21.09.2023
Cinema Moralia – Folge 303

Im Reich der goldenen Muschel

Alfred Hitchcock und der deutsche Film
Josef Schnelles »Alfred Hitchcock und der deutsche Film«
(Foto: Schüren Verlag)

Das Filmfestival von San Sebastian zeigt, wie Festival geht, und füllt ein paar Leerstellen in der globalen Filmlandschaft, Christian Petzold redet über Hitchcock, und eine vernichtende Bilanz für die sogenannte Kulturstaatsministerin Claudia Roth – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 303. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Ich bin Hitch­co­ckianer, da kann man nichts machen.«
– Christian Petzold

Es ist wieder soweit: Der alljähr­liche inter­na­tio­nale Sommer-Film­fes­ti­val­zirkus geht in die Ziel­ge­rade, und was im Mai mit Cannes begonnen hat, geht in der letzten Septem­ber­woche mit San Sebastian, dem letzten der großen der vier »A-Festivals« zu Ende.
Am Frei­tag­abend wird eröffnet, mit dem neuen Film von Anime-Meister Hayao Miyazaki – der Name klingt fast schon baskisch, er ist aber natürlich Japaner. Und es ist großartig für das baskische Film­fes­tival und seine Macher, dass es ihnen gelang, Miyazakis Film, den man eigent­lich sicher in Venedig erwartet hatte, zu sich zu holen. Auch sonst profi­tiert San Sebastian von manchen Leer­stellen, die Venedig unver­s­tänd­li­cher­weise vor allem in diesem Jahr sehr erkennbar in der globalen Kino­land­schaft hinter­ließ: Dass viele Latein­ame­ri­kaner hier laufen, ist klar, denn das nord­spa­ni­sche Festival ist immer schon die natür­liche Brücke zwischen Süda­me­rika und Europa – hier kann man fast die komplette Jahres­pro­duk­tion der spanisch- und portu­gie­sisch­spra­chigen Filme sehen, Verpasstes nachholen, und besonders Gutes noch ein zweites Mal im Kino ansehen. In diesem Jahr aber laufen hier auch besonders viele asia­ti­sche Filme – genau das, was man in Venedig so schmerz­haft vermisst hatte.

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Im Unter­schied zu manch anderem ist San Sebastian ein wirk­li­ches Publi­kums­fes­tival, das mitten in der baski­schen Haupt­stadt statt­findet. Großmütter gehen hier mit ihren Enkeln ins Kino, Cinephile aus Madrid mit anti­kas­ti­li­schen Akti­visten, Bürger mit Burberry-Socken und Kasch­mir­pulli mit Punks, und Hipster gibt es kaum – es macht tatsäch­lich viel mehr Spaß hier als die Berlinale und das liegt nicht nur am Wetter. Zudem kann man sich mal zumindest für zehn Tage in der Vielfalt der spani­schen Kultur versenken, denn San Sebastian ist auch ein Ort zum Treffen, Reden, gemeinsam Essen.

Auch wenn das Film­fes­tival durchaus Raub­tier­charme hat, ist es das einzige, bei dem der Preis nicht nach einem Raubtier benannt ist – Bären, Löwen, Leoparden, Tiger – und auch nicht nach einer Pflanze wie in Cannes, sondern nach dem hiesigen Sand­strand: Concha d’Oro. Die Concha, das ist nämlich die muschel­för­mige Mini-Copa­ca­bana auf der einen Seite der (sehr sehr grob) drei­ecks­för­migen Stadt, die von zwei Buchten nach vorne hin einge­keilt ist, und nach hinten von den baski­schen Mittel­ge­birgen.

Am Freitag wird wie gesagt eröffnet, ab Frei­tag­morgen gibt es hier ein Festival-Tagebuch und regel­mäßige Podcasts.

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In der Wett­be­werbs-Jury sitzt unter anderem der Berliner Regisseur Christian Petzold. Wenn man noch schnell versuchen will, sich ein bisschen in sein Denken über Filme hinein­zu­ver­setzen, zu erahnen, wie er auf Filme (auch die eigenen) blickt und auf sich selbst, dann ist das neue Buch von Josef Schnelle (der gele­gent­lich auch für artechock schreibt, und mit dem wir im Podcast dieser Woche ein ausführ­li­ches Gespräch führen) dafür ganz gut geeignet.

Es gibt viele Bücher über Alfred Hitchcock, aber ein Buch wie dieses gibt es beim besten Willen noch nicht. Allein das spricht schon sehr für Josef Schnelles neue Arbeit über »Alfred Hitchcock und der deutsche Film«. Im Zentrum stehen Gesprächs­es­says mit sieben Filme­ma­chern, bei denen einige wie Christian Petzold und Dominik Graf und Andreas Kleinert näher liegen als andere.
Nicht zufällig ist der Essay mit Christian Petzold 22 Seiten lang, der mit Dominik Graf auch, andere nur zwölf, oder gar nur 10. Ein wunderbar aufge­machtes Buch mit sehr schönen satten Farb­bil­dern, die ganze Szenen­folgen zeigen, und tatsäch­lich auch ein bisschen an alte längst vergan­gene Filmbuch-Zeiten erinnern, Zeiten, als man noch nicht auf DVDs und Stream zurück­greifen konnte. Die geben ein Gefühl für diese Bewegung und für das Filmische der Szene.
Man muss Hitchcock schon irgendwie ganz gut kennen oder einen Bezug zu ihm haben, um das wirklich richtig schätzen zu können.

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»Hitchcock macht immer zwei Dinge wunderbar. Er zeigt den Raum und dann zeigt er eine Aufladung im Raum.« – das sagt zum Beispiel Petzold im Buch. Er bringt den nicht ganz neuen, auch nicht falschen Vergleich von Hitchcock mit dem Kasperl­theater und er richtet vor allem immer seinen Blick darauf, wie Hitchcock wirkt, wie er etwas macht, was er mit dem Publikum macht und wie überhaupt die Publi­kums­po­si­tion beschaffen ist. »So wie eine Partitur auch eine Partitur ist, aber man inter­pre­tiert sie.« Die Befragten reden halt auch indirekt viel über sich selbst.
Wir erfahren über die Spei­se­wagen-Szene in North by Northwest, dass »kein Anschluss stimmt«.
Hitchcock, so Petzold, treibe einen Keil hinein in eine versach­lichte Gegenwart, er reiße ein Fenster auf: »Ich bin Hitch­co­ckianer, da kann man nichts machen.«
Dann aber auch »Manche Filme mag ich plötzlich nicht mehr. Und dann kommen sie zurück und dann liebe ich sie wieder. Wie 'Vertigo«, den mag ich eigent­lich nicht.
Das kann ich gut nach­emp­finden, und ich bin gespannt, ob man Petzolds Hitch­cock­liebe seinen Jury-Entschei­dungen wenigs­tens ein bisschen anmerkt.

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Eine FAS kostete im Jahr 2002 2 €, im Jahr 2023 kostet sie 4,60 €.

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Und sonst so? Es kriselt an allen Ecken und Enden. Es kriselt im deutschen Film, es kriselt in der deutschen Kultur­po­litik, es krisen­ge­wit­tert regel­recht bei der Berlinale – mit Pauken und Trompeten, so sehr , dass das Ganze in einem Cinema Moralia nicht unter­zu­bringen ist, denn das heißt ja nicht »Berlinale Moralia«, sondern mal wieder einen eigenen Text erfordert.

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Chris­tiane Peitz, die lobzu­preisen ich unver­dächtig bin, schreibt im »Tages­spiegel« flott und klar der Staats­mi­nis­terin für Kultur ihr Sünden­re­gister ins öffent­liche Stammbuch: »Die Berlinale und andere Debakel«: »Der Documenta-Skandal, die verschleppte Reform der Stiftung Preußi­scher Kultur­be­sitz, die Verschlimm­bes­se­rung des Museums der Moderne – und jetzt der Berlinale-Schla­massel: In ihrer gut 20-monatigen Amtszeit kommt Claudia Roth aus den Nega­tiv­schlag­zeilen nicht heraus. ... Das gab es noch nie: dass deutsche Kultur­po­litik derart harsch von Stars aus aller Welt kriti­siert wird.«
Roth, die sich gern als Diver­si­täts­hü­terin insze­niert, »engt die Vielfalt ein«, schreibt Peitz. »Inzwi­schen klingt das nach Selbst­in­sze­nie­rung, nicht nach Tatkraft. In der Demo­kratie bedeutet Kultur­po­litik, dass sie sich von den Inhalten fernhält und den Künsten einen Rahmen bereit­stellt. Die Freiheit vertei­digen, heißt, den Rahmen nicht einzu­engen und den Freiraum auch in finan­ziell schwie­riger Lage zu vertei­digen.«

Und weiter: Aussitzen könne eine geschickte Strategie sein. Aber »Wieso schweigt die Medi­en­staats­mi­nis­terin auch zum teils bereits erfolgten, teils drohenden Kahl­schlag bei den Kultur-Wellen der öffent­lich-recht­li­chen Sender? Selbst der PEN hat sich bereits zu Wort gemeldet. Die Meinungs­frei­heit und -vielfalt: Menschen­recht­lerin Roth formu­liert dazu sonst gerne flammende Appelle. ... Claudia Roths bisherige Bilanz verheißt nichts Gutes für die nächsten Kultur-Baustellen«. Etwa dem Museum der Moderne und dem Riesen­pro­jekt einer Radi­kal­re­form der staat­li­chen Film­för­de­rung.
Das Schlimmste: Keiner glaube noch, was die Kultur­staats­mi­nis­terin sagt.

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Und in der Berliner Zeitung ist das Urteil von Feuil­le­ton­chef Harry Nutt noch klarer, noch vernich­tender: »Schroff und zerstö­re­risch... mangelndes kultur­po­li­ti­sches Gespür und Augenmaß ... Massen­ab­wurf von Ankün­di­gungen und Stel­lung­nahmen ... Nach knapp zwei Jahren hat sich der Eindruck verfes­tigt, dass Roth nur bedingt in der Lage ist, die in ihrer Behörde versam­melte Kompetenz zur Geltung zu bringen. ... Zu viel, zu laut, zum falschen Zeitpunkt – Claudia Roths bisherige Amts­füh­rung ist von einem lärmenden Über­schwang begleitet, der im Fall der Berlinale zu einem schwer zu behe­benden Problem geworden ist. Kultur­po­litik lebt nicht zuletzt von kluger Mode­ra­tion, die in der Lage ist, eigen­wil­lige Künstler mit umtrie­bigen Gestal­tern ins Gespräch zu bringen.«

Im kultu­rellen Feld wollen sie schon längst alle loswerden. Noch weiß keiner, wie. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Schade, dass sich im Bund niemand für Kultur inter­es­siert. Sonst würde man Roth die rote Karte zeigen und sie müsste gehen.