16.11.2023

Wie kommen wir da nur wieder raus?

Free Gaza From Hamas
Weimar, Ende Oktober: »Free Gaza from Hamas« – am Haus der lokalen autonomen Szene
(Foto: privat)

Die Festivalleiter der Kurzfilmtage Oberhausen und des Dokumentarfilmfestivals Amsterdam sind unter dem Eindruck der Israel-Palästina-Proteste Zielscheibe von Petitionen geworden

Von Dunja Bialas

Ist Kollek­ti­vität die neue Anony­mität? Seit dem 1. November sammelt ein »decen­tra­lized and coll­ec­tively written statement« auf der Plattform inter­na­tio­nal­film­com­mu­nity.noblogs.org Unter­schriften ein, die darauf abzielen, Lars Henrik Gass, den Leiter der Kurz­film­tage Ober­hausen, aus seinem Amt zu treiben: »We, the under­si­gned, (…) call on the festival’s staff and partners to recognize the danger created by their director’s state­ments, to revise this position, and to take the appro­priate measures to ensure respon­sible leader­ship in the future.« Ein Impressum gibt es nicht, und auch nicht, wie sonst bei Unter­schrif­ten­kam­pa­gnen üblich, eine Trans­pa­renz darüber, wer den Aufruf gestartet hat. Dafür sind die Unter­zeich­nenden umso bekannter. Es sind viele Freunde aus Berlin darunter, befreun­dete Festi­val­leiter aus Europa und Film­schaf­fende, die in Ober­hausen ihre Filme gezeigt und Preise gewonnen haben. Was ist da los?

Am 20. Oktober hatte Gass auf dem Facebook-Auftritt der Kurz­film­tage Ober­hausen aufge­rufen, eine Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung mit Israel am Bran­den­burger Tor in Berlin zu besuchen. Ein breites Initia­toren-Bündnis aus den im Parlament vertre­tenen Parteien sowie jüdischen Verbänden, Kirchen und Gewerk­schaften erklärte: »Mit vielen Tausenden zeigen wir dort Soli­da­rität mit den Menschen in Israel – und drücken auch Mitgefühl mit der paläs­ti­nen­si­schen Zivil­be­völ­ke­rung aus.«

Bis zum heutigen Tag haben über 1900 Prot­ago­nisten der inter­na­tio­nalen Filmszene die Petition gegen Gass unter­zeichnet – auch weil sie finden, dass er mit dem Aufruf die Plattform seines Festivals für poli­ti­sche Zwecke miss­braucht habe: »With his statement, the director exploits the festival as a platform to reduc­tively and dangerously demonize any person who shows soli­da­rity with Pales­ti­nian libe­ra­tion.« Hat er das gemacht, hat er die Menschen, die soli­da­risch mit Palästina sind, dämo­ni­siert?

»Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamas­freunde und Juden­hasser in der Minder­heit sind. Kommt alle! Bitte!«, hatte er geschrieben, unter dem Eindruck aufge­heizter, eupho­ri­scher und gewalt­be­reiter pro-paläs­ti­nen­si­scher Proteste im Berliner Stadt­be­zirk Mitte Oktober, die offenbar vom Netzwerk Samidoun und der Hamas unter­s­tützt waren – die Demos sollen nach Zeitungs­be­richten erst durch das deutsche Verbot beider Orga­ni­sa­tionen fried­voller geworden sein.

In einer Pres­se­mit­tei­lung der Kurz­film­tage Ober­hausen am 3.11. erklärt Gass: »Meine Absicht war nicht, die paläs­ti­nen­si­sche Bevöl­ke­rung pauschal zu stig­ma­ti­sieren, weder in Deutsch­land noch darüber hinaus. Ich bedauere, dass dieser Eindruck entstanden ist. Es handelte sich um einen spontanen Aufruf, in dem sich Trauer, Empathie, Entsetzen und Wut über den Terror vom 7. Oktober arti­ku­lierten.« Weiter schreibt er: »Das Festival bleibt ein Ort des freien Denkens und der Diskus­sion, von dem sich niemand seiner poli­ti­schen Einstel­lung oder kultu­rellen Herkunft wegen ausge­schlossen fühlen soll. Anti­se­mi­ti­sche, rassis­ti­sche und kriegs­ver­herr­li­chende Haltungen haben hier keinen Platz. Wir wünschen uns, dass der Dialog fort­ge­setzt wird.« Die Unter­schrif­ten­liste gegen ihn und seinen Post wächst jedoch weiter an.

Fast eine Woche später, in Amsterdam: Auf dem IDFA, dem weltweit größten Film­fes­tival für Doku­men­tar­film, wird während der Eröffnung am 9. November die Bühne von zwei Akti­visten erobert und ein Trans­pa­rent mit dem Claim »From the river to the sea, Palestine will be free« entrollt. Der Festi­val­leiter Orwa Nyrabia applau­diert. Am nächsten Tag erklärt er: »The slogan written on the banner held by the young protes­ters, which later was reported as very visible to the audience but not to me on stage, is a trig­ge­ring statement and an offensive decla­ra­tion for many, regard­less of who carries it. It does not represent IDFA, and was and will not be endorsed. I apologize for not paying attention to the banner in the moment. I clapped to welcome freedom of speech, and not to welcome the slogan.«

Kleiner Einschub an dieser Stelle: Das deutsche Innen­mi­nis­te­rium hat am 2.11., im Zuge des Vereins­ver­bots der Hamas in Deutsch­land, auch den in Amsterdam gezeigten Slogan auf die Verbots­liste gesetzt. Damit steht in Deutsch­land die Verwen­dung der zentralen, iden­ti­täts­stif­tenden pro-paläs­ti­nen­si­schen Parole, die von der Hamas als anti-israe­li­scher Schlachtruf benutzt wird (und nur deshalb von der Meinungs­frei­heit ausge­nommen wird), auf derselben Stufe wie das Zeigen der verbo­tenen NS-Symbole. Es drohen bis zu drei Jahre Haft, wenn man den Claim in Deutsch­land benutzt.

Anders in den Nieder­landen, wo das Höchste Gericht den Satz erst Mitte August unter den Schutz der Meinungs­frei­heit gestellt hatte. Am 12.11., wiederum in Amsterdam: Eine Petition wird von »Workers for Palestine« gestartet, gegen Festi­val­leiter Orwa Nyrabia. Darin wird zum Festival-Boykott aufge­rufen, solange Nyrabia (im Übrigen ein Syrer) nicht die Distan­zie­rung vom Claim »From the river…« zurück­nähme. Bislang haben über 1200 Leute unter­zeichnet, ein Dutzend Filme­ma­cher haben ihre Filme vom Festival zurück­ge­zogen. Nyrabia verfasst am selben Tag ein zweites Statement: »(…) Lastly, we under­stand that the slogan that is at the heart of the on-going discus­sion is used by various parties in different ways and is perceived by various people in various manners. We are not ignoring, under­mi­ning nor crimi­na­li­zing any of these positions and we fully respect and acknow­ledge the pain that is going around and the extreme urgency of these discus­sions while war is still on, and innocent civilians are still dying.« Der Festi­val­leiter weiter: »IDFA is an open platform and not a censor. Our aim is to make sure everybody feels welcome and safe to express them­selves and to listen openly to others, even when in disagree­ment. Our hope is that everybody feels entitled to use this platform, seriously and respon­sibly, lovingly and sincerely.« Auch gegen ihn wächst die Protest-Liste unbe­ein­druckt von den Erklärungen weiter an.

Hier ist nicht der Ort, und die Autorin fühlt sich dazu weder berufen noch kompetent, um Politik oder gar den Nahost-Konflikt zu erklären. Es scheint sich aber ein Befind­lich­keits­spek­trum im Westen ergeben zu haben, das sich aus der Gemenge­lage von Post-Kolo­nia­lismus, Sieb­zi­ger­jahre-Soli­da­rität mit der säkularen PLO, der »cause palés­ti­ni­enne«, wie sie Godard in seinen Filmen immer wieder mit knar­zender Stimme beschwor, zusam­men­setzt. Die isla­mis­ti­sche Hamas wird da nur ungern in den Blick genommen, weil sie einen Stör­faktor im Weltbild darstellt – steht sie doch für ein anderes, homo­phobes und misogynes Narrativ, das zur west­li­chen Idee von einem freien Palästina kaum noch passen kann. Jetzt ist, fast vier Wochen nach dem Berliner Aufruf zur Soli­da­rität mit Israel, der Krieg gegen die Hamas auf einer drama­ti­schen Eska­la­ti­ons­stufe ange­kommen, vor der niemand die Augen verschließt, auch nicht jene, die Soli­da­rität mit Israel wollen.

Aber ist das ein Grund, Kampagnen, die über jede Verhält­nis­mäßig­keit hinaus­schießen, gegen Leiter von Festivals zu fahren, deren erklärtes Ziel der demo­kra­ti­sche Austausch und die Meinungs­viel­falt ist?

Trauriges Fazit der letzten Wochen: Gesagtes lässt sich nicht ungesagt machen, selbst wenn Entschul­di­gungen oder Erklärungen folgen, wenn das die andere Seite nicht will. Die Eigen­dy­namik im Internet lässt sich nicht aufhalten. Und die aus den Fugen geratene Welt lässt sich nicht mehr zurech­trü­cken.

Wie kommen wir da nur wieder raus?