74. Berlinale 2024
Streifzüge durch die Jugend |
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Kim Hye-youngs It’s okay beeindruckte die Kinderjury durch seine Tanzszenen | ||
(Foto: Berlinale Generation | Lee Re, It’s okay) |
Von Holger Twele
Größere Skandale sind dem diesjährigen Programm der Sektion Generation im Unterschied zum Hauptwettbewerb zum Glück erspart geblieben, zumal es hier weder Filme aus Palästina, Israel oder der Ukraine gab und diesmal bei den Hauptfiguren auch niemand Anstoß am Tragen einer Gesichtsmaske in einer bestimmten Farbe nehmen konnte (Helt super). Ganz unpolitisch oder gar »nur« auf persönliche und familiäre Konstellationen und Konflikte reduziert war das Programm allerdings nicht – und das gilt insbesondere für Kplus.
Endlich gab es wieder einen Wettbewerbsbeitrag für das ganz junge Publikum mit dem Animationsfilm Fox and Hare Save the Forest (Fuchs und Hase retten den Wald) von Mascha Halberstad. Nach einer literarischen Vorlage geht es um einen größenwahnsinnigen und rundum von sich überzeugten Biber, der mit Hilfe zweier Pi-Rat(t)en einen riesigen Staudamm aus Bäumen errichtet. Das aufgestaute Wasser überflutet den Wald und die Behausungen der anderen Tiere. Aber das stört den Biber wenig. Sie dürfen bei ihm im Damm wohnen, sollen ihn dafür aber vorbehaltlos bewundern. Das lassen sich die Tiere unter Führung von Fuchs und Hase nicht gefallen. Sie zeigen dem Biber, dass Freundschaft ein weitaus höheres Gut als Bewunderung ist. Es bleibt zu hoffen, dass Kinder noch keine Albträume über die Wahl des zukünftigen amerikanischen Präsidenten haben. Erwachsene fanden jedoch, der Biber hätte sie unweigerlich an Donald Trump erinnert.
Der chilenisch-peruanische Film Raíz (Durch Felsen und Wolken) von Franco García Huillca, von der internationalen Jury mit einer Lobenden Erwähnung bedacht, erzählt einmal ganz aus der Perspektive eines achtjährigen fußballbegeisterten Alpakahirten in den Anden den Kampf der Dorfbewohner gegen ein internationales Bergbau-Unternehmen, das auf der Suche nach wertvollen Erzen die Umwelt und die Lebensgrundlagen der Bergbauern zerstört und sie von ihrem Land vertreibt.
Und der französische Kurzfilm Papillon (Schmetterling) von Florence Miailhe, dem die Kinderjury den Gläsernen Bären verlieh und der allein schon in seiner zeichnerischen Umsetzung ein wahres Kunstwerk ist, handelt in Rückblenden auf ein ganzes Leben von einem jüdischen Hochleistungssportler, dem als Schwimmer eine große Karriere bevorsteht, bis er von den Nationalsozialisten schikaniert und dann komplett aus der Sportwelt ausgegrenzt wird.
Im Langfilmbereich entschied sich die Kinderjury für den in Südkorea spielenden Film It‘s okay (nomen est omen!) von Kim Hye-young, der die Kinderjury besonders durch seine packenden Tanzszenen beeindruckt hat. Die tragen tatsächlich diesen Film, der von der vorsichtigen Annäherung und dem wachsenden gegenseitigen Respekt zwischen einer quirligen Tanzschülerin aus sozial schwachem Milieu und ihrer nach außen hin unnahbaren, ganz auf Perfektion bedachten Ballettlehrerin handelt. Dramaturgisch wirkt diese herzerweichende Geschichte vor dem Hintergrund des tragischen Unfalltodes der Mutter zwar nicht immer schlüssig, aber natürlich ist den beiden Hauptfiguren das erhoffte Happy End zu ersehnen und auch zu gönnen.
Die Lobende Erwähnung ging völlig zu Recht an den Film Young Hearts des belgischen Regisseurs Anthony Schatteman. In seinem Debüt-Langspielfilm treibt er die biografischen Ansätze, die bei vielen der Wettbewerbsfilme ebenfalls zum Tragen kamen, in einer romantischen Coming-out- und Love-Story zwischen zwei 14-jährigen Jungen auf die Spitze. Denn die Dreharbeiten fanden komplett an den gleichen Örtlichkeiten statt, in denen er seine eigene als schwierig erlebte Kindheit verbrachte. Damals hätte er sich einen Film gewünscht, der in der Lage gewesen wäre, ihm Antworten bei der quälenden Suche nach seiner sexuellen Identität zu geben. Jetzt hat er diesen Film über die erste Liebe im Leben selbst gedreht, mit zwei talentierten und bei dieser Thematik noch sehr jungen Hauptdarstellern, gewürzt mit viel Humor und Tiefgang. Seine Botschaft überzeugte nicht nur die Kinderjury voll: Liebe, wen du willst, und stehe zu deinen Gefühlen.
Leer ausgegangen bei der Preisverleihung ist der deutsche Beitrag Sieger sein von Soleen Yusef, der die Flucht einer kurdischen Familie aus Syrien zum Ausgangspunkt nimmt. Dort konnte sich die fußballbegeisterte elfjährige Mona im Spiel noch gegen die Jungen behaupten. An der neuen Schule im Berliner Stadtteil Wedding dagegen herrscht blanke Anarchie und die offensichtliche Perspektivlosigkeit führt zu Frustration und Aggressionen. Ein besonders engagierter Lehrer, der Monas Talent erkannt hat, holt sie trotz des Widerstands einiger Mitschülerinnen ins Fußballteam. Es dauert, bis die Mädchen erfahren, dass sie nur gewinnen können, wenn sie nicht mehr für sich allein sondern miteinander spielen. Natürlich ist diese Geschichte klischeebeladen und vorhersehbar, was der Spannung trotz einer nervigen Moderatorin beim Fußballturnier der Berliner Schulen zum Glück nicht abträglich ist.
So unterschiedlich die Länder und Kulturen bei den Wettbewerbsbeiträgen in Kplus auch sind, fast alle bedienen sie sich klassischer Topoi des Kinderfilms und folgen bekannten und oft erfolgreichen Erzählstrukturen – mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Die junge Argentinierin Ingrid Pokropek nimmt in ihrem Debütspielfilm Los tonos mayores (Tonspuren) zwar auch den Unfalltod eines geliebten Elternteils zum Ausgangspunkt ihrer mysteriösen Geschichte, aber alles andere ist neu und völlig überraschend. Nach dem Unfall, der nicht einmal in Rückblenden zu sehen ist, wurde der inzwischen 14-jährigen Ana eine Metallplatte in den Unterarm eingesetzt, damit die gebrochenen Knochen besser zusammenwachsen. Eines Tages empfängt das noch ganz in ihrer Kindheit verhaftete, aber sehr neugierige Mädchen von dieser Platte plötzlich Signale, die sie sich nicht erklären kann und deren Botschaft sie auch nicht versteht. Als sich herausstellt, dass es sich um Morsezeichen handelt, möchte sie diesem Geheimnis und dem Sender auf die Spur kommen. Dabei entwickelt sie immer neue Theorien und Interpretationen, die den Reiz dieses Films ausmachen. Sie nehmen das Publikum mit auf eine Abenteuerreise in die Großstadt Buenos Aires, ohne dass es eines zu lösenden Kriminalfalls oder besonderer technischer Begabungen und Ausrüstungen bedarf.
Der Diversität vor und zum großen Teil auch hinter der Kamera wurde bei »14plus« geradezu vorbildlich Rechnung getragen. Auch dem Anspruch des Vorjahres, dokumentarische Formen trotz der geringen Auswahl von nur neun Beitragen zu berücksichtigen, ist man ansatzweise wieder gerecht geworden. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass gerade bei der Sektion 14plus, die sich speziell an ein jugendliches Publikum richtet, das exemplarisch für die Zukunft des Kinos und des Festivals im Besonderen steht, eine weitere Reduzierung des Angebots mehr als kontraproduktiv wäre. Die etwas zufällig wirkende Auswahl an Filmen, die vielleicht besser in andere Sektionen gepasst hätten oder nur dort liefen, lässt für 2025 jedenfalls Luft nach oben, wie es so schön heißt.
Die Internationale Fachjury entschied sich für Comme le feu (Who by Fire) von Philippe Lesage als Preisträger in 14plus. Zwei 17-jährige Freunde sind zusammen mit der Familie des einen eingeladen, einige Zeit in der abgeschiedenen Blockhütte eines erfolgreichen Filmregisseurs inmitten der kanadischen Wildnis zu verbringen. Während sich die Erwachsenen bei zahlreichen Essensszenen Wortgefechte bis aufs Messer liefern, sich mit Verdächtigungen und Anschuldigungen gegenseitig überhäufen und alles andere als gute Vorbilder sind, stehen die beiden Jugendlichen den Macht- und Prestigekämpfen zweier Männer, die früher einmal eng zusammengearbeitet haben, nahezu hilflos gegenüber. Irène Jacob, die mit zwei Filmen von Krzysztof Kieslowski international bekannt geworden ist, ist ebenfalls mit von der Partie. Und es gibt zahlreiche weitere Anspielungen auf die Filmgeschichte, darunter bei einer dramatischen Wildwasser-Kanufahrt, die an den Film Am wilden Fluss (1994) mit Meryl Streep erinnert. Handwerklich, darstellerisch und visuell vermag das Werk voll zu überzeugen. Dennoch ist das ein Film eher für das Programmkino und nicht für die Sektion 14plus. Und mit schlappen 155 Minuten Laufzeit wird die Bundeszentrale für politische Bildung als Preisstifter beim Einsatz in Schulen sicher ihre helle Freude damit haben.
Ellbogen von Aslı Özarslan wäre vielleicht die bessere Wahl gewesen, zumal der Film über drei junge Frauen in Berlin mit Migrationshintergrund das unterschwellige Sektionsthema »Liebe und Hass« nahezu perfekt widerspiegelt.
Im Mittelpunkt steht die 17-jährige Hazel, die alles versucht, sich eine gesicherte Zukunft aufzubauen, aber an der Bürokratie und vielen weiteren Hürden scheitert. Wenigstens an ihrem 18. Geburtstag will sie es mit ihren beiden Freundinnen so richtig krachen lassen. In einer natürlich von Kameras überwachten U-Bahnstation werden sie von einem Studenten auf übelste Weise angemacht, der auch körperlich extrem übergriffig ist. Hazel setzt sich entschieden zur Wehr, wobei der Student später an seinen Verletzungen stirbt. Um ihrer Festnahme zu entgehen, flieht sie zurück in die Türkei nach Istanbul, in eine Stadt, die ihr ebenso fremd und verschlossen bleibt wie Berlin. Ein Film mit offenem Ende, der nicht kalt lässt und zur Diskussion herausfordert.
Den Gläsernen Bären der Jugendjury erhielt der britische Film Last Swim von Sasha Nathwani. Hier stehen der weiblichen Hauptfigur mit iranischen Wurzeln alle Türen offen, nachdem sie den Zugangstest für ein wissenschaftliches Studium bestanden hat. Ihr gesundheitlicher Zustand ist dagegen miserabel, sie wird an Krebs sterben. Wenigstens einen Tag noch will sie glücklich sein und sich von ihrem Freundeskreis verabschieden, ohne ihren wahren Zustand zu offenbaren. Zweifelsfrei eine tragische Geschichte, die zu Tränen rührt und die inneren Konflikte der jungen Frau sehr gut zu vermitteln weiß. Bei der Rezeption mögen unterschiedliche, mit dem Alter verbundene Erwartungshaltungen eine Rolle spielen. Während die jüngere Generation offenbar voll mit der Protagonistin mitfühlen kann, stellt sich bei der älteren eher die Frage nach der Wahrhaftigkeit, wenn die engsten Freunde über die Dauer des Films hinweg dermaßen belogen werden.
Hinzuweisen ist abschließend wenigstens kurz auf zwei weitere Filme:
Maygedol von Sarvnaz Alambeigi, eine Koproduktion zwischen Iran, Deutschland und Frankreich, handelt in dokumentarischer Form von einer afghanischen Jugendlichen, die in den Iran emigriert ist. Gleichwohl möchte sie zurück in ihr von den Taliban beherrschtes Heimatland, in dem insbesondere die Frauen unterdrückt werden, um dort eine professionelle Muay-Thai- Boxerin zu werden.
Und Disco Afrika: une histoire malgache (Disco Afrika: A Malagasy Story) von Luck Razanajaona ist der wohl erste Film bei Generation, der überwiegend auf Madagaskar spielt. Auch in diesem Film nimmt ein Jugendlicher sein Schicksal aktiv in die Hand, um eine bessere Zukunft zu haben. So arbeitet der 20-jährige Kwame aus Madagaskar in einer illegalen Mine in Ghana und schürft nach Saphiren. Als sein bester Freund ums Leben kommt, kehrt er zurück in seinen Heimatort, wird dort mit der zügellosen Korruption in seinem Land konfrontiert und muss sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen möchte.