Cinema Moralia – Folge 312
Wer andern eine Chance gibt... |
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Stan Laurel (links) und Oliver Hardy (1938) | ||
(Foto: Harry Warnecke · National Portrait Gallery NPG.94.47, CC0) |
»Fair is foul and foul is fair...«
- Macbeth
Es gab auf verschiedenen Kanälen, auch direkt bei mir, überdurchschnittlich viele Reaktionen und auch viel Kritik an meinem schnellen Urteil über die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle, von der ich noch nicht weiß, ob sie jetzt »Direktorin« oder Intendantin heißt.
Die Kritik gab es natürlich vor allem, seien wir ehrlich, weil es ein negatives Urteil war – denn geurteilt haben alle. Nur überraschend positiv. Überraschend vor allem, weil kaum einer sie auf dem Schirm hatte
und die meisten sie 24 Stunden vor ihren fröhlichen Jubeltexten noch gar nicht kannten.
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Und dann diese Sprüche: Man soll ja doch erstmal eine Chance geben. »Gebt ihr doch erstmal eine Chance!« Wieso? Wieso muss man ihr eine Chance geben? Wieso müssen wir ihr eine Chance geben – wer ist überhaupt dieses »wir«? Ist damit die deutsche Filmbranche gemeint, ist damit die internationale Filmcommunity gemeint, ist Berlin gemeint, die deutschen Medien, die Öffentlichkeit (was immer das sein soll)? Wer ist dieses wir? Dieses wir gibt es überhaupt nicht. Und wieso muss ich ihr eine Chance geben? Wer bin ich das zu tun?
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Das wichtigste aber: Sie hat diese Chance doch längst! Wir müssen ihr keine Chance geben und wir sind auch gar nicht dazu imstande. Denn sie hat ihre Chance bekommen. Jetzt muss sie sie nutzen. Und unsere Aufgabe ist, sie dabei zu begleiten, zu sagen, was dafür und dagegen spricht, dass sie diese Chance nutzt. Aufgabe ist, zu beurteilen wie sie diese Chance nutzt, zu konstatieren, was sie richtig macht und was sie falsch macht. Wir sind nicht die Kulturstaatsministerin, die irgendwann über ihr Schicksal entscheiden wird, so wie sie jetzt schon drüber entschieden hat. Wir sind größtenteils noch nicht mal die Filmschaffenden, die einen so massiven Einfluss haben. Es ist dies alles ein völliges Missverständnis unserer Rolle, dass immer davon geredet wird, wir müssten ihr eine Chance geben.
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Es gab allerdings auch umgekehrt einigen Beifall. Ein erfahrener Szenebeobachter mailte mir »...alles korrekt soweit«.
Ein früherer langjähriger Berlinale-Mitarbeiter – nein, nicht Dieter Kosslick – schrieb mir: »...finde ich deinen Text gut. Natürlich hat das perfide Hintergründe und das London Film Festival geleitet zu haben ist eher eine abturnende Referenz, denn das ist ein 'Festivals of Festivals', ein reines Nachspielfestival fast ohne Events und eine
akademische Pflichtübung eines Filmmuseums. Dass die inzwischen im ganzen Land Vorführungen machen, ist auch keine Empfehlung, ebenso wenig wie die Online-Affinität. Und die LGBTQ-Sachen, für die sie zunächst zuständig war, sind ja eher Panorama-Territorium bei der Berlinale. Die ja funktionierende Filmmesse dürfte sie auch versemmeln und weil die nächste Regierung wohl eine andere oder gar keine Kulturministerin haben dürfte, ist die Kurzzeitigkeit ihres Engagements
ebenfalls fast schon beschlossen. In Cannes und Venedig dürften die Sektkorken geknallt haben und in Locarno und Toronto auch noch. Ab gleich in die dritte Liga.«
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Plötzlich scheint es, alle fänden Tricia Tuttle gut oder sie sagen sinngemäß oder wörtlich: Jetzt gebt ihr doch mal eine Chance.
Warum aber sollte artechock das auch schreiben? Warum sollen wir auch noch schreiben, was alle schreiben? Wir werden die ersten sein, die, wenn sie uns positiv überrascht, sie loben werden und diese positive Überraschung eingestehen. Aber sie kann uns auch nur positiv überraschen, weil die Tatsache, ob wir eine Chance geben oder nicht, vollkommen
irrelevant ist. Das, was relevant ist, ist, dass die Rahmenbedingungen denkbar schlecht sind und sich kein bisschen dadurch ändern, dass sie benannt wurde und nicht jemand anders. Wir glauben allerdings tatsächlich, dass diese Rahmenbedingungen von anderen Personen wesentlich besser geändert werden könnten. Unter den auch öffentlich genannten Personen gibt es in jedem Fall zwei, die das sehr gut hätten machen können.
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Ein Niederländer und ein Schweizer hatte ich vor zwei Wochen geschrieben, hätten die besten Chancen. Weil die Namen schon vor Tuttles Ernennung öffentlich wurden, weil sie tatsächlich zu Kandidaten in der engeren Auswahl gehörten, kann man sie guten Gewissens nennen: Matthijs Wouter Knol [https://de.wikipedia.org/wiki/Matthijs_Wouter_Knol] und Christian Jungen [https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Jungen] würden beide sehr gute Berlinale-Chefs sein. Aus ganz unterschiedlichen Gründen: Wouter kennt die Berlinale, viele Mitarbeiter und überhaupt die Berliner Szene aus dem Eff-Eff. Und Jungen ist einer der führenden Experten für Filmfestivals. Beide sind auf ihre je eigene Weise Intellektuelle. Bei Jungen hätte man eine spannende Mischung aus Liebe fürs Autorenkino und Liebe für Hollywood erwarten können, bei Wouter einen womöglich etwas stärkeren Fokus auf Nicht-US-Autorenfilme.
Eine solche Expertise muss Tuttle erst unter Beweis stellen. Sie ist hier ein vergleichsweise unbeschriebenes Blatt.
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Trotzdem jubelt schon wieder der »Tagesspiegel«: »Roth ist mit ihrer Entscheidung ... ein Coup gelungen. Zumal einer von internationaler Ausstrahlung, der sicher auch von der Konkurrenz wahrgenommen wird. ... Eine supersmarte, großzügige und kollaborative Leiterin ...«
Man lobt, Tuttle habe die »Transformation« eingeleitet: Das heißt Erweiterung des Digitalangebots, viel Streaming, viele Streamerfilme, Ableger in anderen Städten, »Die Zahl an prominenten Gästen ist inzwischen schwindelerregend« (Tagesspiegel), Mentorenprogramm, »unter ihrer Leitung stieg die Reichweite des Festivals um über 50 Prozent. Damit zählt das London Film Festival heute zu den international wichtigsten Publikumsfestivals.« (ebenda).
Und natürlich: »ganzheitliche Sicht« auf den Festivalbetrieb: »Meine große Leidenschaft gilt der Frage, wie man Festivals inklusiver und einladender gestalten kann.«
Vielleicht sollte sie ihre Leidenschaft mal fürs Erste auf die Frage der künstlerischen Qualität konzentrieren.
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Bei einem positiveren Urteil erlebt ein Autor viel seltener, dass ihm gesagt wird: »Warum so viel Vorschusslorbeeren? Warte es doch mal ab...«
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Die Pressekollegen haben viel Falsches geschrieben: Tuttle habe das Londoner Festival »zehn Jahre« geleitet. Es waren offiziell vier und eines als Interimschefin. Carlo Chatrian sei »gekündigt« worden. Brauchte man nicht, denn der Vertrag lief aus und er erklärte selbst, dass er ihn nicht verlängern wolle. Klar: Dafür gab es Gründe. Trotzdem geht es genauer.
Wenn im deutschen Kulturbetrieb eine »Fremde« oder ein »Fremder« reinkommt, gilt das immer als ein Joker und Pluspunkt, der tendenziell positiv bewertet wird, weil zu allen anderen, die aus einem inneren Kreis kommen, »aus unserer Mitte heraus«, eher Ablehnung kommt.
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Diese Entscheidung ist wie so viele Entscheidungen von Claudia Roth erratisch, vor allem um Originalität bemüht in diesem Sinne auch ein bisschen eitel.
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12.500 akkreditierte Journalisten, 80.000 Festivalbesucher, 2.000 Honoratioren jedweder Couleur und 1.000 reservierte »Team«-Plätze für einen Hollywoodblockbuster – nein, das ist nicht die Berlinale, sondern Cannes.
Insofern leitet Tricia Tuttle ab kommenden März ein vergleichsweise ganz kleines Filmfestival.
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Eintrittskarten für die Berlinale können im kommenden Jahr nur online gekauft werden. Da kann Tuttle mal anfangen, etwas zu verändern. Denn es soll noch ein paar ältere Berlinale-Besucher geben, und auch junge, die aus irgendeinem Grund kein Smartphone haben oder die nicht online einkaufen möchten. Sie sollten nicht ausgeschlossen werden. Inklusion heißt genau das. Es heißt, das einzuschließen, was dem eigenen Mindset widerspricht und von dem man nicht einsieht, warum es nötig sein soll.
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Für den Fall, dass das gesagt werden muss: Es ist mir vollkommen egal, ob jemand lesbisch ist oder schwul oder hetero oder irgendetwas anderes. Es ist mir auch egal, ob jemand das überhaupt in der Öffentlichkeit erwähnt wissen möchte. Ich erwähne es nicht. Ich halte es nicht für einen wesentlichen Faktor für oder gegen eine Position in der Kultur.
In dem Moment aber, in dem aus diesem persönlichen Merkmal ein identitätspolitischer Faktor oder sogar ein identitätspolitischer Trumpf werden soll, wird es zum Problem. Es stört mich, wenn in Diskussionen der Satz fällt: »Es ist gut, dass eine lesbische Frau erstmals in Deutschland so einen Posten hat«. Oder »Es ist schlecht, dass ausgerechnet ein schwuler Mann gekündigt wurde.«
Dies sind keine Faktoren, die im künstlerischen oder kulturpolitischen Bereich eine
Rolle spielen dürfen. Genau das ist aber zunehmend der Fall.
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Wie sagen die Gebrüder Grimm so treffend: »Die klare Sonne bringt’s an den Tag.«