29.02.2024
74. Berlinale 2024

Streifzüge durch die Jugend

It's okay
Kim Hye-youngs It’s okay beeindruckte die Kinderjury durch seine Tanzszenen
(Foto: Berlinale Generation | Lee Re, It’s okay)

Neue Generationen werden in den Berlinale-Sektionen Kplus und 14plus neu erzählt

Von Holger Twele

Größere Skandale sind dem dies­jäh­rigen Programm der Sektion Gene­ra­tion im Unter­schied zum Haupt­wett­be­werb zum Glück erspart geblieben, zumal es hier weder Filme aus Palästina, Israel oder der Ukraine gab und diesmal bei den Haupt­fi­guren auch niemand Anstoß am Tragen einer Gesichts­maske in einer bestimmten Farbe nehmen konnte (Helt super). Ganz unpo­li­tisch oder gar »nur« auf persön­liche und familiäre Konstel­la­tionen und Konflikte reduziert war das Programm aller­dings nicht – und das gilt insbe­son­dere für Kplus.

Träume und Hoff­nungen – Kplus

Endlich gab es wieder einen Wett­be­werbs­bei­trag für das ganz junge Publikum mit dem Anima­ti­ons­film Fox and Hare Save the Forest (Fuchs und Hase retten den Wald) von Mascha Halber­stad. Nach einer lite­ra­ri­schen Vorlage geht es um einen größen­wahn­sin­nigen und rundum von sich über­zeugten Biber, der mit Hilfe zweier Pi-Rat(t)en einen riesigen Staudamm aus Bäumen errichtet. Das aufge­staute Wasser über­flutet den Wald und die Behau­sungen der anderen Tiere. Aber das stört den Biber wenig. Sie dürfen bei ihm im Damm wohnen, sollen ihn dafür aber vorbe­haltlos bewundern. Das lassen sich die Tiere unter Führung von Fuchs und Hase nicht gefallen. Sie zeigen dem Biber, dass Freund­schaft ein weitaus höheres Gut als Bewun­de­rung ist. Es bleibt zu hoffen, dass Kinder noch keine Albträume über die Wahl des zukünf­tigen ameri­ka­ni­schen Präsi­denten haben. Erwach­sene fanden jedoch, der Biber hätte sie unwei­ger­lich an Donald Trump erinnert.

Der chile­nisch-perua­ni­sche Film Raíz (Durch Felsen und Wolken) von Franco García Huillca, von der inter­na­tio­nalen Jury mit einer Lobenden Erwähnung bedacht, erzählt einmal ganz aus der Perspek­tive eines acht­jäh­rigen fußball­be­geis­terten Alpa­ka­hirten in den Anden den Kampf der Dorf­be­wohner gegen ein inter­na­tio­nales Bergbau-Unter­nehmen, das auf der Suche nach wert­vollen Erzen die Umwelt und die Lebens­grund­lagen der Berg­bauern zerstört und sie von ihrem Land vertreibt.

Und der fran­zö­si­sche Kurzfilm Papillon (Schmet­ter­ling) von Florence Miailhe, dem die Kinder­jury den Gläsernen Bären verlieh und der allein schon in seiner zeich­ne­ri­schen Umsetzung ein wahres Kunstwerk ist, handelt in Rück­blenden auf ein ganzes Leben von einem jüdischen Hoch­leis­tungs­sportler, dem als Schwimmer eine große Karriere bevor­steht, bis er von den Natio­nal­so­zia­listen schi­ka­niert und dann komplett aus der Sportwelt ausge­grenzt wird.

Im Lang­film­be­reich entschied sich die Kinder­jury für den in Südkorea spie­lenden Film It‘s okay (nomen est omen!) von Kim Hye-young, der die Kinder­jury besonders durch seine packenden Tanz­szenen beein­druckt hat. Die tragen tatsäch­lich diesen Film, der von der vorsich­tigen Annähe­rung und dem wach­senden gegen­sei­tigen Respekt zwischen einer quirligen Tanz­schü­lerin aus sozial schwachem Milieu und ihrer nach außen hin unnah­baren, ganz auf Perfek­tion bedachten Ballett­leh­rerin handelt. Drama­tur­gisch wirkt diese herz­er­wei­chende Geschichte vor dem Hinter­grund des tragi­schen Unfall­todes der Mutter zwar nicht immer schlüssig, aber natürlich ist den beiden Haupt­fi­guren das erhoffte Happy End zu ersehnen und auch zu gönnen.

Die Lobende Erwähnung ging völlig zu Recht an den Film Young Hearts des belgi­schen Regis­seurs Anthony Schat­teman. In seinem Debüt-Lang­spiel­film treibt er die biogra­fi­schen Ansätze, die bei vielen der Wett­be­werbs­filme ebenfalls zum Tragen kamen, in einer roman­ti­schen Coming-out- und Love-Story zwischen zwei 14-jährigen Jungen auf die Spitze. Denn die Dreh­ar­beiten fanden komplett an den gleichen Örtlich­keiten statt, in denen er seine eigene als schwierig erlebte Kindheit verbrachte. Damals hätte er sich einen Film gewünscht, der in der Lage gewesen wäre, ihm Antworten bei der quälenden Suche nach seiner sexuellen Identität zu geben. Jetzt hat er diesen Film über die erste Liebe im Leben selbst gedreht, mit zwei talen­tierten und bei dieser Thematik noch sehr jungen Haupt­dar­stel­lern, gewürzt mit viel Humor und Tiefgang. Seine Botschaft über­zeugte nicht nur die Kinder­jury voll: Liebe, wen du willst, und stehe zu deinen Gefühlen.

Leer ausge­gangen bei der Preis­ver­lei­hung ist der deutsche Beitrag Sieger sein von Soleen Yusef, der die Flucht einer kurdi­schen Familie aus Syrien zum Ausgangs­punkt nimmt. Dort konnte sich die fußball­be­geis­terte elfjäh­rige Mona im Spiel noch gegen die Jungen behaupten. An der neuen Schule im Berliner Stadtteil Wedding dagegen herrscht blanke Anarchie und die offen­sicht­liche Perspek­tiv­lo­sig­keit führt zu Frus­tra­tion und Aggres­sionen. Ein besonders enga­gierter Lehrer, der Monas Talent erkannt hat, holt sie trotz des Wider­stands einiger Mitschü­le­rinnen ins Fußball­team. Es dauert, bis die Mädchen erfahren, dass sie nur gewinnen können, wenn sie nicht mehr für sich allein sondern mitein­ander spielen. Natürlich ist diese Geschichte klischee­be­laden und vorher­sehbar, was der Spannung trotz einer nervigen Mode­ra­torin beim Fußball­tur­nier der Berliner Schulen zum Glück nicht abträg­lich ist.

So unter­schied­lich die Länder und Kulturen bei den Wett­be­werbs­bei­trägen in Kplus auch sind, fast alle bedienen sie sich klas­si­scher Topoi des Kinder­films und folgen bekannten und oft erfolg­rei­chen Erzähl­struk­turen – mit einer bemer­kens­werten Ausnahme: Die junge Argen­ti­nierin Ingrid Pokropek nimmt in ihrem Debüt­spiel­film Los tonos mayores (Tonspuren) zwar auch den Unfalltod eines geliebten Eltern­teils zum Ausgangs­punkt ihrer myste­riösen Geschichte, aber alles andere ist neu und völlig über­ra­schend. Nach dem Unfall, der nicht einmal in Rück­blenden zu sehen ist, wurde der inzwi­schen 14-jährigen Ana eine Metall­platte in den Unterarm einge­setzt, damit die gebro­chenen Knochen besser zusam­men­wachsen. Eines Tages empfängt das noch ganz in ihrer Kindheit verhaf­tete, aber sehr neugie­rige Mädchen von dieser Platte plötzlich Signale, die sie sich nicht erklären kann und deren Botschaft sie auch nicht versteht. Als sich heraus­stellt, dass es sich um Morse­zei­chen handelt, möchte sie diesem Geheimnis und dem Sender auf die Spur kommen. Dabei entwi­ckelt sie immer neue Theorien und Inter­pre­ta­tionen, die den Reiz dieses Films ausmachen. Sie nehmen das Publikum mit auf eine Aben­teu­er­reise in die Großstadt Buenos Aires, ohne dass es eines zu lösenden Krimi­nal­falls oder beson­derer tech­ni­scher Bega­bungen und Ausrüs­tungen bedarf.

Eine völlig unge­si­cherte Zukunft – 14plus

Der Diver­sität vor und zum großen Teil auch hinter der Kamera wurde bei »14plus« geradezu vorbild­lich Rechnung getragen. Auch dem Anspruch des Vorjahres, doku­men­ta­ri­sche Formen trotz der geringen Auswahl von nur neun Beitragen zu berück­sich­tigen, ist man ansatz­weise wieder gerecht geworden. Gleich­wohl bleibt fest­zu­halten, dass gerade bei der Sektion 14plus, die sich speziell an ein jugend­li­ches Publikum richtet, das exem­pla­risch für die Zukunft des Kinos und des Festivals im Beson­deren steht, eine weitere Redu­zie­rung des Angebots mehr als kontra­pro­duktiv wäre. Die etwas zufällig wirkende Auswahl an Filmen, die viel­leicht besser in andere Sektionen gepasst hätten oder nur dort liefen, lässt für 2025 jeden­falls Luft nach oben, wie es so schön heißt.

Die Inter­na­tio­nale Fachjury entschied sich für Comme le feu (Who by Fire) von Philippe Lesage als Preis­träger in 14plus. Zwei 17-jährige Freunde sind zusammen mit der Familie des einen einge­laden, einige Zeit in der abge­schie­denen Block­hütte eines erfolg­rei­chen Film­re­gis­seurs inmitten der kana­di­schen Wildnis zu verbringen. Während sich die Erwach­senen bei zahl­rei­chen Essens­szenen Wort­ge­fechte bis aufs Messer liefern, sich mit Verdäch­ti­gungen und Anschul­di­gungen gegen­seitig über­häufen und alles andere als gute Vorbilder sind, stehen die beiden Jugend­li­chen den Macht- und Pres­ti­gekämpfen zweier Männer, die früher einmal eng zusam­men­ge­ar­beitet haben, nahezu hilflos gegenüber. Irène Jacob, die mit zwei Filmen von Krzysztof Kies­lowski inter­na­tional bekannt geworden ist, ist ebenfalls mit von der Partie. Und es gibt zahl­reiche weitere Anspie­lungen auf die Film­ge­schichte, darunter bei einer drama­ti­schen Wild­wasser-Kanufahrt, die an den Film Am wilden Fluss (1994) mit Meryl Streep erinnert. Hand­werk­lich, darstel­le­risch und visuell vermag das Werk voll zu über­zeugen. Dennoch ist das ein Film eher für das Programm­kino und nicht für die Sektion 14plus. Und mit schlappen 155 Minuten Laufzeit wird die Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung als Preis­stifter beim Einsatz in Schulen sicher ihre helle Freude damit haben.

Ellbogen von Aslı Özarslan wäre viel­leicht die bessere Wahl gewesen, zumal der Film über drei junge Frauen in Berlin mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund das unter­schwel­lige Sekti­ons­thema »Liebe und Hass« nahezu perfekt wider­spie­gelt.

Im Mittel­punkt steht die 17-jährige Hazel, die alles versucht, sich eine gesi­cherte Zukunft aufzu­bauen, aber an der Büro­kratie und vielen weiteren Hürden scheitert. Wenigs­tens an ihrem 18. Geburtstag will sie es mit ihren beiden Freun­dinnen so richtig krachen lassen. In einer natürlich von Kameras über­wachten U-Bahn­sta­tion werden sie von einem Studenten auf übelste Weise angemacht, der auch körper­lich extrem über­griffig ist. Hazel setzt sich entschieden zur Wehr, wobei der Student später an seinen Verlet­zungen stirbt. Um ihrer Festnahme zu entgehen, flieht sie zurück in die Türkei nach Istanbul, in eine Stadt, die ihr ebenso fremd und verschlossen bleibt wie Berlin. Ein Film mit offenem Ende, der nicht kalt lässt und zur Diskus­sion heraus­for­dert.

Den Gläsernen Bären der Jugend­jury erhielt der britische Film Last Swim von Sasha Nathwani. Hier stehen der weib­li­chen Haupt­figur mit irani­schen Wurzeln alle Türen offen, nachdem sie den Zugangs­test für ein wissen­schaft­li­ches Studium bestanden hat. Ihr gesund­heit­li­cher Zustand ist dagegen miserabel, sie wird an Krebs sterben. Wenigs­tens einen Tag noch will sie glücklich sein und sich von ihrem Freun­des­kreis verab­schieden, ohne ihren wahren Zustand zu offen­baren. Zwei­fels­frei eine tragische Geschichte, die zu Tränen rührt und die inneren Konflikte der jungen Frau sehr gut zu vermit­teln weiß. Bei der Rezeption mögen unter­schied­liche, mit dem Alter verbun­dene Erwar­tungs­hal­tungen eine Rolle spielen. Während die jüngere Gene­ra­tion offenbar voll mit der Prot­ago­nistin mitfühlen kann, stellt sich bei der älteren eher die Frage nach der Wahr­haf­tig­keit, wenn die engsten Freunde über die Dauer des Films hinweg dermaßen belogen werden.

Hinzu­weisen ist abschließend wenigs­tens kurz auf zwei weitere Filme:

Maygedol von Sarvnaz Alambeigi, eine Kopro­duk­tion zwischen Iran, Deutsch­land und Frank­reich, handelt in doku­men­ta­ri­scher Form von einer afgha­ni­schen Jugend­li­chen, die in den Iran emigriert ist. Gleich­wohl möchte sie zurück in ihr von den Taliban beherrschtes Heimat­land, in dem insbe­son­dere die Frauen unter­drückt werden, um dort eine profes­sio­nelle Muay-Thai- Boxerin zu werden.

Und Disco Afrika: une histoire malgache (Disco Afrika: A Malagasy Story) von Luck Razana­jaona ist der wohl erste Film bei Gene­ra­tion, der über­wie­gend auf Mada­gaskar spielt. Auch in diesem Film nimmt ein Jugend­li­cher sein Schicksal aktiv in die Hand, um eine bessere Zukunft zu haben. So arbeitet der 20-jährige Kwame aus Mada­gaskar in einer illegalen Mine in Ghana und schürft nach Saphiren. Als sein bester Freund ums Leben kommt, kehrt er zurück in seinen Heimatort, wird dort mit der zügel­losen Korrup­tion in seinem Land konfron­tiert und muss sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen möchte.