund­lich gestaltet, was jedoch nicht verhin­dert, dass die Thematik und die Geschichten dieser jungen Leute tief berühren. Zwischen­drin verliert er sich ein bisschen und zieht sich zwar; er schafft jedoch die Erin­ne­rung an einen Ort und eine Zeit, die es nicht mehr gibt.

Etwas anders an die Kriegs­the­matik geht Alexander Kvatashidze in See you in Chechnya heran. Kann man sich je vom Krieg lossagen, wenn man ihn einmal erlebt hat? Diese Frage steht über diesem Doku­men­tar­film, der mit Video sowie vielen Photo­gra­phien von den Eindrü­cken und Erleb­nissen des Regis­seurs im Tsche­tsche­ni­en­krieg, aber auch von Krieg und seinen Folgen generell erzählt. Wie kommt man dazu, Fotos von einem Krieg zu machen? Was macht es mit einem, wenn man Kriegs­re­porter werden will? Was passiert, wenn man tatsäch­lich Kriegs­re­porter wird? Die Antwort darauf versucht der Film zu finden. Die gezeigten Bilder sind nah an den Menschen dran, eindrück­lich, brutal, gehen unter die Haut. Gerade zu Beginn ist der Film stark. Auch wenn er nach hinten hin einige Längen entwi­ckelt, ist er definitiv sehens­wert. Die Fragen, die er stellt, sind gerade in einer Zeit, in der alles mit dem Handy doku­men­tiert wird, wichtig; die Antworten, die er gibt, regen zum Nach­denken an.

Miss­stände in der Armee, die bis zum Tod von Soldaten führen können und Proteste der Bevöl­ke­rung gegen die offi­zi­ellen Wahl­er­geb­nisse. Das sind die zwei Eckpfeiler des Doku­men­tar­films des Regieduos Alexander Mihal­ko­vich und Hanna Badziaka Mother­land (Preis der Inter­na­tio­nalen Film­kritik Fipresci, Doku­men­tar­film), der ein Portrait der bela­rus­si­schen Gesell­schaft zu zeichnen versucht. Dabei nimmt der Film drei verschie­dene Perspek­tiven ein: Die einer Mutter, die nicht glaubt, dass ihr Sohn in der Armee Selbst­mord begangen hat und die Umstände aufklären will; die eines jungen Mannes, der seinen Wehr­dienst antritt sowie dessen Freun­des­gruppe; und die eines zunächst unbe­kannten Soldaten in Form von aus dem Off gelesenen Briefen an seine Mutter. Es entsteht das eindrück­liche, beklem­mende Bild eines Landes, dessen Struk­turen von Macht­be­ses­sen­heit und Willkür durch­drungen sind, und zeigt, was das mit den Menschen dieses Landes tut.

… und davon, sich nicht unter­kriegen zu lassen

Man möchte einfach nur sein Leben leben – aber die Mine, die fast alle Arbeits­plätze stellt, soll verkauft werden, die Wohnung ist angeblich immer noch nicht abbezahlt; alles wird zunehmend schwerer für die Menschen; auch die Drachen werden wegen der zuneh­menden Schad­stoff­be­las­tung sowie der Abholzung immer weniger. Was viel­leicht nach Tragi­komödie mit über­na­tür­li­chen Elementen klingt, ist Flotacija von Alesandra Tatić und Eluned Zoë Aiano, ein Doku­men­tar­film über eine kleine Berg­bau­stadt und deren Bewohner im Osten Serbiens. Die Kamera und die Personen dahinter sind ein Teil des Gefüges von Leuten; es entsteht nie der Eindruck, sie würden aufdring­lich sein. Angenehm unauf­ge­regt und nicht reiße­risch zeigt Flotacija absolute Originale an Menschen, die allen Widrig­keiten zum Trotz ihren Lebensmut nicht verlieren und sich nicht unter­kriegen lassen. Unbedingt sehens­wert.

Beein­dru­ckende visuelle Welten und gelungene Geschichten

Wie der Titel Goliath nahelegt, geht es um klein und klug gegen mächtig und stark. Adilkhan Yerzha­novs Inter­pre­ta­tion dieser alten Geschichte spielt im kasa­chi­schen Nichts; ein Witwer möchte den Mord an seiner Frau durch den Gangs­ter­boss, der alles kontrol­liert, sühnen. Die Rache ist die Moti­va­tion des Prot­ago­nisten in seinem Kampf gegen einen Mann, den man lieber nicht gegen sich haben möchte. Der Zuschauer ist sich dabei bis zum Schluss nicht sicher, auf welcher Seite dieser Prot­ago­nist, den man zu Beginn als das Pendant für David iden­ti­fi­ziert hat, tatsäch­lich steht. Die charak­ter­liche Tiefe dieser undurch­sich­tigen Figur und die Aufnahmen der weiten Leere, die die Abge­schie­den­heit dieser Welt mit eigenen Regeln unter­streicht, machen Goliath zu einem absolut lohnens­werten filmi­schen Werk.

Es ist eine Reise in eine andere Zeit und eine andere Welt, die man mit Nenad Pavlovićs Trail of the Beast unter­nimmt: man findet sich im Belgrad des Jahres 1979 wieder. Ein Jour­na­list soll an einer Geschichte arbeiten, die ihn so gar nicht inter­es­siert – und er stolpert unver­se­hens und etwas naiv in Mord und Geheim­dienst­an­ge­le­gen­heiten hinein. Der Film ist nicht nur ein Krimi mit Thril­ler­ele­menten; es geht auch über viel mehr als über die Machen­schaften und Macht­spiel­chen des Geheim­dienstes. Es ist auch eine Komödie, die versucht, die jugo­sla­wi­sche Gesell­schaft sowie Funktions- und Denkweise wenige Monate vor Titos Tod abzu­bilden. Und es ist einfach ein in sich runder Film, der schön anzusehen ist und in dem alles stimmig ist, von Drehbuch und Kostüm über die Musik hin zur Farb­ge­bung. Es macht Lust auf mehr.

Psyche­de­li­sche Meis­ter­werke

In eine teils sehr farben­frohe Welt voller gern auch asso­zia­tiver Bilder und Formen entführte das erste Pannonia-Kurz­film­pro­gramm. Die Band­breite der sechs unga­ri­schen Anima­ti­ons­filme reichte von einem circa zwei­minü­tigen tragi­ko­mi­schen Stück über einen Häftling bis hin zu einer nur etwas über zehn­minü­tigen, doch sehr eindrück­li­chen Schnell­fas­sung von Krieg und Frieden vor dem Hinter­grund von Tschai­kovs­kijs 1812-Ouverture. Jeden Film zeichnet eine origi­nelle Art aus, ebenso origi­nelle Geschichten zu erzählen. Das persön­liche Highlight: der unga­ri­sche Ten Grams of Immor­ta­lity von Gyula Macskássy und György Várnai aus dem Jahr 1966, der anhand eines kleinen, geflü­gelten Pferdes davon erzählt, wie eine Abwei­chung von der Norm dazu führen kann, dass man nirgends dazu­gehört – und dass genau diese Norm­ab­wei­chung für jemand anderen viel­leicht der ersehnte Ausweg sein kann.