74. Berlinale 2024
Geisterstunde |
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Die ich rief, die Geister werd' ich nun nicht los: Corinna Harfouch in Sterben | ||
(Foto: Senator/Wild Bunch) |
Von Axel Timo Purr
Mit der in den letzten Jahren immer populärer werdenden Erkenntnis, dass es unsere Toten, die Gespenster unserer Vergangenheit sind, die unser Leben bestimmen oder ein wenig durcheinanderbringen, nehmen auch die Geschichten zu, die davon erzählen. Die Erkenntnis ist natürlich schon viel älter, sieht man sich die oralen Überlieferungen und Ahnenzeremonien in subsaharischen Gesellschaften Afrikas an oder hat die Genozid-Literatur der letzten 70 Jahre und ihre Erkenntnisse zu transgenerationalen Traumata verfolgt.
Umso faszinierender ist es deshalb, dieses populäre Wissen nun auch im Film wiederzusehen. Und das in einer Bandbreite, die dann doch überrascht.
Und weil »Afrika« nun schon einmal gefallen ist, sollte man vielleicht auch damit beginnen. Mit Mati Diops Dahomey, der das in den letzten Jahren immer relevanter werdende Thema der Restitution greifbar macht: Wie schon in ihrem Film Atlantique sind auch in Diops Dokumentation über die Zurückführung von 26 Kunstschätzen des Königreichs Dahomey in das heutige Benin Geister am Werk, ist auch hier die Überquerung des großen Wassers ein Heilsversprechen. Nur halt in anderer Richtung. Der Benin-Teil ist der stärkste Teil von Dahomey, weil Artefakt 26 mit der Grabesstimme Gezos und den Worten des haitianischen Schriftstellers Makenzy Orcel nicht mehr ständig und pathetisch raunen muss, sondern endlich die Nachfahren der Geister, die Studenten der Universität von Abomey-Calavi über den Sinn der Zurückführungen diskutieren und zusammen mit Diops Blick auf das neu etablierte Museum für die Artefakte verständlich macht, was in Europa kaum einer mehr versteht: dass Kulturerbe immer auch ein unschätzbarer Motor kultureller Identität und wirklicher Unabhängigkeit ist.
Auch Victor Kossakovskys ruft in Architecton die Geister der Ahnen. Doch bei Kossakovsky sind das keine raunenden Geister, sondern schweigende Steine, die einmal Gebäude oder einfach nur Berge waren, die alles überdauert haben, was den Menschen lieb war, und dennoch weiterhin existieren. Mit verwegenen Zeitlupen und einem wunderbaren Score lässt er Steine, Berge und Ruinen tanzen und in Baalbek alte Monumentansammlungen aufräumen und einen alten Architekten sprechen. Das nimmt der Mensch-denkt – Gott-lenkt-Meditation zwar etwas von ihrer Kraft und erinnert für ein paar Momente an ein Achim Maiwald-Format in der Sendung mit der Maus, doch am Ende wischt Kossakovsky diese Assoziation auch schon wieder beiseite, weil er mit seinen gewaltig-ästhetischen Bildern über die ewige Schönheit des Steins klar macht, dass aller Beton schnöder Mammon ist. Dass Erdbeben und Kriege – beides über ebenso ästhetische Drohnenfahrten in der Ukraine und der Türkei – nichts als Müll bleibt und sich jeder fragen sollte, warum wir so bauen wie wir bauen, wir Gebäude bauen, die nur noch 40 Jahr existieren, wo die architektonischen Geister unserer Vergangenheit doch noch so lebendig sind, seien es die Ruinen von Baalbek oder andere architektonische Errungenschaften aus alten Zeiten.
Die entgegengesetzte Richtung der Zeitspirale schlägt Piero Messina mit Another End ein, er verirrt sich in einer Art Science-Fiction-Irrgarten, der aber nicht mehr als weichgewaschener Cyberpunk ist, in dem viel zu viel geschwurbelt wird, worüber besser geschwiegen worden wäre. Schon klar, dass Trauern traurig macht und jeder sich von seinen Toten am liebsten noch einmal verabschieden möchte oder ihre Seele gleich ganz in einem neuen Körper sehen möchte. In den nahenden Zeiten der Singularität wird das sicherlich kommen und in den großen Meisterwerken des Cyberpunk – man denke nur an Richard Morgans Altered Carbon und die maue Serienadaption – gibt es das auch schon. Piero Messina macht aus diesen Ideen leider nur ein unentschlossenes Bodyswitch-Melodram über das Leben mit toten Seelen, das sich mehr und mehr in seinen Verschachtelungen verirrt und dem man am Ende wünscht, sich selbst in einen neuen Körper aka Film zu reinkarnieren.
Black Tea von Abderrahmane Sissako ist zwar in unserer Gegenwart verwurzelt und erzählt von der westafrikanischen Community im chinesischen Guangzhou, vom Leben und Lieben in Chocolate City. Ein Film, der lange nicht weiß, wo er eigentlich hin will, der immer wieder schwer zu dechiffrieren ist und zum einen von großer Liebe und Distanz wie in Trần Anh Hùngs Geliebte Köchin erzählen will, dann aber zwischen Kitsch und Pathos auf halbem Weg steckenbleibt und mit den Gespenstern aus der Vergangenheit der beiden Hauptprotagonisten dann viel zu wenig anzufangen weiß. Dennoch ist Sissako hoch anzurechnen, von etwas zu erzählen, von dem in Europa niemand etwas weiß. Und das auf eine Weise, die zumindest inhaltlich immer wieder überrascht. Denn Sissako erzählt von geglückten Integrationsgeschichten und Assimilierungen, ohne dabei den tief verwurzelten Rassismus der älteren chinesischen Generationen auszublenden.
Wieviel besser ist da Des Teufels Bad von Veronika Franz und Severin Fiala, ein Film der ganz großen Bilder, die von klirrender Einsamkeit, autoaggressiver Wucht und einem unbedingten Nein zum Leben und einer ganz großen Anja Plaschg in der Hauptrolle geprägt sind. Wie Veronika Franz & Severin Fiala über diese Bilder dann auch noch vom bäuerlichen Leben in Oberösterreich im Jahr 1750 erzählen, von Frauen, die töten, um selbst endlich getötet zu werden, ist leibhaftig gewordener Horror, aber historisch belegt und immer wieder meisterlich. Dazu die historische Akkuratesse bäuerlichen Alltags, die mit ihren feinen Detailzeichnungen verblüfft und dann nicht nur durch das Grauen dieser Vergangenheit schockt, sondern wie viel von dieser Vergangenheit noch in unserer Gegenwart steckt. Denn hier sehen wir Geisterwelten im Entstehen begriffen, sehen Geschlechterverhältnisse und ein weibliches Selbstverständnis, das sich bis heute nicht von dieser Ausgeburt des Teufels und seiner Geisterfreunde erholt hat.
Von dieser Altlast befreien sich zwei jungen Mädchen in Claire Burgers Langue Étrangère. Auf den ersten Blick ist Burgers Film ein immer wieder leichtes und jugendliches Coming-of-Age-Drama zweier Schülerinnen eines Austauschprogramms einer Leipziger und einer Straßburger Schule. Aber die deutsch-französische Freundschaft, die sich hier unter vielen Hindernissen anbahnt, ist auf den zweiten Blick dann doch viel mehr. Denn im Kern zeigt Burger über die verschiedenen Generationen auch das Coming-of-Age unseres jungen Europas. Während die älteren Generationen gespenstergleich noch unter Lug und Trug leiden und die Nachfahren malträtieren, geht die junge Generation – vereint im Antifa-Denken, Techno, schoko-überzogenen Mushrooms und unbedingter Wahrheitsliebe – offen aufeinander zu und macht die Geisterstunde kurzerhand zum Widerstandsmarsch. Ein echter Europa-Film und, trotz etwas übereifriger Drehbuchkapriolen, allein schon deshalb wichtig und sehenswert.
Auch Matthias Glasner geht in seinem »Opus« Sterben diesen Weg und ihm gelingt dabei fast schon die Quadratur des Kreises. In drei Stunden, die niemals zu lang sind, erzählt er gnadenlos, mal lakonisch, mal sarkastisch und dann wieder umwerfend zärtlich von dysfunktionalen Familien- und Gesellschaftsverhältnissen, dem ganz normalen bildungsbürgerlichen Wahnsinn unserer Gegenwart, erzählt von Liebe und Nichtliebe und vom Sterben im Alter, im Jungsein und in der Musik und ist dabei ganz bei Manès Sperber, denn »um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoffnungen endeten – ob sie sanft verblichen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.« Die Gespenster sind hier alle noch am Leben, aber es wird mit ihnen geredet und alles noch viel mehr getan, um sie zu bannen. Dazu gehört ab Minute 100 einer der großartigsten und längsten Mutter-Sohn Dialoge der letzten Jahre und zwanzig Minuten später eine Sexszene, so wild und überraschend und schmerzvoll und großartig wie so vieles in diesem wunderbar traurigen Film.