05.10.2023
71. Festival de Cine de San Sebastián 2023

Die Vertreibung aus dem Paradies

Ako von Hiroshi Teshigahara
Hiroshi Teshigaharas Hozee Toresu
(Foto: Filmfestival San Sebastian)

Genuss und Filmgenuss – Notizen aus San Sebastián, Folge 6

Von Rüdiger Suchsland

Durch Zufall gerate ich in ein Gelage hinein, und dort gibt es alles, was ich mag: Tortilla; Jamón Serrano; Risotto mit Stein­pilzen und Trüffeln; Merluz mit einer leicht scharfen Soße, eigent­lich Mayon­naise; und dann natürlich Cañas.
Dann ein ganz rätsel­hafter Nachtisch: Warmer Schmelz­käse auf süßem Brot und oben drauf, Mandel­splitter und eine süß scharfe Marmelade und der Käse ist warm, wie gesagt; darauf muss man erst mal kommen,

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Die Basken sind langsam und sehr, sehr regel­be­wusst. Wer bei Rot über die Straße geht, wie man das als Berliner gewohnt ist, der erntet zumindest irgend­einen empörten Blick. Genauso wie Menschen, die mit dem Fahrrad gegen die Einbahn­straße fahren oder so etwas. Manche Berlin-Mitte Bewohner werden es verstehen, ich nicht.

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Der Franzose Ariel Schweizer sagt über den japa­ni­schen Regisseur Hiroshi Teshiga­hara (1927-2001), er sei ganz anders als andere japa­ni­sche Filme­ma­cher. Im Unter­schied zum Kollegen ist das bei mir aller­dings eher ein Argument für Distanz. Er findet den Wett­be­werb so schlecht wie nie: »norma­ler­weise gibt es wenigs­tens drei gute Filme. Die gibt’s diesmal auch nicht.« Er findet den Rumänen Puiu nicht so gut, weil er meint, das sei ein typischer Festival-Film, aber eigent­lich nicht weiter inter­es­sant.

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Das ehemalige »Café artess« heißt nun »Baluarte« und ist so recht abge­fuckter Art geworden. Innen weiß, glatt, schmierig, irgendwie für Hipster bzw. die älteren Hipster. Das finden auch die Spanier. Trotzdem sitzt man hier, wenn man nur zehn Minuten zwischen den Filmen hat.

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Es fällt einem nicht leicht, hier allein in einer Bar zu stehen. Jeden­falls nicht lange.

Vor dem zweiten russi­schen Film komme ich in einer Bar ins Gespräch mit einem Halb-Briten, Halb-Italiener, der die Unter­titel für den Taiwa­nesen gemacht hat. Er will von mir wissen, wie ich den Film fand – ich bin diplo­ma­tisch. Dann will er von mir wissen, wie man Film­kri­tiker wird, ich versuche es ihm irgendwie zu erklären, so wie man das eben in fünf Minuten erklären kann. Dass er einen Blog gründen muss, wo er überhaupt erst mal zu schreiben übt, und dann seine besten Texte, die auch die Freunde, die ehrlich zu ihm sind, gut finden, einer Redaktion schicken muss. Radio will er nicht machen – »ich will schreiben«, sagt er. Ich sage ihm, dann musst du einen Blog gründen. »Forget news­pa­pers! News­pa­pers are in decline and the owners are assholes.«

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Als ich nach dem letzten Film nochmal draußen vor dem Príncipe sitze, spricht mich Idoya an, eine gut 50-jährige Frau, die seit ich hier­her­komme die Retro­spek­tiven begleitet. Seit 1996. Sie sei keine Expertin, sie lieb einfach alte Filme, sagt Idoya. Wie toll!
Eine Retro mit nur 20 Filmen wie diesmal ist nicht befrie­di­gend, sagt sie auch. »Ich bin es gewohnt, dass eine Retro 30 oder 40 Filme umfasst.«
Nächstes Jahr werde es wieder mehr geben, dann dreht sich die Retro­spek­tive um »Italie­ni­sche Poli­zei­filme«.

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Zuvor schon hatte ich eine sehr nette Begegnung mit Lukas Foerster, der zum ersten Mal hier ist und für critic.de berichtet. Beim ersten Mal, direkt nach einem Retro-Film, war ich erstmal voll verpeilt, hab ihn nicht erkannt, und dann auch gleich weiter gemusst. Beim zweiten Mal hab ich mich dann bei ihm entschul­digt.

Dies sei sein erstes richtiges Festival seit fünf Jahren, sagt Lukas. Nicht alles sei gut, aber er sei hier jeden Tag einmal am Strand gewesen.
Das schon mal kann ich vom San-Sebastián-Novizen lernen.

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Hundertmal bestimmt, viel­leicht auch zwei­hun­dertmal bin ich, so wie jetzt auf dem Fahrrad um irgend­welche vermut­liche ETA-Sympa­thi­santen herum­schlän­gelnd, die genauso beschwipst sind wie ich, in mein Hotel gefahren. Hundertmal bestimmt habe ich mir dann vorge­stellt, wie es ist, in San Sebastián zu wohnen. Und da ich ja schon etwa 200 Nächte in San Sebastián verbracht habe, habe ich irgendwie ja auch schon ein bisschen in San Sebastián gewohnt. Also gelebt. Alltag geteilt. Und doch wieder nicht. Denn ein Film­fes­tival ist nicht das gleiche wie Alltag. Es ist Ausnah­me­zu­stand. Es ist Exzess.

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Jetzt fahre ich also wieder einmal an einem der letzten Abende dieses Film­fes­ti­vals langsam nach Hause, also ins Hotel; beschwipst, aber noch nicht beschwipst genug, um meinen unter­grün­digen Zorn über die post­pan­de­mi­schen Verhält­nisse gedämpft zu haben, die auch in San Sebastián einge­zogen sind. Noch nicht beschwipst genug, um nicht zu sehen, was auch hier passiert ist, um nicht zu sehen, dass San Sebastián ein Symbol ist für das, was in der ganzen Welt passiert ist: Für die miesesten Auswir­kungen des Kapi­ta­lismus, und dessen Auswir­kung auf das Alltags­leben, für das Teuer-Werden der Bars, Restau­rants, Cafés und Kneipen, für das Unau­then­tisch-Werden dieser Orte. Ich glaube, dass es keinen Ort gibt, der besser als soge­nannte Kneipen und Cafés und Restau­rants zeigt, wie die Welt, in der wir leben, zugrunde geht. Nicht wie sie schlechter wird, nicht wie sie sich wandelt, sondern wie sie zugrunde geht. Rotten to the heart.
Die Pandemie ist natürlich nicht die Ursache, aber sie ist ein Treiber bei dieser Welt­ver­än­de­rung.

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Die leider oft sehr spießigen Basken haben Lokal-Konzes­sionen, die genau bis null Uhr gehen, und die deswegen nach 23.59 Uhr nichts mehr ausschenken, sich da aber auch noch irgend­etwas drauf einbilden. Diese lächer­li­chen grotesken Bauern und die Politiker, auf die sie hören, die uns ins Bett schicken wollen! Mit welchem Recht gibt es überhaupt eine Sperr­stunde? Warum gibt es nicht in bestimmten Städten bestimmte Regionen, in denen man sich aufhalten kann, wenn man möchte, trinken kann, wann man möchte, in den anderen Regionen kann man dann früh schlafen gehen, wenn es denn sein muss. Nach Mitter­nacht geht im Basken­land aber jeden­falls fast nichts. Und gleich­zeitig geht alles; es geht alles, wenn man Leute kennt, die wissen, wo man hingeht. Es geht nichts öffent­lich, es geht alles halböf­fent­lich. Warum muss das so sein?

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Die Festival-Preise übergehen wir besser mit Schweigen. Ärgerlich, dass bekannte Namen syste­misch ausge­spart wurden.

(to be continued)