71. Festival de Cine de San Sebastián 2023
Wer einmal von dem Blitzschlag kostet... |
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Los Impactados: Ein überraschend guter und stimmiger Film... | ||
(Foto: Filmfestival San Sebastian) |
»'Es denkt' sollte man sagen, so wie man sagt: 'Es blitzt'. Zu sagen ''Cogito' ist schon zuviel.«
– Georg Christoph Lichtenberg
In San Sebastián ist Schulbeginn für viele Kinder übrigens erst um 8:45 Uhr oder 9 Uhr. Am noch kühlen Morgen, wenn ich wie heute mit dem Fahrrad zum Kino direkt durch die Altstadt fahre, sehe ich viele Grundschulkinder, aber auch ältere, die erst dann manchmal von den Eltern begleitet zur Schule kommen.
Es geht also, wenn man will.
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Der Trailer des Festivals nervt. Allein schon, weil er von vorauseilendem Rhythmus-Geklatsche einer lautstarken Publikumsminderheit begleitet wird. Erst recht und noch mehr, weil er einerseits sich ganz primitiv selbst abfeiert, aber nicht mal jede Sektion in ihm vorkommt. Zum Beispiel die Retrospektive nicht.
Das passt zum Gespräch mit einer langjährigen Freundin über das Festival, dessen Fazit auch lautet: »Der Geist der Tabakalera-Reihe übernimmt das Festival.« Also
immer weniger Genre, immer mehr fließende Übergänge zwischen Kino und Video-Kunst, überhaupt zu viel Kunst, zu wenig Exzess, zu viel Anstand und Regelbefolgung. Die Fehler der Berlinale werden gerade also in den letzten Jahren, in San Sebastián wiederholt.
Zur Ehre der Spanier muss man sagen, dass ihnen das irre Geklatsche des baskischen Publikums selbst am meisten auf die Nerven geht.
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»Wirst du mir vergeben?« – »Für was?« – »Für alles.«. Es beginnt mit diesem Dialog. Körper im Pool, zunächst unklar. Dann das Gesicht einer jungen Frau ganz nah, im Krankenhaus.
Ziemlich schnell verstehen wir: Ada ist Tierärztin; als sie einer Kuh beim Kalben half, wurde sie vom Blitz getroffen. Im Rückblick wird das erzählt. Sie hat inmitten ihrer schwarzen Haare nun ein paar weiße. Über ihren Körper ziehen sich deutlich sichtbar rote Äderchen, wie dünne Äste oder Farn.
Erst später erfahre ich, dass diese Lichtenberg-Figuren heißen.
Es gibt sie wirklich, diese vielen tausend Menschen, die vom Blitz getroffen wurden und dies überlebten, mit Folgen für Psyche und Physis. Was hier im Film von Lucía Puenzo – schon wieder ein argentinischer Film, aber ein sehr untypischer – ein beweisbares Phänomen, was pure Fantasy, und was Graubereich ist, weiß ich nicht, es spielt auch für diesen Film keine Rolle, so faszinierend es auch ist. Denn so oder so ist Los Impactados für das Feld von Blitzschlag etwa das, was Crash von David Cronenberg für Autounfälle und Julie Ducournaus Titane für Metall ist, wenn auch auf niedrigerem Niveau – ein Film über eine perverse Sucht, eine seltsame, schwer nachvollziehbare, aber unbezwingbare, erotische und sadomasochistische Faszination: Ada, die nun eine »Aura« im rechten Auge hat, die nur durch einen Magnet zu bändigen ist, ist von nun an »elektrophil«. Sie holt sich ihren Kick mit dem Griff in die Steckdose, sie ist extrem lichtempfindlich, so elektroempfindlich, dass nachts sogar der Kühlschrank ausgemacht wird, ihr Nervensystem reagiert auf elektrische Felder, denn durch den Blitz wurde, wie es einmal heißt, ihr Bewusstsein »pulverisiert«. Schmerz ist Lust.
Bald schließt sie sich einer Selbsthilfegruppe an, die von dem älteren charismatischen Blitzguru Juan geleitet wird, der zu allem irgendetwas zu sagen hat, und die Gruppe in immer neue Blitzerfahrungen führt. Einer aus der Gruppe wurde fünfmal vom Blitz getroffen. Man redet über Erfahrungen, lernt viel über Elektrowellen, und Synchronizitäten in der Natur.
Irgendwann hat Ada, die immer mit schwarzen Doc Martins und einem olivgrünen Barbour-Jacket herumläuft, vorhersehbar Sex mit dem Blitz-Opa, der viel, viel leidenschaftlicher ist, als sie es bis dahin kannte.
Es gibt, wenn sich ihre Körper berühren dabei dann so Geräusche wie sonst nur beim Elektroschocker – bzzz bzzzzzz – und sie hat einen ganz tollen Orgasmus.
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Auch wenn sich das jetzt cheesy anhört, ist Los Impactados ein überraschend guter und stimmiger Film, mit einer sehr guten Kamera (Nicolás Puenzo), der ungewöhnliche Genrekinobilder bietet und bei dem man sich fragt, warum so etwas nicht im Wettbewerb läuft, der in diesem Jahr ein überschaubares Niveau hat. Ohne Frage hat der Film auch Schwächen – mir haben die Männer überhaupt nicht gefallen, die Frau ist besser, aber auch etwas angestrengt gespielt.
Aber das Thema Blitze als Religion ist seltsam und besonders.
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Dies ist ein romantischer Film. Die Mutter ging nachts mit der Tochter immer raus, und beide schauten sich den Vollmond an. Irgendwann hat die Mutter sich dann umgebracht. Vorher hat sie die Tochter um Verzeihung gebeten – das waren die Sätze vom Anfang. In Rückblenden wird das erzählt.
Der Hauptvorwurf gegen den Film ist, dass alles noch ein ganzes Stück schräger und perverser sein könnte.
Am Schluss hat Ada ein Kind und erinnert sich an Juan: »You showed me to be myself. Not the one I was. But the one I am now.«
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Im Wettbewerb um den Publikumspreis liegt La Sociedad de la Nieve ganz vorne.
Aber wer könnte am Samstag die Muscheln gewinnen? Viele seriöse Kandidaten gibt es nicht. Es dürfte also ein unseriöser Preisträger werden.
Oder die Jury um Claire Denis und Christian Petzold einigt sich auf eine der beiden argentinischen Komödien. Oder auf Cristi Puiu, den großen, immer noch unterschätzten Rumänen...
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Puius neuer Film heißt MMXX, also 2020, und hat vier Kapitel. Sie erzählen jeweils geschlossene Geschichten. Die ersten drei sind durch überlappende Hauptfiguren verbunden, alle vier durch Themen – Krise, Gesellschaft im Umbruch, das Scheitern der Träume, allgemeine Korruption – und die sarkastisch-humane Haltung.
Nichts Neues – das stimmt. Aber meisterlich wird inszeniert: Schnell, mit Dauerdialoggewittern, immer in
Bewegung.
Die ersten zwei Kapitel spielen wieder in so einer typischen »Cristi-Puiu-Wohnung«, vollgestopft mit Regalen, und in den Regalen Bücher, Kassetten, Lebensmittel, Klamotten. Von allem zu viel.
Nichts ist durchgestylt, aber eben indirekt sehr wohl. Wenn ich an diesen Regisseur denke, dann denke ich zuerst an diese Räume und ihre Überfälle und an das Design und die Choreographie der Figuren in diesen Räumen drin.
Die Kamera ist ganz hervorragend. Sie ist nervös, sie ist
bewegt, sie ist aber immer bei den Leuten und insgesamt ist dieses Szenario mit einem Nichtsnutz-Bruder und der ein bisschen autoritären Ärztin-Schwester. die aber auch allein gelassen alle Dinge selbst regeln muss (auch für ihren dummen Mann), insgesamt ist dieses Szenario toll und lustig.
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Es geht um die Familiendynamik und um eine bürgerliche Familie. Um Frauen- und Männergequatsche – »Moldavian women are the best« hören wir – außerdem gibt es ein paar gute Witze über die Pandemie, über Masken-absetzen und so weiter. Eine Frau sagt: Wenn ich die Maske aufhabe, beschlägt immer die Brille, eine andere sagt: ich kann nicht richtig gut atmen – für solche Aussagen ist man in Deutschland schon ein halber Querdenker.
Es sind vier Szenen eines Gesellschaftschaos in Rumänien. Drei davon hängen direkt miteinander zusammen, die vierte sticht ein bisschen heraus, wird von manchen auch als qualitativ die beste angesehen. In jedem Fall ist dies einer der zwei besten Filme im Wettbewerb.
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Der schlechteste ist Le Successeur von Xavier Legrand, der erste Franzose, den ich in diesem Jahr hier gesehen habe.
Es geht um das Erbe und die Sünden der Väter, und wieder mal um schwache Männer. Der Regisseur benutzt die typischen Tropen des Horrorfilms, um Szenen mit Spannung zu kreieren.
Aber die Geschichte über einen Erfolgsmenschen, der seinen toten, zu Lebzeiten entfremdeten Vater beerdigen will, und dann im Keller ein gefangen gehaltenes Mädchen entdeckt, dieses aus Versehen tötet, den Perversionen und Verbrechen des Erzeugers nicht gewachsen ist und sich schließlich umbringt, ist zu
konstruiert und viel zu konfus und unglaubwürdig erzählt, um irgendetwas mehr zu sein, als zwei Stunden Lebenszeitverlust.
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Der chinesische Film im Wettbewerb A Journey in Spring von der Taiwanesin Tzu-hui Peng ist noch schlimmer – nämlich stinklangweilig. Nicht meditativ, sondern einfach nur dröge und schleppend, niemals Intensität entfaltend, beobachten wir trotzdem ein Paar, das sich streitet, was wohl ein Zeichen einer gewissen Zuneigung, Verbundenheit und Gewohnheit aneinander sein soll. Dann stirbt die Frau und ihr Mann steckt die tote Alte in die Gefrierkühlkiste und macht sich auf eine Reise. Das Ganze soll man dann wohl als Trauerarbeit begreifen, spätestens wenn er irgendwann unter einem Wasserfall sitzt und da wahrscheinlich trauert. Trotzdem muss irgendwann noch der Kühlschrank geleert werden.
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Viel viel besser ist Carefree Days, der chinesische Eröffnungsfilm der »Nuevos Directores« in der Regie von Liang Ming gewesen.
Die Hauptfigur Xu ling ling ist eine Rebellin. Die ersten Minuten begleiten wir sie durch ein großartiges quietschbuntes Pop-China. Sie liest »carpe diem«, doch bevor sie das in die Tat umsetzen kann, bricht sie zusammen. Eine schwere Nierenkrankheit wird diagnostiziert, Xu ling ling muss regelmäßig zur Dialyse, und braucht
schnell eine neue Niere. Kurz darauf stirbt auch die Mutter, weswegen sie zu ihrem Vater zieht, den sie kaum kennt.
Wir lernen Freunde kennen und das Lebensgefühl und die Vielfalt des jungen China. Am Ende gibt es eine Roadmovie-Reise in den hohen Norden, wo das Meer fast zugefroren ist.
Jia Zhangke hat mitproduziert – das hilft, sich alles vorzustellen.
(to be continued)