Etwas Besseres als den Tod |
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Gewann den Preis der Fipresci: Motherland von Alexander Mihalkovich, Hanna Badziaka | ||
(Foto: GoEast | Alexander Mihalkovich, Hanna Badziaka) |
Von Paula Ruppert
Das goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden versteht sich seit jeher als Ort des Dialogs zwischen Ost und West. Dass dieser Dialog zunehmend schwierig, aber wichtiger denn je ist, dürfte wohl unumstritten sein. Die diesjährige, 23. Ausgabe des Festivals war geprägt von der ungebrochenen Solidarität mit der Ukraine, schaffte aber gleichzeitig den Spagat zu einem überaus vielfältigen und breit gefächerten Programm. Und wer es neben der Qual der Wahl der Filme noch schaffte, einzelne Gespräche des Symposiums zu besuchen, das dieses Jahr unter dem Motto »Decolonizing the (Post-)Soviet Screen« stand, erhielt äußerst spannende, teils auch kritische Einblicke in die Filmindustrie und Kinolandschaft verschiedenster postsowjetischer Länder früher und heute.
Auch wenn es unmöglich war, jeden Film dieses so vielseitigen Programms zu sehen, war eine Sache recht schnell klar: jede einzelne Kinovorstellung eröffnet neue Welten, neue Eindrücke, neue Einblicke. Ein paar dieser Einblicke stellen die nachfolgenden Impressionen des Festivals vor.
Sieben völlig unterschiedliche Kurzfilme aus Regionen postsowjetischer Länder, die von ethnischen Minderheiten bewohnt sind, konkurrierten um den diesjährigen RheinMain Kurzfilmpreis. Dabei gibt es dokumentarische und fiktionale Beiträge, die unterschiedlichste Aspekte beleuchten: zum Beispiel den verschwindenden Aralsee und wie er die Leute zurücklässt (Aralkum – Lobende Erwähnung), verschiedene Ethnien in Kirgisistan (Neither on the Mountain nor in the Field) oder das Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrem Sohn, der es in der konservativen Dorfgesellschaft schwer hat (Tale). Diese Filme mögen vielleicht keine Meisterwerke sein, doch sie zeigen absolut das Potential der Filmemacher. Das Konzept des ukrainischen Khayt (R: Sashko Protyah), einem in der Zukunft angesiedelten vermeintlichen Dokumentarfilm, ist wohl
Geschmackssache; Vladlena Sandus
No Nation Without Culture (Gewinner), der autobiographisch beeinflusst den Tschetschenienkrieg behandelt, bleibt vor allem wegen der überaus schlechten Tontechnik im Gedächtnis. Besonders positiv hervor taten sich jedoch u.a. wegen seiner Figuren Aital des Russen Vladimir Munkuev, der Betrug, Wirkung und Glaube an Schamanentum thematisiert, sowie der russische Exultation von Arslan Manasian, der vor allem durch seine hervorragende Kamera besticht.
Ununterbrochener Weihnachtsstress gepaart mit Elementen des Psychothrillers, kammerspielartig. Von Anfang an ist klar, dass etwas nicht stimmt. The Uncle des Duos David Kapac und Andrija Mardešić lässt sich schwer einem Genre zuordnen, ist jedoch wahrscheinlich eine Mischung aus allem, die streckenweise grotesk erscheint. Man fühlt sich unweigerlich an Und täglich grüßt das Murmeltier erinnert, allerdings mit einigen Längen und ein paar nicht ganz hineinpassenden Episoden. Das Repetitive der Handlung ist hier völlig von den Figuren selbst geschaffen, wobei nie geklärt wird, warum. Es ist außerdem das Portrait einer Familie, deren Verhältnisse untereinander nicht allzu klar sind. Zudem ist alles etwas verwirrend, und man hat das Gefühl, der Film will zu viel, verspielt dadurch sein Potential – und lässt den Zuschauer eher unzufrieden zurück.
Weniger repetitiv ist La Palisiada des Ukrainers Philip Sotnychenko. Auch hier gibt es Wiederholungen, aber auf eine völlig andere Art und Weise. Den Titel würden wohl die wenigsten ihrem Bauchgefühl nach einem ukrainischen Film zuordnen, und so rätselhaft wie der Klang dieses Wortes und das Wort selbst ist auch der ganze Film. Es geht um die Todesstrafe, um 1996 sowie das Hier und Jetzt, um Schuld und Schuldzuweisungen, um die Verflechtungen von Geschichte und Schicksalen. Die Verbindungen und Verflechtungen sind oft undurchsichtig, so verschleiert wie manche Kameraeinstellung zu Beginn des Films. Die Kamera spielt mehrere Rollen: Mal ist ihr Zeugnis in der Handlung wichtig, mal scheint sie wirklich zu sehen und eine handelnde Figur zu sein, mal ist sie doch außenstehend beobachtend. Teils fast episodenhaft lässt La Palisiada viele Interpretationen zu – eindeutig und klar in seiner Aussage ist dieser Film nicht, vielmehr etwas verwirrend und auch unbefriedigend.
Auch wenn sie in einem Kriegsgebiet aufwachsen, haben junge Leute Träume und können sie verwirklichen, wenn sie nur fest genug daran glauben und sich für ihre Wünsche einsetzen. Der Dokumentarfilm We will not fade away der Ukrainierin Alisa Kovalenko (CEEOL Preis für den besten Dokumentarfilm) zeigt das Leben einer Gruppe Jugendlicher im Donbass, deren Alltag der Krieg ist und die davon träumen, die Welt zu sehen. Der Film ist dabei immer nah bei seinen Protagonisten und deren Leben, in dem der Krieg ununterbrochen im Hintergrund ist. Jede und jeder hat ein eigenes Ziel sowie den Traum, in den Himalaya zu fahren. Der Film ist erstaunlich hell und freundlich gestaltet, was jedoch nicht verhindert, dass die Thematik und die Geschichten dieser jungen Leute tief berühren. Zwischendrin verliert er sich ein bisschen und zieht sich zwar; er schafft jedoch die Erinnerung an einen Ort und eine Zeit, die es nicht mehr gibt.
Etwas anders an die Kriegsthematik geht Alexander Kvatashidze in See you in Chechnya heran. Kann man sich je vom Krieg lossagen, wenn man ihn einmal erlebt hat? Diese Frage steht über diesem Dokumentarfilm, der mit Video sowie vielen Photographien von den Eindrücken und Erlebnissen des Regisseurs im Tschetschenienkrieg, aber auch von Krieg und seinen Folgen generell erzählt. Wie kommt man dazu, Fotos von einem Krieg zu machen? Was macht es mit einem, wenn man Kriegsreporter werden will? Was passiert, wenn man tatsächlich Kriegsreporter wird? Die Antwort darauf versucht der Film zu finden. Die gezeigten Bilder sind nah an den Menschen dran, eindrücklich, brutal, gehen unter die Haut. Gerade zu Beginn ist der Film stark. Auch wenn er nach hinten hin einige Längen entwickelt, ist er definitiv sehenswert. Die Fragen, die er stellt, sind gerade in einer Zeit, in der alles mit dem Handy dokumentiert wird, wichtig; die Antworten, die er gibt, regen zum Nachdenken an.
Missstände in der Armee, die bis zum Tod von Soldaten führen können und Proteste der Bevölkerung gegen die offiziellen Wahlergebnisse. Das sind die zwei Eckpfeiler des Dokumentarfilms des Regieduos Alexander Mihalkovich und Hanna Badziaka Motherland (Preis der Internationalen Filmkritik Fipresci, Dokumentarfilm), der ein Portrait der belarussischen Gesellschaft zu zeichnen versucht. Dabei nimmt der Film drei verschiedene Perspektiven ein: Die einer Mutter, die nicht glaubt, dass ihr Sohn in der Armee Selbstmord begangen hat und die Umstände aufklären will; die eines jungen Mannes, der seinen Wehrdienst antritt sowie dessen Freundesgruppe; und die eines zunächst unbekannten Soldaten in Form von aus dem Off gelesenen Briefen an seine Mutter. Es entsteht das eindrückliche, beklemmende Bild eines Landes, dessen Strukturen von Machtbesessenheit und Willkür durchdrungen sind, und zeigt, was das mit den Menschen dieses Landes tut.
Man möchte einfach nur sein Leben leben – aber die Mine, die fast alle Arbeitsplätze stellt, soll verkauft werden, die Wohnung ist angeblich immer noch nicht abbezahlt; alles wird zunehmend schwerer für die Menschen; auch die Drachen werden wegen der zunehmenden Schadstoffbelastung sowie der Abholzung immer weniger. Was vielleicht nach Tragikomödie mit übernatürlichen Elementen klingt, ist Flotacija von Alesandra Tatić und Eluned Zoë Aiano, ein Dokumentarfilm über eine kleine Bergbaustadt und deren Bewohner im Osten Serbiens. Die Kamera und die Personen dahinter sind ein Teil des Gefüges von Leuten; es entsteht nie der Eindruck, sie würden aufdringlich sein. Angenehm unaufgeregt und nicht reißerisch zeigt Flotacija absolute Originale an Menschen, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Lebensmut nicht verlieren und sich nicht unterkriegen lassen. Unbedingt sehenswert.
Wie der Titel Goliath nahelegt, geht es um klein und klug gegen mächtig und stark. Adilkhan Yerzhanovs Interpretation dieser alten Geschichte spielt im kasachischen Nichts; ein Witwer möchte den Mord an seiner Frau durch den Gangsterboss, der alles kontrolliert, sühnen. Die Rache ist die Motivation des Protagonisten in seinem Kampf gegen einen Mann, den man lieber nicht gegen sich haben möchte. Der Zuschauer ist sich dabei bis zum Schluss nicht sicher, auf welcher Seite dieser Protagonist, den man zu Beginn als das Pendant für David identifiziert hat, tatsächlich steht. Die charakterliche Tiefe dieser undurchsichtigen Figur und die Aufnahmen der weiten Leere, die die Abgeschiedenheit dieser Welt mit eigenen Regeln unterstreicht, machen Goliath zu einem absolut lohnenswerten filmischen Werk.
Es ist eine Reise in eine andere Zeit und eine andere Welt, die man mit Nenad Pavlovićs Trail of the Beast unternimmt: man findet sich im Belgrad des Jahres 1979 wieder. Ein Journalist soll an einer Geschichte arbeiten, die ihn so gar nicht interessiert – und er stolpert unversehens und etwas naiv in Mord und Geheimdienstangelegenheiten hinein. Der Film ist nicht nur ein Krimi mit Thrillerelementen; es geht auch über viel mehr als über die Machenschaften und Machtspielchen des Geheimdienstes. Es ist auch eine Komödie, die versucht, die jugoslawische Gesellschaft sowie Funktions- und Denkweise wenige Monate vor Titos Tod abzubilden. Und es ist einfach ein in sich runder Film, der schön anzusehen ist und in dem alles stimmig ist, von Drehbuch und Kostüm über die Musik hin zur Farbgebung. Es macht Lust auf mehr.
In eine teils sehr farbenfrohe Welt voller gern auch assoziativer Bilder und Formen entführte das erste Pannonia-Kurzfilmprogramm. Die Bandbreite der sechs ungarischen Animationsfilme reichte von einem circa zweiminütigen tragikomischen Stück über einen Häftling bis hin zu einer nur etwas über zehnminütigen, doch sehr eindrücklichen Schnellfassung von Krieg und Frieden vor dem Hintergrund von Tschaikovskijs 1812-Ouverture. Jeden Film zeichnet eine originelle Art aus, ebenso originelle Geschichten zu erzählen. Das persönliche Highlight: der ungarische Ten Grams of Immortality von Gyula Macskássy und György Várnai aus dem Jahr 1966, der anhand eines kleinen, geflügelten Pferdes davon erzählt, wie eine Abweichung von der Norm dazu führen kann, dass man nirgends dazugehört – und dass genau diese Normabweichung für jemand anderen vielleicht der ersehnte Ausweg sein kann.