16.11.2023

Greece Inside

Black Stone
Besonderer Blick auf die griechische Gesellschaft: Black Stone
(Foto: 37. Griechische Filmwoche)

Die Griechische Filmwoche München findet bereits zum 37. Mal statt. Dieses Jahr werden die Filme des Festivals an den drei Spielorten Rio Filmpalast, Neues Rottmann und Gasteig HP8 gezeigt

Von Elke Eckert

Eröffnet wird die Filmwoche mit Inside, einem Mix aus Psycho­thriller und Survi­val­drama. Nemo soll aus einem New Yorker Penthouse Kunst­werke in Millio­nen­höhe entwenden. Für einen Meis­ter­dieb wie ihn sollte das kein Problem sein, und zunächst sieht auch alles nach einem erfolg­rei­chen Raubzug aus. Doch plötzlich werden durch das Sicher­heits­system, das der wohl­ha­bende Sammler instal­liert hat, alle Ein- und Ausgänge verrie­gelt und Nemo sitzt in einem Luxus­ge­fängnis, aus dem es kein Entkommen gibt. Weil ihm weder seine Komplizen zu Hilfe kommen noch der Hausherr oder die Polizei ihn aus seiner verzwei­felten Lage befreien, beginnt für den Einge­schlos­senen ein drama­ti­scher Kampf ums Überleben… Willem Dafoe, bereits viermal für den Oscar nominiert, liefert mit dieser Solo­vor­stel­lung sein Meis­ter­s­tück ab. Es ist beklem­mend und beängs­ti­gend mitan­zu­sehen, wie sein Nemo langsam aber sicher den Verstand verliert. Regisseur Vasilis Katsoupis gelingt es in seinem Spiel­film­debüt, diese schau­spie­le­ri­sche Tour de Force visuell perfekt umzu­setzen. Drehort war Köln, wo das Appar­te­ment im Film­studio entstand. Das fesselnde Drama feierte auf der letzten Berlinale seine Welt­pre­miere. (Eröffnung: Samstag, 18.11. um 19.30 Uhr, Rio Film­pa­last / Mittwoch, 22.11. um 18 Uhr, Gasteig HP8)

Haroula, die Heldin und Haupt­dar­stel­lerin von Black Stone, verliert nicht den Kontakt zur Außenwelt, sondern zu ihrem ältesten Sohn Panos. Der ist von einer Minute auf die andere wie vom Erdboden verschluckt und für seine Mutter nicht mehr zu erreichen. Weder tele­fo­nisch noch an seinem Arbeits­platz. Statt­dessen trifft Haroula auf ein Filmteam, das eine Doku­men­ta­tion über Behörden und Beamte drehen will. Die verzwei­felte Mutter glaubt, dass die Kame­ra­leute vom Fernsehen sind und hofft mit ihrer Hilfe, Panos zu finden. Und so nimmt eine skurrile Geschichte ihren Lauf, in der vieles nicht so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint… Die schräge Tragi­komödie punktet mit einer origi­nellen Story und einem über­zeu­genden Cast. Neben Eleni Kokkidou als Haroula macht vor allem Julio George Katsis, der den jüngeren, körper­be­hin­derten Sohn spielt, Spiros Jacovides‘ Regie­debüt sehens­wert. Sein beson­derer Blick auf die grie­chi­sche Gesell­schaft wurde beim Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival in Thes­sa­lo­niki mit insgesamt vier Preisen ausge­zeichnet und erhielt beim Triest Film Festival den Publi­kums­preis. (Sonntag, 19.11. um 20 Uhr, Rio Film­pa­last / Sonntag, 26.11. um 20 Uhr, Neues Rottmann)

Eine Familie steht auch im Mittel­punkt von Dimitris Katsi­miris‘ Drama Dignity. Der 80. Geburtstag ihres Vaters bringt die drei Geschwister Manolis, Sofia und Alexis wieder zusammen. Manolis will sich nicht mehr alleine um seinen schwer­kranken Vater kümmern, der nach einem Schlag­an­fall perma­nente Pflege braucht. Er möchte, dass auch sein Bruder und seine Schwester in Zukunft Verant­wor­tung über­nehmen. Beim Versuch, eine Lösung zu finden, bröckeln mühsam errich­tete Fassaden und vermeint­lich Verges­senes aus der Vergan­gen­heit kommt auf den Tisch… Regisseur Katsi­miris lässt in seinem Film, der an ein Thea­ter­s­tück erinnert, ein Fami­li­en­treffen aus dem Ruder laufen. Weil die Kamera nah an den Prot­ago­nisten ist, hat man als Zuschauer das Gefühl, mitten­drin zu sein. (Mittwoch, 22.11. um 20.30 Uhr, Gasteig HP8)

Behind the Haystacks spielt im Jahr 2015. Bauer Stergios lebt mit seiner Familie an der Grenze zu Nord­ma­ze­do­nien. Weil ihn wegen hoher Steu­er­schulden finan­zi­elle Sorgen plagen, lässt er sich auf einen Deal mit der örtlichen Mafia ein und schmug­gelt Flücht­linge über den Grenzsee. Auch seine Frau Maria und seine Tochter Anastasia verhalten sich nicht den dörf­li­chen Konven­tionen entspre­chend. Maria sympa­thi­siert mit den Flücht­lingen und will ihnen helfen. Anastasia tritt nach ihrem Job im Kran­ken­haus als Sängerin in einem Nachtclub auf. All diese Heim­lich­keiten haben tragische Konse­quenzen für die ganze Familie… Regis­seurin und Autorin Asimina Proedrou erzählt ihre gesell­schafts­kri­ti­sche Geschichte in drei Kapiteln. So gelingt ihr eine genaue Charak­ter­zeich­nung der handelnden Personen, die alle auf sehr persön­liche Art und Weise mit poli­ti­schen Heraus­for­de­rungen konfron­tiert werden. Das Drama ist vielfach preis­ge­krönt, unter anderem erhielt es 2023 den Iris Award für die beste Regie, das beste Origi­nal­dreh­buch und das beste Spiel­film­debüt. (Samstag, 25.11. um 20 Uhr, Neues Rottmann)

Ein Jahr früher, 2022, wurde Magnetic Fields als bester Spielfilm des Jahres ausge­zeichnet. Elena und Antonis begegnen sich auf dem Schiff nach Kefalonia, einer Insel im Ionischen Meer. Elena hat es zufällig dorthin verschlagen. Antonis hat ein konkretes Ziel: den Insel­friedhof. Dort will er die Urne seiner Tante beisetzen. Weil büro­kra­ti­sche Hürden die Beer­di­gung behindern, beschließen die beiden, die Insel zu erkunden und auf eigene Faust einen Ort für die Urne zu finden. Comic­buch­autor Yorgos Goussis ließ sich für sein Regie­debüt von Richard Link­la­ters Before-Trilogie inspi­rieren. Sein melan­cho­li­scher Film lebt aber nicht nur von der Anziehung zwischen den zwei Haupt­dar­stel­lern, sondern auch von der beson­deren Stimmung und Stille, die beim Dreh während der Corona-Pandemie auf der Insel herrschte. (Dienstag, 21.11. um 20 Uhr, Gasteig HP8 / Sonntag, 26.11. um 18 Uhr, Neues Rottmann)

Jeden Tag von 6 Uhr bis 9 Uhr ist es auch in der grie­chi­schen Küsten­stadt, in der Christos Passalis‘ surreales Drama Silence 6-9 spielt, absolut still. Aris, ein junger Mann, soll dort einen EDV-Job antreten. Doch plötzlich verschwinden um ihn herum Menschen, und keiner weiß, wohin. Mitten in diesem Albtraum lernt Aris Anna kennen, die im selben Hotel wohnt. Die beiden verbringen Zeit mitein­ander und verlieben sich, bis auch Anna verschwindet… Passalis‘ Regie­debüt ist eine Parabel über Verlust und Vergessen. Die futu­ris­ti­sche Liebes­ge­schichte erhielt sechs Nomi­nie­rungen bei den Iris Awards, unter anderem für Ton und Kamera. (Sonntag, 19.11. um 18 Uhr, Rio Film­pa­last)

Sotiris Goritsas‘ Where We Live wirkt ebenfalls wie aus Raum und Zeit gefallen. Dreh- und Angel­punkt der tragi­ko­mi­schen Geschichte ist der Athener Antonis, seines Zeichens Anwalt, Sohn und Freund. An seinem 40. Geburtstag bekommt er die Gele­gen­heit, sein in allen Bereichen eher glück- und erfolg­loses Leben noch einmal entschei­dend zu ändern… Regisseur Goritsas hat auch das Drehbuch geschrieben, zusammen mit Christos Kyth­reotis, auf dessen gleich­na­migem Roman sein Film basiert. Das Drama feierte im vergan­genen Mai beim Greek Film Festival in Berlin Deutsch­land­pre­miere. (Samstag, 25.11. um 18 Uhr, Neues Rottmann)

Neben diesen aktuellen Spiel­filmen hat die Filmwoche auch vier Doku­men­ta­tionen im Programm, die sich mit Bildungs­per­spek­tiven und Gerech­tig­keits- und Gleich­be­rech­ti­gungs­fragen in der grie­chi­schen Gesell­schaft befassen. Die Doku Kristos: The Last Child nimmt die Zuschauer mit auf die kleine Insel Arki. Dort leben nur 30 Menschen, einer von ihnen ist Kristos. Weil es keine weiteren Kinder mehr auf Arki gibt, ist der Junge auch der einzige Schüler der örtlichen Grund­schule. Um eine weiter­füh­rende Schule zu besuchen, müsste er die Insel verlassen. Dafür haben seine Eltern nicht genügend Geld, sie wollen, dass er Hirte wird wie seine Brüder. Kristos Lehrerin ist jedoch überzeugt davon, dass er studieren könnte, und sucht nach einer Lösung, um ihm eine gute Ausbil­dung zu ermög­li­chen… Regis­seurin Giulia Amati hat Kristos und sein Umfeld ein Jahr lang begleitet und nimmt für ihren Doku­men­tar­film die Perspek­tive des Jungen ein. Ihr emotio­nales Porträt wurde mit dem DOK.fest-Preis der SOS-Kinder­dörfer ausge­zeichnet, beim Doku­men­tar­film­fes­tival in Thes­sa­lo­niki erhielt es unter anderem den Preis für die beste Regie. (Montag, 20.11. um 18 Uhr, Gasteig HP8 / Dienstag, 21.11. um 9 Uhr, Gasteig HP8, Schul­vor­füh­rung nur über Voranmel­dung bei DOK.education)

Zwei Jahre lang war Regisseur Lucas Paleo­crassas an der Seite seiner jungen Prot­ago­nisten, die während Pandemie und Wirt­schafts­krise ihren Abschluss an einem staat­li­chen Gymnasium in Athen gemacht haben. Sein Doku­men­tar­film erzählt von den Schwie­rig­keiten und Bedürf­nissen von Schü­le­rinnen und Schülern, die ihren Alltag auch trotz Lockdowns und Schul­pro­testen für Bildungs­re­formen meistern müssen. Unter­richtet von Lehrern, von denen sie sich oft nicht verstanden fühlen. Final Year zeigt die Grie­chi­sche Filmwoche in Zusam­men­ar­beit mit dem Club der Grie­chi­schen Akade­miker in München. Mit dieser Koope­ra­tion soll auf den psycho­lo­gi­schen Druck aufmerksam gemacht werden, dem grie­chi­sche Jugend­liche in der Abschluss­klasse des Gymna­siums ausge­setzt sind, aber auch die Beziehung von Kindern und Jugend­li­chen zum Kino gestärkt werden. (Dienstag, 21.11. um 18 Uhr, Gasteig HP8 / Samstag, 25.11. um 16 Uhr, Neues Rottmann, in Anwe­sen­heit des Regis­seurs)

Für Grief: Those Who Remain trafen die Regis­seu­rinnen Maria Louka und Myrto Patsal­idou Angehö­rige von drei Menschen, die in den vergan­genen Jahren Opfer rassis­ti­scher und diskri­mi­nie­render Gewalt wurden. Pavlos Fyssas, ein junger grie­chi­scher Rapper und Aktivist, wurde 2013 von einem Mitglied der neona­zis­ti­schen Orga­ni­sa­tion „Goldene Morgen­röte“ ermordet. Der Pakistani Shahzad Luqman starb im Athener Stadtteil Petralona durch einen Angriff von zwei Motor­rad­fah­rern. Im September 2018 kam Zak Kosto­poulos, ein LGBTIQ-Aktivist, ebenfalls bei einem Mord­an­schlag in der grie­chi­schen Haupt­stadt ums Leben. Die beiden Regis­seu­rinnen legen den Fokus ihrer Doku­men­ta­tion auf die Trauer und die Erfah­rungen der Hinter­blie­benen und zeigen, wie deren Schmerz über die schweren Verluste sie dazu veran­lasst hat, für eine gerech­tere Gesell­schaft zu kämpfen. Die berüh­rende Doku feiert bei der Grie­chi­schen Filmwoche ihre Deutsch­land­pre­miere. (Donnerstag, 23.11. um 20 Uhr, Gasteig HP8)

Der Doku­men­tar­film AKOE/AMFI: The Story of a Revo­lu­tion (*Just to Sleep on Their Chest?) ist eine Hommage an die erste grie­chi­sche LGBTQ+-Gemein­schafts­be­we­gung (AKOE). Die Bewegung für die Befreiung von Homo­se­xu­ellen und Trans­se­xu­ellen entstand 1977, weil die demo­kra­ti­schen Parteien trotz des Endes der grie­chi­schen Mili­tär­dik­tatur an einem Gesetz fest­hielten, nach dem Homo­se­xu­elle, die öffent­lich nach einem Partner suchten, mit Gefängnis bestraft werden sollten. Ein wesent­li­cher Teil der Bewegung war das Print­ma­gazin „Amfi“, das als Sprach­rohr und wich­tigste Infor­ma­ti­ons­quelle queerer Menschen diente. Iossif Vardakis‘ Doku würdigt das mutige Enga­ge­ment der Akti­vis­tinnen und Akti­visten und ihren Kampf für Akzeptanz und Gleich­be­rech­ti­gung. Der Film feiert auf der Grie­chi­schen Filmwoche seine Deutsch­land­pre­miere und wird in Zusam­men­ar­beit mit dem QFFM | Queer Film Festival München gezeigt. (Donnerstag, 23.11. um 18 Uhr, Gasteig HP8)

Nikos Niko­laidis, einem der bedeu­tendsten Regis­seure des Neuen Grie­chi­schen Kinos, ist die dies­jäh­rige Retro­spek­tive gewidmet. Niko­laidis wurde beim Thes­sa­lo­niki Film Festival fünfmal als bester Regisseur ausge­zeichnet, häufiger als jeder andere. Nichts­des­to­trotz sorgten die Filme des 1939 in Athen geborenen Filme­ma­chers stets für Kontro­versen. Auch 16 Jahre nach seinem Tod haben seine unkon­ven­tio­nellen Werke, die meistens Menschen am Rand der Gesell­schaft in den Mittel­punkt stellen, nichts von ihrer Faszi­na­tion verloren. Auf der Filmwoche zu sehen sind zwei seiner Dramen, die den ersten und letzten Teil einer Trilogie bildeten.

In The Wretches Are Still Singing von 1979 geht es um fünf Freunde, die sich nach langer Zeit wieder­treffen. Ihre Leben sind mitt­ler­weile von Gewalt­taten, Gefängnis, Obdach­lo­sig­keit und psychi­schen Problemen geprägt. Beim Wieder­sehen entsorgen Alkis und sein Kumpel Konstan­tinos erstmal eine Leiche. Trotz dieses Freund­schafts­dienstes will sich die alte Verbun­den­heit aus Jugend­tagen nicht mehr einstellen… Mit seinem Drama malt Niko­laidis ein düsteres und vers­tö­rendes Bild des Nach­kriegs­grie­chen­lands. Seine Prot­ago­nisten sind Zyniker, die sich von der Gesell­schaft und dem poli­ti­schen System abgewandt haben und ihre innere Leere mit Verbre­chen füllen. Der surreale Film Noir gewann beim Thes­sa­lo­niki Film­fes­tival 1979 unter anderem den Preis für die beste Regie. (Freitag, 24.11. um 18 Uhr, Gasteig HP8)

Den letzten Teil der Trilogie Die Jahre der Cholera drehte Niko­laidis 2002. The Loser Takes It All erzählt von einer Handvoll Außen­seiter, die alle mit ihren inneren Dämonen zu kämpfen haben und nach Unab­hän­gig­keit und Selbst­be­stim­mung streben. Als sie aufein­an­der­treffen, lassen sie sich auf ein Spiel ohne Regeln ein, bei dem die Grenzen zwischen Verlie­rern und Gewinnern fließend sind. (Freitag, 24.11. um 20.15 Uhr, Gasteig HP8)

Wie immer wird das Programm der Grie­chi­schen Filmwoche durch eine Auswahl von Kurz­filmen abge­rundet. Gezeigt werden sieben kleine Kunst­werke, mit denen junge Filme­ma­che­rinnen und Filme­ma­cher auf sich aufmerksam gemacht und ihr Talent unter Beweis gestellt haben. Das Kurz­film­pro­gramm ist eine gelungene Mischung aus schwarzen Komödien, origi­nellem Anima­ti­ons­film und sehr persön­li­chen Doku­men­tar­filmen. (Sonntag, 26.11. ab 15 Uhr, Neues Rottmann)

Inside, Behind the Haystacks und Kristos, Kristos: The Last Child sind im grie­chi­schen Original mit deutschen Unter­ti­teln zu sehen, alle anderen Filme werden in der Origi­nal­fas­sung mit engli­schen Unter­ti­teln gezeigt.