38. DOK.fest München 2023
Fast, quick & dirty |
Von Redaktion
Non-Aligned: Scenes From The Labudović Reels
R: Mila Turajlić, FR/HR/ME/QA/RS 2022 | DOK.international
Stevan Labudović lernen wir als einfachen, nostalgischen, alten Herren kennen, bis peu à peu die unglaubliche Tragweite seines Lebenswerks auf die Leinwand kommt – war er doch Kameramann von Tito. Als ehemalige Forscherin bei Arte, BBC und Discovery Channel zieht die serbische Regisseurin Mila Turajlić ihr Publikum mit einer herausragend recherchierten Geschichte in ihren Bann. Hier wird die politische Geschichte von Jugoslawien als meinungsführende Nation
der »blockfreien« Staaten der sogenannten »Dritten Welt« erzählt, mit dem Ziel, eine neue Weltordnung inmitten des Kalten Kriegs zu schaffen. Es sind Länder, die beginnen mit Kamera und Ton ihre eigene Geschichte zu erzählen. Turajlić zeigt uns atemberaubend den Einfluss von Film in der Gesellschaft auf: Es ist die Geschichte des Kameramanns Labudović auf der Seite von Jugoslawien mit dem Ziel, eine gerechtere Welt zu schaffen. (Thomas Sattler / HFF
München)
[DOK.edit Award 2023; Infos/Tickets]
Sam Now
R: Reed Harkness, USA 2022 | BEST OF FESTS
»Just very romantic.« So beschreibt Jois Harkness ihre Entscheidung, die eigene Familie ohne eine Nachricht für immer zu verlassen. Regisseur Reed Harkness erzählt in Sam Now seine Familiengeschichte, im Film macht er sich mit seinem Bruder Sam auf die Suche nach der verschwundenen Mutter. Kindliche Superhelden-Aufnahmen treffen auf die Naivität, alles könne wieder so werden, wie zuvor, und schließlich die Konfrontation mit der Mutter, die mit ihrer
Familie abgeschlossen hat, erzeugen eine erschütternde Ehrlichkeit. Reed Harkness zeigt das Familienleben über 30 Jahre hinweg, seine Kamera ist ein ständiger, unsichtbarer Begleiter. Wut, Trauer und Enttäuschung werden ohne Hemmung und ungeschönt vermittelt. Das paradoxe Verhalten der Mutter lässt nicht nur die Familienmitglieder empört und überfordert zurück. (Helena Bublak / LMU München)
[Infos/Tickets]
Pripyat
Österreich 1999, Regie: Nikolaus Geyrhalter, Hommage
Die Zone, sie ist tot. Das sagt jeder, der danach gefragt wird, was und wie »die Zone« ist. Die Zone, das ist der abgeriegelte Bereich 30 Kilometer rund um das Atomkraftwerk Tschernobyl. Mittendrin liegt die Stadt Pripyat, einst Heimat der Arbeiter des AKW. Regisseur Nikolaus Geyrhalter zeigt in seinem Film von 1999 in so kühlem wie schlichtem und doch aussagekräftigen Schwarz-Weiß die Menschen dort 12 Jahre nach dem verheerenden Unglück. Eigentlich kommen in die Sperrzone
nur noch die, die dort arbeiten; manche aber wurden entweder immer noch nicht ausgiesedelt oder sind zurückgekehrt. Sie alle kommen zu Wort, geben eine Führung durch das, was einmal ihr Leben war und ihre Heimat ist. Dabei kommt alles zur Sprache, von Verstrahlung bis Behördenversagen. Man fühlt den Tod des Ortes durch die Leinwand – und doch stehen die Leute im Mittelpunkt, die noch in diesem Tod leben. Ein Film, der unter die Haut geht und der leider nicht aufhört, aktuell zu
sein.
(Paula Ruppert)
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Tanja – Tagebuch einer Guerillera
R: Marcel Mettelsiefen / D 2023 / DOK.horizonte
Aus dem gekachelten holländischen Reihenhaus in den kolumbianischen Dschungel. Marcel Mettelsiefen porträtiert eine mittlerweile 45-jährige Frau in all ihren Widersprüchen. Der Langeweile entkommen wollte die Studentin Tanja Nijmeijer und trat deshalb eine Stelle als Englischlehrerin in Bogota an. Ohnehin links eingestellt, politisierte sich die Niederländerin angesichts des horrenden Armutsgefälles in Kolumbien immer stärker und schloss sich nach einer
Rundreise der Rebellenarmee FARC an. Dort avancierte die mehrsprachige Guerillera bis in die Führungsebene. Sie vertrat ihre revolutionäre »Familie« sogar bei den Verhandlungen mit der Regierung, die mit dem Friedensnobelpreis gekrönt wurden. Als 2007 ihre FARC-kritischen Tagebücher im Dschungel entdeckt wurden, Tanja selbst aber jahrelang verschwunden blieb, machte das weltweit Schlagzeilen. Ein fesselnder, dialektischer Film über eine Lebensentscheidung, die sich nicht
revidieren lässt: Nijmeijer wird von Interpol gesucht. (Katrin Hillgruber)
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La EmpresaR: André Siegers, DE 2023 | DOK.international
Aus der Perspektive eines deutschen Filmteams erzählt, beleuchtet André Siegers Dokumentarfilm eine der seltsamsten Touristenattraktionen der Welt: Eine Simulation des illegalen Grenzübertritts aus Mexico in die USA aus dem Dorfe El Alberto.
Hierbei steht nicht nur der Übertritt an sich im Vordergrund, sondern auch die Bewohner des Dorfes, an dem die Touristenattraktion stattfindet. Diejenigen, die Familie auf der anderen Seite der Grenze haben. Diejenigen, die den
Übertritt selbst eventuell noch vor sich haben. Und diejenigen, die wissen, dass sie auf ihrer Seite der Grenze ein gutes Leben haben.
Ehrlich, in schönem Schwarz-Weiß gehalten, zeigt dieser Essayfilm nicht nur, wie einfach es ist, Grenzen selber zu erschaffen, sondern auch, wie man diese überwinden kann. (Stella Kluge / LMU München)
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Eigentlich eigentlich Januar
R: Jan Peters / D 2022 / Best of Fests
Den Januar, den nüchternsten aller Monate, will er in 31 Sequenzen à drei Minuten festhalten – so Jan Peters‘ Plan. Was folgt, ist eine einzige herrliche Abschweifung auf altem, zum Teil der Zersetzung durch das Erdreich und andere Substanzen preisgegebenem Filmmaterial. Mit dieser Methode materialisiert der manische Tagebuchschreiber Peters die verrinnende Zeit und seine Reflexionen darüber: Sei es zum »Bildabfall der Geschichte«, zum
»Unglücksversprechen deutscher Punktexte«, zu Schreibblockaden oder To-Do-Listen, die sich immer weiter perpetuieren. Indem er über alte Fotos seiner eigenen Familie nachsinnt und ab welchem Punkt diese zu »Waisenbildern« werden, holt Peters wie nebenbei die jüngere deutsche Geschichte in seinen Mahlstrom aus Gedanken. So überzeugt sein Film neben der originellen Optik auch sprachlich – als essayistischer Hochgenuss, der in seinen besten Momenten an literarische
Collagisten wie Arno Schmidt oder Rolf Dieter Brinkmann erinnert. (Katrin Hillgruber)
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Für immerR: Pia Lenz, DE 2023 | DOK.deutsch
»Für immer« sind die Worte, an die sich fast jedes Liebespaar vehement festzuklammern scheint. Doch was bedeuten sie wirklich? Für immer ohne eine Pause voneinander? Was, wenn Schicksalsschläge jene Vision in eine Illusion umwandeln?
Dieter und Eva sind bereits seit 70 Jahren ein Paar. Jedoch haben Höhen und Tiefen, Neuzuwachs und Verlust gezeigt, dass Geduld der wichtigste Bestandteil einer so langen Liebesbeziehung ist.
Ganz in diesem Sinne erzählt Pia Lenz in
Für immer über die Beziehung der Hochbetagten. Still und anmutig begleitet sie der Film in ihren alten Jahren und hört ihnen mit so einer Seelenruhe zu, dass das Gefühl von Hoffnung auf eine unendliche Zweisamkeit verbreitet wird, die einen mit einem süßen Nachgeschmack aus dem Film rausgehen lässt.
(Stella Kluge / LMU München)
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Manifesto
R: Angie Vinchito, Russland 2022 | DOK.focus POWER OF MEDIA?
Ein Mädchen, blond, um die zwölf, wünscht dem Land einen guten Morgen. Sie nuschelt verschlafen, ist offensichtlich gerade erst aufgewacht. Die Kamera wackelt, sie filmt sich. Zu Beginn zeigt Manifesto, wie viel Teenager von ihrem Leben im Internet dokumentieren, von der ersten Tasse Tee ab, egal wie scheinbar insignifikant. Dann wünscht man sich diese Insignifikanz zurück. Manifesto ist ein Mosaik aus Videos, das Regisseur:in Angie
Vinchito aus Social-Media-Videos russischer Teenager zusammengefügt hat. Viele dieser Clips sind schwer anzusehen, sie zeigen sexuelle und physische Gewalt, Selbstverletzung und Amokläufe. Alles wird durch die Linse der Teenager gezeigt, teils kommentieren sie, weinen, singen, schreien Parolen, manche filmen mit stiller Anklage. Der Film zeigt jedoch auch, wie universell Szenen von Schulstreichen und Gekicher wirken. Die Unschuld, die auf die Gewalt prallt, berührt und verstört.
(Maria Krampfl / LMU München)
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Paradise
R: Alexander Abaturov, FR/CH 2022 | DOK.international
Mit dem Schmelzen des letzten Schnees beginnt für die Menschen im Nordosten Sibiriens ein Kampf gegen die Waldbrände: ein Kampf gegen Goliath. Es ist, so das Gesetz, gegen die sich wuchtig ausbreitenden »Feuerdrachen« keine professionelle, staatliche Intervention zu erwarten. Abaturov und sein Kameramann Paul Guilhaume (Best Cinematography IDFA 2022) nehmen uns auf eine bildgewaltige Reise in eine Hölle mit, in der viel gelacht wird. Harte Fakten über das Leben der
Dorfbewohner werden kontrastiert mit einer lokalen Theaterprobe, was für den Zuschauer eine magische Flucht vor der Realität zulässt. Bis uns wieder das tosende Inferno einholt. Ein Film über Menschen, die trotz allem immer an ihre Nächsten denken – und ein Film, der auf den Hauptpreis hoffen darf. (Thomas Slatter / HFF München)
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