Wie kommen wir da nur wieder raus? |
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Weimar, Ende Oktober: »Free Gaza from Hamas« – am Haus der lokalen autonomen Szene | ||
(Foto: privat) |
Von Dunja Bialas
Ist Kollektivität die neue Anonymität? Seit dem 1. November sammelt ein »decentralized and collectively written statement« auf der Plattform internationalfilmcommunity.noblogs.org Unterschriften ein, die darauf abzielen, Lars Henrik Gass, den Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, aus seinem Amt zu treiben: »We, the undersigned, (…) call on the festival’s staff and partners to recognize the danger created by their director’s statements, to revise this position, and to take the appropriate measures to ensure responsible leadership in the future.« Ein Impressum gibt es nicht, und auch nicht, wie sonst bei Unterschriftenkampagnen üblich, eine Transparenz darüber, wer den Aufruf gestartet hat. Dafür sind die Unterzeichnenden umso bekannter. Es sind viele Freunde aus Berlin darunter, befreundete Festivalleiter aus Europa und Filmschaffende, die in Oberhausen ihre Filme gezeigt und Preise gewonnen haben. Was ist da los?
Am 20. Oktober hatte Gass auf dem Facebook-Auftritt der Kurzfilmtage Oberhausen aufgerufen, eine Solidaritätskundgebung mit Israel am Brandenburger Tor in Berlin zu besuchen. Ein breites Initiatoren-Bündnis aus den im Parlament vertretenen Parteien sowie jüdischen Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften erklärte: »Mit vielen Tausenden zeigen wir dort Solidarität mit den Menschen in Israel – und drücken auch Mitgefühl mit der palästinensischen Zivilbevölkerung aus.«
Bis zum heutigen Tag haben über 1900 Protagonisten der internationalen Filmszene die Petition gegen Gass unterzeichnet – auch weil sie finden, dass er mit dem Aufruf die Plattform seines Festivals für politische Zwecke missbraucht habe: »With his statement, the director exploits the festival as a platform to reductively and dangerously demonize any person who shows solidarity with Palestinian liberation.« Hat er das gemacht, hat er die Menschen, die solidarisch mit Palästina sind, dämonisiert?
»Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!«, hatte er geschrieben, unter dem Eindruck aufgeheizter, euphorischer und gewaltbereiter pro-palästinensischer Proteste im Berliner Stadtbezirk Mitte Oktober, die offenbar vom Netzwerk Samidoun und der Hamas unterstützt waren – die Demos sollen nach Zeitungsberichten erst durch das deutsche Verbot beider Organisationen friedvoller geworden sein.
In einer Pressemitteilung der Kurzfilmtage Oberhausen am 3.11. erklärt Gass: »Meine Absicht war nicht, die palästinensische Bevölkerung pauschal zu stigmatisieren, weder in Deutschland noch darüber hinaus. Ich bedauere, dass dieser Eindruck entstanden ist. Es handelte sich um einen spontanen Aufruf, in dem sich Trauer, Empathie, Entsetzen und Wut über den Terror vom 7. Oktober artikulierten.« Weiter schreibt er: »Das Festival bleibt ein Ort des freien Denkens und der Diskussion, von dem sich niemand seiner politischen Einstellung oder kulturellen Herkunft wegen ausgeschlossen fühlen soll. Antisemitische, rassistische und kriegsverherrlichende Haltungen haben hier keinen Platz. Wir wünschen uns, dass der Dialog fortgesetzt wird.« Die Unterschriftenliste gegen ihn und seinen Post wächst jedoch weiter an.
Fast eine Woche später, in Amsterdam: Auf dem IDFA, dem weltweit größten Filmfestival für Dokumentarfilm, wird während der Eröffnung am 9. November die Bühne von zwei Aktivisten erobert und ein Transparent mit dem Claim »From the river to the sea, Palestine will be free« entrollt. Der Festivalleiter Orwa Nyrabia applaudiert. Am nächsten Tag erklärt er: »The slogan written on the banner held by the young protesters, which later was reported as very visible to the audience but not to me on stage, is a triggering statement and an offensive declaration for many, regardless of who carries it. It does not represent IDFA, and was and will not be endorsed. I apologize for not paying attention to the banner in the moment. I clapped to welcome freedom of speech, and not to welcome the slogan.«
Kleiner Einschub an dieser Stelle: Das deutsche Innenministerium hat am 2.11., im Zuge des Vereinsverbots der Hamas in Deutschland, auch den in Amsterdam gezeigten Slogan auf die Verbotsliste gesetzt. Damit steht in Deutschland die Verwendung der zentralen, identitätsstiftenden pro-palästinensischen Parole, die von der Hamas als anti-israelischer Schlachtruf benutzt wird (und nur deshalb von der Meinungsfreiheit ausgenommen wird), auf derselben Stufe wie das Zeigen der verbotenen NS-Symbole. Es drohen bis zu drei Jahre Haft, wenn man den Claim in Deutschland benutzt.
Anders in den Niederlanden, wo das Höchste Gericht den Satz erst Mitte August unter den Schutz der Meinungsfreiheit gestellt hatte. Am 12.11., wiederum in Amsterdam: Eine Petition wird von »Workers for Palestine« gestartet, gegen Festivalleiter Orwa Nyrabia. Darin wird zum Festival-Boykott aufgerufen, solange Nyrabia (im Übrigen ein Syrer) nicht die Distanzierung vom Claim »From the river…« zurücknähme. Bislang haben über 1200 Leute unterzeichnet, ein Dutzend Filmemacher haben ihre Filme vom Festival zurückgezogen. Nyrabia verfasst am selben Tag ein zweites Statement: »(…) Lastly, we understand that the slogan that is at the heart of the on-going discussion is used by various parties in different ways and is perceived by various people in various manners. We are not ignoring, undermining nor criminalizing any of these positions and we fully respect and acknowledge the pain that is going around and the extreme urgency of these discussions while war is still on, and innocent civilians are still dying.« Der Festivalleiter weiter: »IDFA is an open platform and not a censor. Our aim is to make sure everybody feels welcome and safe to express themselves and to listen openly to others, even when in disagreement. Our hope is that everybody feels entitled to use this platform, seriously and responsibly, lovingly and sincerely.« Auch gegen ihn wächst die Protest-Liste unbeeindruckt von den Erklärungen weiter an.
Hier ist nicht der Ort, und die Autorin fühlt sich dazu weder berufen noch kompetent, um Politik oder gar den Nahost-Konflikt zu erklären. Es scheint sich aber ein Befindlichkeitsspektrum im Westen ergeben zu haben, das sich aus der Gemengelage von Post-Kolonialismus, Siebzigerjahre-Solidarität mit der säkularen PLO, der »cause paléstinienne«, wie sie Godard in seinen Filmen immer wieder mit knarzender Stimme beschwor, zusammensetzt. Die islamistische Hamas wird da nur ungern in den Blick genommen, weil sie einen Störfaktor im Weltbild darstellt – steht sie doch für ein anderes, homophobes und misogynes Narrativ, das zur westlichen Idee von einem freien Palästina kaum noch passen kann. Jetzt ist, fast vier Wochen nach dem Berliner Aufruf zur Solidarität mit Israel, der Krieg gegen die Hamas auf einer dramatischen Eskalationsstufe angekommen, vor der niemand die Augen verschließt, auch nicht jene, die Solidarität mit Israel wollen.
Aber ist das ein Grund, Kampagnen, die über jede Verhältnismäßigkeit hinausschießen, gegen Leiter von Festivals zu fahren, deren erklärtes Ziel der demokratische Austausch und die Meinungsvielfalt ist?
Trauriges Fazit der letzten Wochen: Gesagtes lässt sich nicht ungesagt machen, selbst wenn Entschuldigungen oder Erklärungen folgen, wenn das die andere Seite nicht will. Die Eigendynamik im Internet lässt sich nicht aufhalten. Und die aus den Fugen geratene Welt lässt sich nicht mehr zurechtrücken.
Wie kommen wir da nur wieder raus?
Petition der »Workers for Palestine« ist hier nachzulesen:
https://www.change.org/p/petition-against-institutional-vilification-and-censorship-in-the-filmmaking-industry