22.02.2024
74. Berlinale 2024

Geisterstunde

Sterben
Die ich rief, die Geister werd' ich nun nicht los: Corinna Harfouch in Sterben
(Foto: Senator/Wild Bunch)

Große und kleine Gespensterfilme prägen den diesjährigen Wettbewerb der Berlinale und es sind dabei natürlich die Toten, die die Lebenden fordern. Und nicht umgekehrt

Von Axel Timo Purr

Mit der in den letzten Jahren immer populärer werdenden Erkenntnis, dass es unsere Toten, die Gespenster unserer Vergan­gen­heit sind, die unser Leben bestimmen oder ein wenig durch­ein­an­der­bringen, nehmen auch die Geschichten zu, die davon erzählen. Die Erkenntnis ist natürlich schon viel älter, sieht man sich die oralen Über­lie­fe­rungen und Ahnen­ze­re­mo­nien in subsa­ha­ri­schen Gesell­schaften Afrikas an oder hat die Genozid-Literatur der letzten 70 Jahre und ihre Erkennt­nisse zu trans­ge­ne­ra­tio­nalen Traumata verfolgt.

Umso faszi­nie­render ist es deshalb, dieses populäre Wissen nun auch im Film wieder­zu­sehen. Und das in einer Band­breite, die dann doch über­rascht.

Und weil »Afrika« nun schon einmal gefallen ist, sollte man viel­leicht auch damit beginnen. Mit Mati Diops Dahomey, der das in den letzten Jahren immer rele­vanter werdende Thema der Resti­tu­tion greifbar macht: Wie schon in ihrem Film Atlan­tique sind auch in Diops Doku­men­ta­tion über die Zurück­füh­rung von 26 Kunst­schätzen des König­reichs Dahomey in das heutige Benin Geister am Werk, ist auch hier die Über­que­rung des großen Wassers ein Heils­ver­spre­chen. Nur halt in anderer Richtung. Der Benin-Teil ist der stärkste Teil von Dahomey, weil Artefakt 26 mit der Grabes­stimme Gezos und den Worten des haitia­ni­schen Schrift­stel­lers Makenzy Orcel nicht mehr ständig und pathe­tisch raunen muss, sondern endlich die Nach­fahren der Geister, die Studenten der Univer­sität von Abomey-Calavi über den Sinn der Zurück­füh­rungen disku­tieren und zusammen mit Diops Blick auf das neu etablierte Museum für die Artefakte vers­tänd­lich macht, was in Europa kaum einer mehr versteht: dass Kultur­erbe immer auch ein unschätz­barer Motor kultu­reller Identität und wirk­li­cher Unab­hän­gig­keit ist.

Auch Victor Kossa­kovskys ruft in Archi­tecton die Geister der Ahnen. Doch bei Kossa­kovsky sind das keine raunenden Geister, sondern schwei­gende Steine, die einmal Gebäude oder einfach nur Berge waren, die alles über­dauert haben, was den Menschen lieb war, und dennoch weiterhin exis­tieren. Mit verwe­genen Zeitlupen und einem wunder­baren Score lässt er Steine, Berge und Ruinen tanzen und in Baalbek alte Monu­ment­an­samm­lungen aufräumen und einen alten Archi­tekten sprechen. Das nimmt der Mensch-denkt – Gott-lenkt-Medi­ta­tion zwar etwas von ihrer Kraft und erinnert für ein paar Momente an ein Achim Maiwald-Format in der Sendung mit der Maus, doch am Ende wischt Kossa­kovsky diese Asso­zia­tion auch schon wieder beiseite, weil er mit seinen gewaltig-ästhe­ti­schen Bildern über die ewige Schönheit des Steins klar macht, dass aller Beton schnöder Mammon ist. Dass Erdbeben und Kriege – beides über ebenso ästhe­ti­sche Droh­nen­fahrten in der Ukraine und der Türkei – nichts als Müll bleibt und sich jeder fragen sollte, warum wir so bauen wie wir bauen, wir Gebäude bauen, die nur noch 40 Jahr exis­tieren, wo die archi­tek­to­ni­schen Geister unserer Vergan­gen­heit doch noch so lebendig sind, seien es die Ruinen von Baalbek oder andere archi­tek­to­ni­sche Errun­gen­schaften aus alten Zeiten.

Die entge­gen­ge­setzte Richtung der Zeit­spi­rale schlägt Piero Messina mit Another End ein, er verirrt sich in einer Art Science-Fiction-Irrgarten, der aber nicht mehr als weich­ge­wa­schener Cyberpunk ist, in dem viel zu viel geschwur­belt wird, worüber besser geschwiegen worden wäre. Schon klar, dass Trauern traurig macht und jeder sich von seinen Toten am liebsten noch einmal verab­schieden möchte oder ihre Seele gleich ganz in einem neuen Körper sehen möchte. In den nahenden Zeiten der Singu­la­rität wird das sicher­lich kommen und in den großen Meis­ter­werken des Cyberpunk – man denke nur an Richard Morgans Altered Carbon und die maue Seri­en­ad­ap­tion – gibt es das auch schon. Piero Messina macht aus diesen Ideen leider nur ein unent­schlos­senes Bodys­witch-Melodram über das Leben mit toten Seelen, das sich mehr und mehr in seinen Verschach­te­lungen verirrt und dem man am Ende wünscht, sich selbst in einen neuen Körper aka Film zu reinkar­nieren.

Black Tea von Abder­rah­mane Sissako ist zwar in unserer Gegenwart verwur­zelt und erzählt von der west­afri­ka­ni­schen Community im chine­si­schen Guangzhou, vom Leben und Lieben in Chocolate City. Ein Film, der lange nicht weiß, wo er eigent­lich hin will, der immer wieder schwer zu dechif­frieren ist und zum einen von großer Liebe und Distanz wie in Trần Anh Hùngs Geliebte Köchin erzählen will, dann aber zwischen Kitsch und Pathos auf halbem Weg stecken­bleibt und mit den Gespens­tern aus der Vergan­gen­heit der beiden Haupt­prot­ago­nisten dann viel zu wenig anzu­fangen weiß. Dennoch ist Sissako hoch anzu­rechnen, von etwas zu erzählen, von dem in Europa niemand etwas weiß. Und das auf eine Weise, die zumindest inhalt­lich immer wieder über­rascht. Denn Sissako erzählt von geglückten Inte­gra­ti­ons­ge­schichten und Assi­mi­lie­rungen, ohne dabei den tief verwur­zelten Rassismus der älteren chine­si­schen Gene­ra­tionen auszu­blenden.

Wieviel besser ist da Des Teufels Bad von Veronika Franz und Severin Fiala, ein Film der ganz großen Bilder, die von klir­render Einsam­keit, auto­ag­gres­siver Wucht und einem unbe­dingten Nein zum Leben und einer ganz großen Anja Plaschg in der Haupt­rolle geprägt sind. Wie Veronika Franz & Severin Fiala über diese Bilder dann auch noch vom bäuer­li­chen Leben in Oberös­ter­reich im Jahr 1750 erzählen, von Frauen, die töten, um selbst endlich getötet zu werden, ist leib­haftig gewor­dener Horror, aber histo­risch belegt und immer wieder meis­ter­lich. Dazu die histo­ri­sche Akku­ra­tesse bäuer­li­chen Alltags, die mit ihren feinen Detail­zeich­nungen verblüfft und dann nicht nur durch das Grauen dieser Vergan­gen­heit schockt, sondern wie viel von dieser Vergan­gen­heit noch in unserer Gegenwart steckt. Denn hier sehen wir Geis­ter­welten im Entstehen begriffen, sehen Geschlech­ter­ver­hält­nisse und ein weib­li­ches Selbst­ver­s­tändnis, das sich bis heute nicht von dieser Ausgeburt des Teufels und seiner Geis­ter­freunde erholt hat.

Von dieser Altlast befreien sich zwei jungen Mädchen in Claire Burgers Langue Étrangère. Auf den ersten Blick ist Burgers Film ein immer wieder leichtes und jugend­li­ches Coming-of-Age-Drama zweier Schü­le­rinnen eines Austausch­pro­gramms einer Leipziger und einer Straß­burger Schule. Aber die deutsch-fran­zö­si­sche Freund­schaft, die sich hier unter vielen Hinder­nissen anbahnt, ist auf den zweiten Blick dann doch viel mehr. Denn im Kern zeigt Burger über die verschie­denen Gene­ra­tionen auch das Coming-of-Age unseres jungen Europas. Während die älteren Gene­ra­tionen gespens­ter­gleich noch unter Lug und Trug leiden und die Nach­fahren malträ­tieren, geht die junge Gene­ra­tion – vereint im Antifa-Denken, Techno, schoko-über­zo­genen Mushrooms und unbe­dingter Wahr­heits­liebe – offen aufein­ander zu und macht die Geis­ter­stunde kurzer­hand zum Wider­stands­marsch. Ein echter Europa-Film und, trotz etwas übereif­riger Dreh­buch­ka­priolen, allein schon deshalb wichtig und sehens­wert.

Auch Matthias Glasner geht in seinem »Opus« Sterben diesen Weg und ihm gelingt dabei fast schon die Quadratur des Kreises. In drei Stunden, die niemals zu lang sind, erzählt er gnadenlos, mal lakonisch, mal sarkas­tisch und dann wieder umwerfend zärtlich von dysfunk­tio­nalen Familien- und Gesell­schafts­ver­hält­nissen, dem ganz normalen bildungs­bür­ger­li­chen Wahnsinn unserer Gegenwart, erzählt von Liebe und Nicht­liebe und vom Sterben im Alter, im Jungsein und in der Musik und ist dabei ganz bei Manès Sperber, denn »um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoff­nungen endeten – ob sie sanft verbli­chen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.« Die Gespenster sind hier alle noch am Leben, aber es wird mit ihnen geredet und alles noch viel mehr getan, um sie zu bannen. Dazu gehört ab Minute 100 einer der groß­ar­tigsten und längsten Mutter-Sohn Dialoge der letzten Jahre und zwanzig Minuten später eine Sexszene, so wild und über­ra­schend und schmerz­voll und großartig wie so vieles in diesem wunderbar traurigen Film.