Vertrauen und Wahrheit |
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Der Blick der Anthropologin | ||
(Foto: Filmmuseum München · Claire Simon) |
Von Dunja Bialas
Der Fragebogen ist schnell ausgefüllt. Größe, Gewicht vor der Schwangerschaft, Familienstand. Dann: Herkunft. Senegal. »Sind Sie beschnitten?«, fragt die Ärztin. Die Stimme senkt sich ein wenig, wird weniger inquisitorisch. Die Schwangere nickt. – »Ich will keine Dummheiten mehr machen«, sagt ein junges Mädchen beim Arztgespräch. »Finden Sie, dass Sie Dummheiten machen?« »Ja, ich war nicht in der Schule, hatte auf einem Parkplatz Sex und jetzt bin ich schwanger. Ich will mich jetzt wieder um meine Studien kümmern.« Eine Konsultation zur Abtreibung, ohne Moralisierung und Zeigefinger. In Frankreich gibt es das Recht darauf.
Viele solcher berührender Momente finden sich in Notre corps (Our Body), der im Februar auf der Berlinale Premiere im Forum feierte und nun auf Kinotour geschickt wird. Das Filmmuseum München widmet der französischen Dokumentarfilmerin Claire Simon, die auch ein paar Spielfilme gemacht hat, nun eine fast vollständige Retrospektive ihres Werks. Darunter finden sich ihre berühmten Filme Mimi (2002), Coûte que coûte (At All Costs) (1995), Récréations (1993), mit dem sie in Frankreich bekannt geworden ist, und Premières solitudes (Young Solitude) (2018), der ebenfalls auf der Berlinale im Forum zu sehen war. Notre corps über die gynäkologische Station im Pariser Hôpital Tenon ist ihr erster Film, der in Deutschland ins Kino kommt. Höchste Zeit, Claire Simon bekannt zu machen, die in einem Atemzug zu nennen ist mit den großen Meistern des Direct Cinema: Frederick Wiseman, Raymond Depardon, Nicolas Philibert.
»Das sind alles Männer«, winkt Claire Simon beim Treffen in München ab. Ihren Filmen wurde bislang kaum vergleichbare Anerkennung zuteil. Auf der Adamant ihres Kollegen Philibert lief auf der letzten Berlinale im Wettbewerb, ihr Film war parallel im (von ihr überaus geschätzten) Forum zu sehen, ohne den Aufmerksamkeitsbooster, den die Competition mit sich bringt. Auf Nachfrage bei der Berlinale, weshalb vergleichbare Werke so unterschiedlich programmiert werden, hieß es: Solche Unappetitlichkeiten wie in Notre corps wolle man »nicht auf dem roten Teppich« haben, erzählt sie.
Die ekelerregende Dinge in Notre corps sind die verborgenen Seiten des weiblichen Körpers. Sie liegen tief im Inneren: Gedärme, Gebärmutter, Geschwüre. Es geht in dem Film aber auch um Geschlechtsumwandlung, Abtreibung, künstliche Befruchtung, Geburt und Krebs. Um Frauen und Transfrauen, Erzeuger und werdende Väter. Um die Prokreation und um das Leben, das nach dem Tode strebt. Das ist wenig glamourös.
Die Absage für den Berlinale-Wettbewerb ähnelt in gewisser Weise dem, wie »Frauengeschichten« insgesamt in der Medizin verhandelt werden. Ursache könnte die Freudsche Hysterie sein, benannt nach der Gebärmutter, und die Stigmatisierung der wegen ihrer Hormone angeblich unzurechnungsfähigen Frau – und die Tatsache, dass die Medizin lange Zeit eine Männerdomäne war. Claire Simon will mit Notre corps einerseits Aufklärung über den titelgebenden Körper schaffen, andererseits stellt sie auch eine Klinik vor, die alle Krankheiten beim Klarnamen nennt, behutsame Aufklärungsgespräche führt, die Patientinnen und Patienten mit ihren Fragen und Erzählungen ernst nimmt und mit Mythen, wie über die häufige und gefürchtete Endometriose, aufräumt.
Im Laufe ihres mehrmonatigen Drehs wurde bei der Filmemacherin Brustkrebs diagnostiziert. Schockiert tritt sie ab diesem Moment selbst als Patientin in den Film ein, objektiviert sich, macht sich wie die anderen, die sie gefilmt hat, zum pars pro toto, zum Krankheitsfall, der für das ganze große Werden und Vergehen steht. »Hätte ich nicht schon so lange in dem Krankenhaus für die Dreharbeiten verbracht, würde ich die Diagnose schwerer nehmen«, sagt sie im Moment des announcement ihrer Erkrankung. Das Wissen um die Vorgänge gibt ihr Stärke und Zuversicht.
Sich selbst als Protagonistin in ihren Film einzugliedern folgt konsequent Claire Simons filmischem Ansatz. Sie ist als Autorenfilmerin selbst Urheberin des dokumentarischen Kosmos’, ihr Blick durch die Kamera bringt die Menschen zum Vorschein, meist meldet sie sich mit leisen Fragen an ihre Protagonisten aus dem Off – und durchbricht damit das Gebot des Direct Cinema, unsichtbar und unhörbar wie eine Fliege an der Wand das Geschehen lediglich zu beobachten. Oft verantwortet sie die Montage und bringt die Bilder in eine diskursive Ordnung. Ihre Anwesenheit, erzählt sie im Gespräch, schaffe Vertrauen. Ihre Protagonisten würden sich bei ihr aufgehoben fühlen und sich öffnen. Den Gesprächspartnern, aber auch für die Kamera und den Film. Im Hinblick auf das Thema von Notre corps könnte man ihre Methode auch »Hebammenkunst« nennen, nach der sokratischen Mäeutik, die die Wahrheit das Licht der Welt erblicken lässt.
Diese dokumentarische Geburtshilfe knüpft zarte Bande mit den Protagonisten, auch wenn Claire Simon nur in stiller Präsenz die Dreharbeiten begleitet. Oft hat sie die Menschen gefilmt, die ihr sehr nahe stehen: ihren an Multipler Sklerose erkrankten Vater in ihrem frühen Kurzfilm Une journée de vacances (1983), ihre fünfzehnjährige Tochter in 800 km de différence (2001). Manon ist unsterblich in einen Bäckersjungen aus dem Haut-Var, der Region, aus der auch Claire Simon stammt, verliebt. »Ich will ihn heiraten und Kinder mit ihm bekommen«, sagt sie provokant in die Kamera ihrer Mutter. Die hält geduldig drauf und beobachtet die junge Liebe am Keimen.
Das ist ganz der Blick der Anthropologin Claire Simon. Sie ist interessiert an der Essenz, die das Leben ausmacht, den Trieben, Wünschen, dem Begehren. Hinter der Kamera entwickelt sie eine geradezu Flaubertsche impassiblité, das Nicht-Einmischen des Direct Cinema, und filmt, bis sich die verborgenen Geschichten der Menschen zeigen. Auch Mimi ist so ein persönlicher Film. Die sechzigjährige Mimi streift mit der Regisseurin durch die Berge vor Nizza, wo sie lebt, begegnet Bauern und Eseln am Wegesrand, erzählt von ihrem Vater, der nach dem Hunger, den er im Krieg erlitten hatte, an einem Stück Brot verstarb, als sie vier war, und daran, wie es ihr erging, als sie in der Strickerei-Manufaktur ihre eigene Homosexualität entdeckte. Dazu flirrendes Zirpen der südfranzösischen Grillen und der sanfte Anstieg der Berglandschaft.
Der Körper und die Worte, das sind für Claire Simon das Kino. Und die Orte, an denen die Menschen leben. Meist ist das direkt vor der Haustür, der eigenen, es gibt keinen Film, in dem die Ethnographin weit gereist ist, um fremde Bräuche zu filmen. Sie will lieber das Intime aufspüren, die Träume und Wünsche, das Begehren und das Imaginäre. »Auch das ist Dokumentarfilm«, sagt sie. In Premières Solitudes hat sie eine Gruppe von Teenagern am Lycée Romain Rolland im Pariser Vorort Ivry-sur-Seine gefilmt. Eigentlich als pädagogisches Projekt für eine Filmklasse gedacht (in Frankreich gibt es so etwas), entwickelte sich daraus eine berührende Bestandsaufnahme über die Einsamkeit der Heranwachsenden, in ihren Familien, in der Schule, unter ihren Freunden. Mäeutisch initiierte sie offenbarende Gespräche zwischen den Jugendlichen, sanft und ohne Voyeurismus, mit teils bestürzenden, aber auch tröstenden Geständnissen.
Ein ganz besonderer Film in dem an besonderen Filmen reichen Werk ist schließlich Vous ne désirez que moi (I Want To Talk About Duras) (2021) über die letzte Liebschaft der französischen Schriftstellerin und Filmemacherin Marguerite Duras. Ihr (eigentlich schwuler) Liebhaber Yann Andréa hatte sich in einem Interview einer Journalistin anvertraut und von der Dominanz der vierzig Jahre älteren Grande Dame erzählt. Claire Simon setzt das Gespräch als Kammerspiel in Szene, lässt Emmanuelle Devos und Swann Arlaud die Journalistin und den Liebhaber spielen, zeigt zwischendrin historische Aufnahmen von Marguerite Duras und Yann Andréa.
Diese Verwischung des Dokumentarischen mit dem Libidinösen, des Faktischen mit dem Fiktiven ist die große Kraft im Kino der Claire Simon und im Grunde genommen eine feministische Herangehensweise an die Wirklichkeit: den hinter den Vorhängen und Türen verborgenen Geschichten nachzuspüren, darüber zu sprechen, was sich im Inneren der Körper befindet. Und es ans Licht zu holen.
Retrospektive Claire Simon
Filmmuseum München
bis 28. Februar 2024
Eintritt: 4€
Tickets