74. Berlinale 2024
Die Unvollendeten – oder: The Circle-Jerk of Life |
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Auch im Unvollendeten kann Perfektion liegen, und im Unperfekten Vollendung: Bruno Dumonts L’Empire | ||
(Foto: Berlinale | L’Empire (Bruno Dumont)) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Ciao, Carlo & Mariette – wir haben Euch kaum gekannt.
Das war’s nun also mit der Ära Chatrian/Rissenbeek. Und es ist schade, dass ihr Abschied so überlagert wurde von heillos verfahrenen politischen Kontroversen, die über Tage hinweg weltweit die Berichterstattung dominierten. Wir haben schlicht nichts Neues, Erhellendes oder Zielführendes zu diesem Thema beizutragen. Deswegen halten wir uns zurück und überlassen die Debatte informierteren (oder
hitzigeren) Köpfen.
Offene Briefe von vormaligen Goldener-Bär-Preisträgern in Solidarität mit der geschassten Leitung hin oder her: Es fühlte sich nicht wie ein echter, emotionaler Abschied an. Das mag daran liegen, dass die Doppel-Leitung nie wirklich angekommen ist, nie wirklich ankommen konnte.
Was sie eigentlich zurücklassen, ist das Gefühl von einer Vision des Festivals, die stets genau eine Ausgabe davor zu stehen schien, sich endlich einzugrooven und durchzusetzen.
Es war dem Leitungs-Duo nie vergönnt, wirklich zu zeigen, wie eine Berlinale nach ihren Vorstellungen auf stabiler Basis ausgesehen hätte.
Das Debut 2020 war noch ein Ausprobieren, eine Auseinandersetzung mit Altlasten – nahtlos gefolgt von der Pandemie. (Es waren die letzten zwei Wochen, in denen man noch Witze gemacht hat über Handdesinfektionsmittel und Äpfel als Immunbooster im Pressezentrum – die Heimfahrt in den baldigen ersten Lockdown ging schon am
geschlossenen Messezentrum vorbei, das eben die Tourismus-Börse abgesagt hatte...)
Paradoxerweise der eine Jahrgang, der filmisch wirklich in Erinnerung bleiben wird, war das Pestjahr 2021 mit seiner reinen Online-Ausgabe. Wir sind große Verfechter des Gemeinschaftserlebnisses »Kino«. Umso überraschender, dass sich auch in heimischer Isolation und über große Entfernungen hinweg ein seltsames, unkonventionelles Gemeinschaftsgefühl einstellte. Man hatte 24 Stunden, das Tagesprogramm zu sichten und – lockdownbedingt – nur wenig andere Verpflichtungen. Man tauschte in WhatsApp-Gruppen Geheimtipps, plante seine privaten Mitternachts-Screenings und versank tagelang auf dem eigenen Sofa im Kinorausch. Noch im naiven Glauben, das gebotene Programm sei jetzt dauerhaft repräsentativ für den neuen Qualitätsstandard, und auch nach Rückkehr in die realen Kinosäle würden auf der Berlinale sich Highlights wie Petite Maman, Herr Bachmann und seine Klasse, Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? & Co. die Klinke reichen.
Es folgten die Hochsicherheits-Filmspiele ohne Feste im darauffolgenden Jahr – für die Presse zwar ein Präsenz-Festival, über das man aber stets, das tagesfrische Testergebnis in der Tasche, gehuscht ist voller Unsicherheit, ob man wirklich da sein darf, und voller Sorge, sich in einer fremden Stadt mit Corona tagelang in Quarantäne begeben zu müssen.
2023 dann ein zaghaft hoffnungsvoller Neustart kurz vor dem noch nicht abzusehenden Ende, der noch die Seuchen-Nachwirkungen aufzuarbeiten hatte. Und dem man insofern bereitwillig(er) die kleinen Holprigkeiten und den eher mau bestückten Wettbewerb nachsah.
Und nun stand die 74. Berlinale dieses Jahr bereits unter dem Zeichen des Abschieds, der Abwicklung.
Cineastisch wirklich prägend war auch der Jahrgang 2024 wieder nicht. Kaum etwas brach nach unten raus – aber es gab auch keine Herzensfilme, oder auch nur den einen Film, über den die Kritiker untereinander tagelang angeregt plauschten.
Es war alles: Solide. Gut, auch sehenswert. Filme, die man bedenkenlos weiterempfehlen kann. Aber keine markanten Werke. Nichts
Fiebriges, Dringendes, Neues.
Vor allem der Wettbewerb schien völlig disparat – eine Konkurrenz, in der alle nicht nur in unterschiedlichen Ligen spielen, sondern komplett andere Sportarten betreiben. Idealerweise bildet ein Festival-Wettbewerb zwar die Bandbreite des cineastisch Möglichen ab, bringt aber die Filme untereinander in Kommunikation; gibt das Gefühl, dass alle von unterschiedlichen Richtungen am selben, großen Klotz der Welterkenntnis meißeln. Hier aber redeten alle nur vor und
für sich hin.
Und sollte man die Hoffnung gehegt haben, dass wenigstens die Preisvergabe einen sinnstiftenden Blick auf den Gemischtwarenladen ermöglichen würde, dann: Sorry. Eher machten die Edelmetallbären das Ganze noch beliebiger, zerfahrener. Es lag eine Ahnung in der Berliner Luft, dass die Jury sich so ganz eins nicht werden wollte.
Was bleibt nun also von der Ära Chatrian/Rissenbeek, von der man sich in cineastischen Kreisen so viel versprochen hatte?
Die eine wirklich neue Errungenschaft, Chatrians »Encounters«-Reihe, war angetreten als eine Art Edel-Forum, um Werken, die für den Wettbewerb zu avantgardistisch schienen, die Hauptbühne zu bieten. Aber nach neugierig machendem Beginn hat die Reihe nie so recht ihr Versprechen einlösen können, ihre Existenzberechtigung behaupten.
Und dieses
Jahr wurde sie qualitativ bereits auffallend stiefmütterlich bestückt – und ihre Pressevorführungen fast mutwillig gegen die nun in den Abend verlegten Wettbewerbs-Schienen programmiert. Ein Aufmerksamkeits-Freitod, der wirkte, als wolle man sichergehen, sich da keine hauseigene Konkurrenz heranzuzüchten, die dem Wettbewerb noch etwas von seinem bisschen stumpfen Glanz abknapst. Überlebensprognose: Fraglich.
Ansonsten war die Leistung Chatrians & Rissenbeeks vor allem das Weglassen. Zuerst wurde das exzentrische kulinarische Kino auf Nulldiät gesetzt. Und dann verordnete man auch den übrigen Reihen eine Entschlackung, setzte auf eine geringere Gesamtzahl an Filmen – jedoch bei relativ gleichbleibendem cineastischen Nährwert.
Und am Ende wurden Chatrian/Rissenbeek nun also eingeholt von jenem geerbten Selbstverständnis des Festivals: Der Schutzbehauptung der Berlinale, unter den A-Festivals das »politische« zu sein.
Kein Hollywood-Schaulaufen wie in Cannes, kein cineastisches Gipfeltreffen wie in Venedig: Auf der Berlinale sollen, wenn schon nicht die wichtigen Filme laufen, so doch die wichtigen Themen stattfinden.
Es stimmt schon, was ein Jurymitglied sagte: Auf der Berlinale bekommen jene Filme eine internationale Plattform, die sonst nirgendwo eine solche enorme Chance haben, nicht nur wahrgenommen zu werden – sondern vielleicht sogar etwas zu bewegen.
Aber so eine Aufgabe braucht eben eine klarere Linie. Kein: Man will alles sagen, auf alles aufmerksam machen und allem Aufmerksamkeit schenken, wenn es nur Bedeutsamkeit verspricht. Die Berlinale und ihre Leitung sind keine
amtsberufenen Diplomaten, denen man Statements zu allen internationalen Krisen abheimsen kann. Die Berlinale ist im besten Fall ein Mittler.
Was aber nicht heißen soll, dass es damit getan sein kann, die Themen abzuladen und dann die Diskussion sich selbst zu überlassen. Da herrschte zuletzt ein Missverhältnis zwischen dem Heischen von Bedeutung, Wirkung – und dann dem Schweigen und den Floskeln, wenn es darum gegangen wäre, wirklich Stellung zu beziehen.
Das »Politische A-Festival« war freilich schon unter Kosslick eine zur Tugend umdefinierte Not, als klar wurde, dass in Sachen cineastischer Strahlkraft und Glamour die Berlinale zusehends und dauerhaft abgehängt wird von Cannes und Venedig.
Es war immer mehr Marke denn wahre Haltung. War Performance mehr denn Konsequenz.
Es wäre spannend gewesen mitzuerleben, wohin sich die Berlinale hätte entwickeln können, wenn dem neuen Leitungs-Duo mal ein paar Jahre unter stabilen Rahmenbedingungen vergönnt gewesen wären.
Es zeigte sich freilich: Viel an der grundlegenden Struktur, den Rahmen ihrer Möglichkeiten bestimmt bei der Berlinale eben doch nicht die Leitung – die Berlinale ist und bleibt stark geprägt von äußeren Zwängen. Von den Ansprüchen von Kulturpolitik, Sponsoren, Branche, und den plattentektonischen Veränderungen im Filmgeschäft und der Kinolandschaft.
Jede Berlinale-Leitung wird da wohl eher an Stellschrauben drehen können, statt kühn und frei das Steuerrad auf
völlig anderen Kurs zu wuchten.
Auf dem Papier sah letztlich vieles doch nicht so unähnlich aus wie unter Kosslick.
Aber was Chatrian als künstlerischem Leiter gelang: Immerhin ging’s wieder mehr um die Filme, als den Schnickschnack drumrum. Und es wurde zwar die nominell ähnliche Art und Preisklasse an Filmen gezeigt – jedoch in der wirklich ansehnlichen Variante. Das Gesamtniveau der Filme war besser. Vielleicht mit weniger wirklichen Spitzen – aber nur noch sehr selten in jenen
abgeschmackten Gewässern fischend, die unter Kosslick gang und gäbe waren.
Und vielleicht passend, dass eines der allgegenwärtigsten Themen im diesjährigen Programm der Kreislauf des Lebens war. Etliche Filme folgten einem Jahreszyklus Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Frühling (u.a. Gokogu no neko, Sasquatch Sunset, Der unsichtbare Zoo), etliche mehr handelten generell von Vergehen und Wiedergeburt (L’Empire, Sterben, Cuckoo, All Shall Be Well, Spaceman et al.).
Nun also wieder alles – oder zumindest manches – auf Anfang. Vielleicht ist es ja für die nachfolgende Leitung ein Vorteil, dass sie das Erbe aus nicht ganz so prägenden Händen übernimmt. Dass sie mehr eigene Saat ausbringen kann, statt störrische Wurzeln ausgraben zu müssen.
It’s the Circle of Life, and it moves us all, through despair and hope,
through faith and love – und hoffentlich auch durch den nächsten Berliner Februar…