71. Festival de Cine de San Sebastián 2023
Die Vertreibung aus dem Paradies |
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Hiroshi Teshigaharas Hozee Toresu | ||
(Foto: Filmfestival San Sebastian) |
Durch Zufall gerate ich in ein Gelage hinein, und dort gibt es alles, was ich mag: Tortilla; Jamón Serrano; Risotto mit Steinpilzen und Trüffeln; Merluz mit einer leicht scharfen Soße, eigentlich Mayonnaise; und dann natürlich Cañas.
Dann ein ganz rätselhafter Nachtisch: Warmer Schmelzkäse auf süßem Brot und oben drauf, Mandelsplitter und eine süß scharfe Marmelade und der Käse ist warm, wie gesagt; darauf muss man erst mal kommen,
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Die Basken sind langsam und sehr, sehr regelbewusst. Wer bei Rot über die Straße geht, wie man das als Berliner gewohnt ist, der erntet zumindest irgendeinen empörten Blick. Genauso wie Menschen, die mit dem Fahrrad gegen die Einbahnstraße fahren oder so etwas. Manche Berlin-Mitte Bewohner werden es verstehen, ich nicht.
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Der Franzose Ariel Schweizer sagt über den japanischen Regisseur Hiroshi Teshigahara (1927-2001), er sei ganz anders als andere japanische Filmemacher. Im Unterschied zum Kollegen ist das bei mir allerdings eher ein Argument für Distanz. Er findet den Wettbewerb so schlecht wie nie: »normalerweise gibt es wenigstens drei gute Filme. Die gibt’s diesmal auch nicht.« Er findet den Rumänen Puiu nicht so gut, weil er meint, das sei ein typischer Festival-Film, aber eigentlich nicht weiter interessant.
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Das ehemalige »Café artess« heißt nun »Baluarte« und ist so recht abgefuckter Art geworden. Innen weiß, glatt, schmierig, irgendwie für Hipster bzw. die älteren Hipster. Das finden auch die Spanier. Trotzdem sitzt man hier, wenn man nur zehn Minuten zwischen den Filmen hat.
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Es fällt einem nicht leicht, hier allein in einer Bar zu stehen. Jedenfalls nicht lange.
Vor dem zweiten russischen Film komme ich in einer Bar ins Gespräch mit einem Halb-Briten, Halb-Italiener, der die Untertitel für den Taiwanesen gemacht hat. Er will von mir wissen, wie ich den Film fand – ich bin diplomatisch. Dann will er von mir wissen, wie man Filmkritiker wird, ich versuche es ihm irgendwie zu erklären, so wie man das eben in fünf Minuten erklären kann. Dass er einen Blog gründen muss, wo er überhaupt erst mal zu schreiben übt, und dann seine besten Texte, die auch die Freunde, die ehrlich zu ihm sind, gut finden, einer Redaktion schicken muss. Radio will er nicht machen – »ich will schreiben«, sagt er. Ich sage ihm, dann musst du einen Blog gründen. »Forget newspapers! Newspapers are in decline and the owners are assholes.«
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Als ich nach dem letzten Film nochmal draußen vor dem Príncipe sitze, spricht mich Idoya an, eine gut 50-jährige Frau, die seit ich hierherkomme die Retrospektiven begleitet. Seit 1996. Sie sei keine Expertin, sie lieb einfach alte Filme, sagt Idoya. Wie toll!
Eine Retro mit nur 20 Filmen wie diesmal ist nicht befriedigend, sagt sie
auch. »Ich bin es gewohnt, dass eine Retro 30 oder 40 Filme umfasst.«
Nächstes Jahr werde es wieder mehr geben, dann dreht sich die Retrospektive um »Italienische Polizeifilme«.
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Zuvor schon hatte ich eine sehr nette Begegnung mit Lukas Foerster, der zum ersten Mal hier ist und für critic.de berichtet. Beim ersten Mal, direkt nach einem Retro-Film, war ich erstmal voll verpeilt, hab ihn nicht erkannt, und dann auch gleich weiter gemusst. Beim zweiten Mal hab ich mich dann bei ihm entschuldigt.
Dies sei sein erstes richtiges Festival seit fünf Jahren, sagt Lukas. Nicht alles sei gut, aber er sei hier jeden Tag einmal am Strand gewesen.
Das schon mal kann ich vom San-Sebastián-Novizen lernen.
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Hundertmal bestimmt, vielleicht auch zweihundertmal bin ich, so wie jetzt auf dem Fahrrad um irgendwelche vermutliche ETA-Sympathisanten herumschlängelnd, die genauso beschwipst sind wie ich, in mein Hotel gefahren. Hundertmal bestimmt habe ich mir dann vorgestellt, wie es ist, in San Sebastián zu wohnen. Und da ich ja schon etwa 200 Nächte in San Sebastián verbracht habe, habe ich irgendwie ja auch schon ein bisschen in San Sebastián gewohnt. Also gelebt. Alltag geteilt. Und doch wieder nicht. Denn ein Filmfestival ist nicht das gleiche wie Alltag. Es ist Ausnahmezustand. Es ist Exzess.
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Jetzt fahre ich also wieder einmal an einem der letzten Abende dieses Filmfestivals langsam nach Hause, also ins Hotel; beschwipst, aber noch nicht beschwipst genug, um meinen untergründigen Zorn über die postpandemischen Verhältnisse gedämpft zu haben, die auch in San Sebastián eingezogen sind. Noch nicht beschwipst genug, um nicht zu sehen, was auch hier passiert ist, um nicht zu sehen, dass San Sebastián ein Symbol ist für das, was in der ganzen Welt passiert ist: Für die
miesesten Auswirkungen des Kapitalismus, und dessen Auswirkung auf das Alltagsleben, für das Teuer-Werden der Bars, Restaurants, Cafés und Kneipen, für das Unauthentisch-Werden dieser Orte. Ich glaube, dass es keinen Ort gibt, der besser als sogenannte Kneipen und Cafés und Restaurants zeigt, wie die Welt, in der wir leben, zugrunde geht. Nicht wie sie schlechter wird, nicht wie sie sich wandelt, sondern wie sie zugrunde geht. Rotten to the heart.
Die Pandemie ist natürlich nicht
die Ursache, aber sie ist ein Treiber bei dieser Weltveränderung.
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Die leider oft sehr spießigen Basken haben Lokal-Konzessionen, die genau bis null Uhr gehen, und die deswegen nach 23.59 Uhr nichts mehr ausschenken, sich da aber auch noch irgendetwas drauf einbilden. Diese lächerlichen grotesken Bauern und die Politiker, auf die sie hören, die uns ins Bett schicken wollen! Mit welchem Recht gibt es überhaupt eine Sperrstunde? Warum gibt es nicht in bestimmten Städten bestimmte Regionen, in denen man sich aufhalten kann, wenn man möchte, trinken kann, wann man möchte, in den anderen Regionen kann man dann früh schlafen gehen, wenn es denn sein muss. Nach Mitternacht geht im Baskenland aber jedenfalls fast nichts. Und gleichzeitig geht alles; es geht alles, wenn man Leute kennt, die wissen, wo man hingeht. Es geht nichts öffentlich, es geht alles halböffentlich. Warum muss das so sein?
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Die Festival-Preise übergehen wir besser mit Schweigen. Ärgerlich, dass bekannte Namen systemisch ausgespart wurden.
(to be continued)