Cinema Moralia – Folge 303
Im Reich der goldenen Muschel |
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Josef Schnelles »Alfred Hitchcock und der deutsche Film« | ||
(Foto: Schüren Verlag) |
»Ich bin Hitchcockianer, da kann man nichts machen.«
– Christian Petzold
Es ist wieder soweit: Der alljährliche internationale Sommer-Filmfestivalzirkus geht in die Zielgerade, und was im Mai mit Cannes begonnen hat, geht in der letzten Septemberwoche mit San Sebastian, dem letzten der großen der vier »A-Festivals« zu Ende.
Am Freitagabend wird eröffnet, mit dem neuen Film von Anime-Meister Hayao Miyazaki – der Name klingt fast schon baskisch, er ist aber natürlich Japaner. Und es ist großartig für das baskische Filmfestival und seine Macher, dass es ihnen gelang, Miyazakis Film, den man eigentlich sicher in Venedig erwartet hatte, zu sich zu holen. Auch sonst profitiert San Sebastian von manchen Leerstellen, die Venedig unverständlicherweise vor allem
in diesem Jahr sehr erkennbar in der globalen Kinolandschaft hinterließ: Dass viele Lateinamerikaner hier laufen, ist klar, denn das nordspanische Festival ist immer schon die natürliche Brücke zwischen Südamerika und Europa – hier kann man fast die komplette Jahresproduktion der spanisch- und portugiesischsprachigen Filme sehen, Verpasstes nachholen, und besonders Gutes noch ein zweites Mal im Kino ansehen. In diesem Jahr aber laufen hier auch besonders viele
asiatische Filme – genau das, was man in Venedig so schmerzhaft vermisst hatte.
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Im Unterschied zu manch anderem ist San Sebastian ein wirkliches Publikumsfestival, das mitten in der baskischen Hauptstadt stattfindet. Großmütter gehen hier mit ihren Enkeln ins Kino, Cinephile aus Madrid mit antikastilischen Aktivisten, Bürger mit Burberry-Socken und Kaschmirpulli mit Punks, und Hipster gibt es kaum – es macht tatsächlich viel mehr Spaß hier als die Berlinale und das liegt nicht nur am Wetter. Zudem kann man sich mal zumindest für zehn Tage in der Vielfalt der spanischen Kultur versenken, denn San Sebastian ist auch ein Ort zum Treffen, Reden, gemeinsam Essen.
Auch wenn das Filmfestival durchaus Raubtiercharme hat, ist es das einzige, bei dem der Preis nicht nach einem Raubtier benannt ist – Bären, Löwen, Leoparden, Tiger – und auch nicht nach einer Pflanze wie in Cannes, sondern nach dem hiesigen Sandstrand: Concha d’Oro. Die Concha, das ist nämlich die muschelförmige Mini-Copacabana auf der einen Seite der (sehr sehr grob) dreiecksförmigen Stadt, die von zwei Buchten nach vorne hin eingekeilt ist, und nach hinten von den baskischen Mittelgebirgen.
Am Freitag wird wie gesagt eröffnet, ab Freitagmorgen gibt es hier ein Festival-Tagebuch und regelmäßige Podcasts.
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In der Wettbewerbs-Jury sitzt unter anderem der Berliner Regisseur Christian Petzold. Wenn man noch schnell versuchen will, sich ein bisschen in sein Denken über Filme hineinzuversetzen, zu erahnen, wie er auf Filme (auch die eigenen) blickt und auf sich selbst, dann ist das neue Buch von Josef Schnelle (der gelegentlich auch für artechock schreibt, und mit dem wir im Podcast dieser Woche ein ausführliches Gespräch führen) dafür ganz gut geeignet.
Es gibt viele Bücher über Alfred Hitchcock, aber ein Buch wie dieses gibt es beim besten Willen noch nicht. Allein das spricht schon sehr für Josef Schnelles neue Arbeit über »Alfred Hitchcock und der deutsche Film«. Im Zentrum stehen Gesprächsessays mit sieben Filmemachern, bei denen einige wie Christian Petzold und Dominik Graf und Andreas Kleinert näher liegen als andere.
Nicht zufällig ist der Essay mit Christian Petzold 22 Seiten lang, der mit Dominik Graf auch, andere nur zwölf,
oder gar nur 10. Ein wunderbar aufgemachtes Buch mit sehr schönen satten Farbbildern, die ganze Szenenfolgen zeigen, und tatsächlich auch ein bisschen an alte längst vergangene Filmbuch-Zeiten erinnern, Zeiten, als man noch nicht auf DVDs und Stream zurückgreifen konnte. Die geben ein Gefühl für diese Bewegung und für das Filmische der Szene.
Man muss Hitchcock schon irgendwie ganz gut kennen oder einen Bezug zu ihm haben, um das wirklich richtig schätzen zu können.
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»Hitchcock macht immer zwei Dinge wunderbar. Er zeigt den Raum und dann zeigt er eine Aufladung im Raum.« – das sagt zum Beispiel Petzold im Buch. Er bringt den nicht ganz neuen, auch nicht falschen Vergleich von Hitchcock mit dem Kasperltheater und er richtet vor allem immer seinen Blick darauf, wie Hitchcock wirkt, wie er etwas macht, was er mit dem Publikum macht und wie überhaupt die Publikumsposition beschaffen ist. »So wie eine Partitur auch eine Partitur ist, aber man
interpretiert sie.« Die Befragten reden halt auch indirekt viel über sich selbst.
Wir erfahren über die Speisewagen-Szene in North by Northwest, dass »kein Anschluss stimmt«.
Hitchcock, so Petzold, treibe einen Keil hinein in eine versachlichte Gegenwart, er reiße ein Fenster auf: »Ich bin Hitchcockianer, da kann man nichts machen.«
Dann aber auch »Manche Filme mag ich plötzlich nicht
mehr. Und dann kommen sie zurück und dann liebe ich sie wieder. Wie 'Vertigo«, den mag ich eigentlich nicht.
Das kann ich gut nachempfinden, und ich bin gespannt, ob man Petzolds Hitchcockliebe seinen Jury-Entscheidungen wenigstens ein bisschen anmerkt.
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Eine FAS kostete im Jahr 2002 2 €, im Jahr 2023 kostet sie 4,60 €.
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Und sonst so? Es kriselt an allen Ecken und Enden. Es kriselt im deutschen Film, es kriselt in der deutschen Kulturpolitik, es krisengewittert regelrecht bei der Berlinale – mit Pauken und Trompeten, so sehr , dass das Ganze in einem Cinema Moralia nicht unterzubringen ist, denn das heißt ja nicht »Berlinale Moralia«, sondern mal wieder einen eigenen Text erfordert.
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Christiane Peitz, die lobzupreisen ich unverdächtig bin, schreibt im »Tagesspiegel« flott und klar der Staatsministerin für Kultur ihr Sündenregister ins öffentliche Stammbuch: »Die Berlinale und andere Debakel«: »Der Documenta-Skandal, die verschleppte Reform der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz, die Verschlimmbesserung des Museums der Moderne – und jetzt der Berlinale-Schlamassel: In ihrer gut 20-monatigen Amtszeit kommt Claudia Roth aus den Negativschlagzeilen nicht heraus. ... Das gab es noch nie: dass deutsche Kulturpolitik derart harsch von Stars aus aller Welt kritisiert wird.«
Roth, die sich gern als Diversitätshüterin inszeniert, »engt die Vielfalt ein«, schreibt Peitz. »Inzwischen klingt das nach Selbstinszenierung,
nicht nach Tatkraft. In der Demokratie bedeutet Kulturpolitik, dass sie sich von den Inhalten fernhält und den Künsten einen Rahmen bereitstellt. Die Freiheit verteidigen, heißt, den Rahmen nicht einzuengen und den Freiraum auch in finanziell schwieriger Lage zu verteidigen.«
Und weiter: Aussitzen könne eine geschickte Strategie sein. Aber »Wieso schweigt die Medienstaatsministerin auch zum teils bereits erfolgten, teils drohenden Kahlschlag bei den Kultur-Wellen der öffentlich-rechtlichen Sender? Selbst der PEN hat sich bereits zu Wort gemeldet. Die Meinungsfreiheit und -vielfalt: Menschenrechtlerin Roth formuliert dazu sonst gerne flammende Appelle. ... Claudia Roths bisherige Bilanz verheißt nichts Gutes für die nächsten Kultur-Baustellen«. Etwa
dem Museum der Moderne und dem Riesenprojekt einer Radikalreform der staatlichen Filmförderung.
Das Schlimmste: Keiner glaube noch, was die Kulturstaatsministerin sagt.
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Und in der Berliner Zeitung ist das Urteil von Feuilletonchef Harry Nutt noch klarer, noch vernichtender: »Schroff und zerstörerisch... mangelndes kulturpolitisches Gespür und Augenmaß ... Massenabwurf von Ankündigungen und Stellungnahmen ... Nach knapp zwei Jahren hat sich der Eindruck verfestigt, dass Roth nur bedingt in der Lage ist, die in ihrer Behörde versammelte Kompetenz zur Geltung zu bringen. ... Zu viel, zu laut, zum falschen Zeitpunkt – Claudia Roths bisherige Amtsführung ist von einem lärmenden Überschwang begleitet, der im Fall der Berlinale zu einem schwer zu behebenden Problem geworden ist. Kulturpolitik lebt nicht zuletzt von kluger Moderation, die in der Lage ist, eigenwillige Künstler mit umtriebigen Gestaltern ins Gespräch zu bringen.«
Im kulturellen Feld wollen sie schon längst alle loswerden. Noch weiß keiner, wie. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Schade, dass sich im Bund niemand für Kultur interessiert. Sonst würde man Roth die rote Karte zeigen und sie müsste gehen.