15.01.2024

Vertrauen und Wahrheit

Claire Simon bei Dreharbeiten
Der Blick der Anthropologin
(Foto: Filmmuseum München · Claire Simon)

Die französische Filmemacherin Claire Simon findet im feministischen Blick auf die Wirklichkeit verborgene Geschichten, Träume und Wünsche – zur Retrospektive im Filmmuseum München

Von Dunja Bialas

Der Frage­bogen ist schnell ausge­füllt. Größe, Gewicht vor der Schwan­ger­schaft, Fami­li­en­stand. Dann: Herkunft. Senegal. »Sind Sie beschnitten?«, fragt die Ärztin. Die Stimme senkt sich ein wenig, wird weniger inqui­si­to­risch. Die Schwan­gere nickt. – »Ich will keine Dumm­heiten mehr machen«, sagt ein junges Mädchen beim Arzt­ge­spräch. »Finden Sie, dass Sie Dumm­heiten machen?« »Ja, ich war nicht in der Schule, hatte auf einem Parkplatz Sex und jetzt bin ich schwanger. Ich will mich jetzt wieder um meine Studien kümmern.« Eine Konsul­ta­tion zur Abtrei­bung, ohne Mora­li­sie­rung und Zeige­finger. In Frank­reich gibt es das Recht darauf.

Viele solcher berüh­render Momente finden sich in Notre corps (Our Body), der im Februar auf der Berlinale Premiere im Forum feierte und nun auf Kinotour geschickt wird. Das Film­mu­seum München widmet der fran­zö­si­schen Doku­men­tar­fil­merin Claire Simon, die auch ein paar Spiel­filme gemacht hat, nun eine fast volls­tän­dige Retro­spek­tive ihres Werks. Darunter finden sich ihre berühmten Filme Mimi (2002), Coûte que coûte (At All Costs) (1995), Récréa­tions (1993), mit dem sie in Frank­reich bekannt geworden ist, und Premières solitudes (Young Solitude) (2018), der ebenfalls auf der Berlinale im Forum zu sehen war. Notre corps über die gynä­ko­lo­gi­sche Station im Pariser Hôpital Tenon ist ihr erster Film, der in Deutsch­land ins Kino kommt. Höchste Zeit, Claire Simon bekannt zu machen, die in einem Atemzug zu nennen ist mit den großen Meistern des Direct Cinema: Frederick Wiseman, Raymond Depardon, Nicolas Philibert.

Kein Film für den roten Teppich

»Das sind alles Männer«, winkt Claire Simon beim Treffen in München ab. Ihren Filmen wurde bislang kaum vergleich­bare Aner­ken­nung zuteil. Auf der Adamant ihres Kollegen Philibert lief auf der letzten Berlinale im Wett­be­werb, ihr Film war parallel im (von ihr überaus geschätzten) Forum zu sehen, ohne den Aufmerk­sam­keits­booster, den die Compe­ti­tion mit sich bringt. Auf Nachfrage bei der Berlinale, weshalb vergleich­bare Werke so unter­schied­lich program­miert werden, hieß es: Solche Unap­pe­tit­lich­keiten wie in Notre corps wolle man »nicht auf dem roten Teppich« haben, erzählt sie.

Die ekel­er­re­gende Dinge in Notre corps sind die verbor­genen Seiten des weib­li­chen Körpers. Sie liegen tief im Inneren: Gedärme, Gebär­mutter, Geschwüre. Es geht in dem Film aber auch um Geschlechts­um­wand­lung, Abtrei­bung, künst­liche Befruch­tung, Geburt und Krebs. Um Frauen und Trans­frauen, Erzeuger und werdende Väter. Um die Prokrea­tion und um das Leben, das nach dem Tode strebt. Das ist wenig glamourös.

Die Absage für den Berlinale-Wett­be­werb ähnelt in gewisser Weise dem, wie »Frau­en­ge­schichten« insgesamt in der Medizin verhan­delt werden. Ursache könnte die Freudsche Hysterie sein, benannt nach der Gebär­mutter, und die Stig­ma­ti­sie­rung der wegen ihrer Hormone angeblich unzu­rech­nungs­fähigen Frau – und die Tatsache, dass die Medizin lange Zeit eine Männer­domäne war. Claire Simon will mit Notre corps einer­seits Aufklärung über den titel­ge­benden Körper schaffen, ande­rer­seits stellt sie auch eine Klinik vor, die alle Krank­heiten beim Klarnamen nennt, behutsame Aufklärungs­ge­spräche führt, die Pati­en­tinnen und Patienten mit ihren Fragen und Erzäh­lungen ernst nimmt und mit Mythen, wie über die häufige und gefürch­tete Endo­me­triose, aufräumt.

Im Laufe ihres mehr­mo­na­tigen Drehs wurde bei der Filme­ma­cherin Brust­krebs diagnos­ti­ziert. Scho­ckiert tritt sie ab diesem Moment selbst als Patientin in den Film ein, objek­ti­viert sich, macht sich wie die anderen, die sie gefilmt hat, zum pars pro toto, zum Krank­heits­fall, der für das ganze große Werden und Vergehen steht. »Hätte ich nicht schon so lange in dem Kran­ken­haus für die Dreh­ar­beiten verbracht, würde ich die Diagnose schwerer nehmen«, sagt sie im Moment des announce­ment ihrer Erkran­kung. Das Wissen um die Vorgänge gibt ihr Stärke und Zuver­sicht.

Hebam­men­kunst

Sich selbst als Prot­ago­nistin in ihren Film einzu­glie­dern folgt konse­quent Claire Simons filmi­schem Ansatz. Sie ist als Autoren­fil­merin selbst Urheberin des doku­men­ta­ri­schen Kosmos’, ihr Blick durch die Kamera bringt die Menschen zum Vorschein, meist meldet sie sich mit leisen Fragen an ihre Prot­ago­nisten aus dem Off – und durch­bricht damit das Gebot des Direct Cinema, unsichtbar und unhörbar wie eine Fliege an der Wand das Geschehen lediglich zu beob­achten. Oft verant­wortet sie die Montage und bringt die Bilder in eine diskur­sive Ordnung. Ihre Anwe­sen­heit, erzählt sie im Gespräch, schaffe Vertrauen. Ihre Prot­ago­nisten würden sich bei ihr aufge­hoben fühlen und sich öffnen. Den Gesprächs­part­nern, aber auch für die Kamera und den Film. Im Hinblick auf das Thema von Notre corps könnte man ihre Methode auch »Hebam­men­kunst« nennen, nach der sokra­ti­schen Mäeutik, die die Wahrheit das Licht der Welt erblicken lässt.

Diese doku­men­ta­ri­sche Geburts­hilfe knüpft zarte Bande mit den Prot­ago­nisten, auch wenn Claire Simon nur in stiller Präsenz die Dreh­ar­beiten begleitet. Oft hat sie die Menschen gefilmt, die ihr sehr nahe stehen: ihren an Multipler Sklerose erkrankten Vater in ihrem frühen Kurzfilm Une journée de vacances (1983), ihre fünf­zehn­jäh­rige Tochter in 800 km de diffé­rence (2001). Manon ist unsterb­lich in einen Bäckers­jungen aus dem Haut-Var, der Region, aus der auch Claire Simon stammt, verliebt. »Ich will ihn heiraten und Kinder mit ihm bekommen«, sagt sie provokant in die Kamera ihrer Mutter. Die hält geduldig drauf und beob­achtet die junge Liebe am Keimen.

Der Körper und die Worte

Das ist ganz der Blick der Anthro­po­login Claire Simon. Sie ist inter­es­siert an der Essenz, die das Leben ausmacht, den Trieben, Wünschen, dem Begehren. Hinter der Kamera entwi­ckelt sie eine geradezu Flau­bert­sche impas­si­blité, das Nicht-Einmi­schen des Direct Cinema, und filmt, bis sich die verbor­genen Geschichten der Menschen zeigen. Auch Mimi ist so ein persön­li­cher Film. Die sech­zig­jäh­rige Mimi streift mit der Regis­seurin durch die Berge vor Nizza, wo sie lebt, begegnet Bauern und Eseln am Wegesrand, erzählt von ihrem Vater, der nach dem Hunger, den er im Krieg erlitten hatte, an einem Stück Brot verstarb, als sie vier war, und daran, wie es ihr erging, als sie in der Stri­ckerei-Manu­faktur ihre eigene Homo­se­xua­lität entdeckte. Dazu flir­rendes Zirpen der südfran­zö­si­schen Grillen und der sanfte Anstieg der Berg­land­schaft.

Der Körper und die Worte, das sind für Claire Simon das Kino. Und die Orte, an denen die Menschen leben. Meist ist das direkt vor der Haustür, der eigenen, es gibt keinen Film, in dem die Ethno­gra­phin weit gereist ist, um fremde Bräuche zu filmen. Sie will lieber das Intime aufspüren, die Träume und Wünsche, das Begehren und das Imaginäre. »Auch das ist Doku­men­tar­film«, sagt sie. In Premières Solitudes hat sie eine Gruppe von Teenagern am Lycée Romain Rolland im Pariser Vorort Ivry-sur-Seine gefilmt. Eigent­lich als pädago­gi­sches Projekt für eine Film­klasse gedacht (in Frank­reich gibt es so etwas), entwi­ckelte sich daraus eine berüh­rende Bestands­auf­nahme über die Einsam­keit der Heran­wach­senden, in ihren Familien, in der Schule, unter ihren Freunden. Mäeutisch initi­ierte sie offen­ba­rende Gespräche zwischen den Jugend­li­chen, sanft und ohne Voyeu­rismus, mit teils bestür­zenden, aber auch trös­tenden Geständ­nissen.

Ein ganz beson­derer Film in dem an beson­deren Filmen reichen Werk ist schließ­lich Vous ne désirez que moi (I Want To Talk About Duras) (2021) über die letzte Lieb­schaft der fran­zö­si­schen Schrift­stel­lerin und Filme­ma­cherin Margue­rite Duras. Ihr (eigent­lich schwuler) Liebhaber Yann Andréa hatte sich in einem Interview einer Jour­na­listin anver­traut und von der Dominanz der vierzig Jahre älteren Grande Dame erzählt. Claire Simon setzt das Gespräch als Kammer­spiel in Szene, lässt Emma­nu­elle Devos und Swann Arlaud die Jour­na­listin und den Liebhaber spielen, zeigt zwischen­drin histo­ri­sche Aufnahmen von Margue­rite Duras und Yann Andréa.

Diese Verwi­schung des Doku­men­ta­ri­schen mit dem Libi­dinösen, des Fakti­schen mit dem Fiktiven ist die große Kraft im Kino der Claire Simon und im Grunde genommen eine femi­nis­ti­sche Heran­ge­hens­weise an die Wirk­lich­keit: den hinter den Vorhängen und Türen verbor­genen Geschichten nach­zu­spüren, darüber zu sprechen, was sich im Inneren der Körper befindet. Und es ans Licht zu holen.

Retro­spek­tive Claire Simon
Film­mu­seum München
bis 28. Februar 2024
Eintritt: 4€
Tickets

Programm-PDF mit allen Spiel­ter­minen