14.03.2024
74. Berlinale 2024

An den Grenzen der Kunstfreiheit

Zukunft der Berlinale

Der Konflikt zum Konflikt: Der andauernde Antisemitismusstreit in Deutschland, die Reaktion der Politik und die offenen Fragen zur Berlinale-Affaire

Von Rüdiger Suchsland

»Von 'Nie wieder!' keine Spur – wie der Anti­se­mi­tismus in Deutsch­land immer offen­sicht­li­cher wird.« So lautete der Titel der ttt-Sendung (ARD) vom 10. März 2024, vor drei Tagen, nicht vor 70 Jahren. Die Mode­ra­torin Siham El-Maimouni mode­rierte die Sendung folgen­der­maßen an: »Israel, Gaza, das liegt Tausende von Kilo­me­tern entfernt, und doch erleben wir hier­zu­lande längst einen Konflikt zum Konflikt: Eine Welle von Anti­se­mi­tismus, die das Land überrollt. Dass der brutale Anschlag der Hamas vom 7. Oktober den aktuellen Krieg im Nahen Osten losge­treten hat, dass die Terro­risten weiterhin Geiseln fest­halten und Raketen auf Israel abschießen, ist immer weniger Teil der Debatte. Mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, wächst der Hass auf Israel und auf Juden generell. Warum läuft die Debatte so aus dem Ruder? Wir haben Menschen getroffen, die dazu forschen und darüber schreiben und die der Judenhass bei uns direkt trifft.«

Ein hervor­ra­gende Anmo­de­ra­tion, die an Klarheit wenig zu wünschen übrig lässt – man würde sich so etwas öfter wünschen im deutschen Fernsehen. Aber immerhin passiert es, passiert es jetzt etwas mehr, weil wir begreifen, dass dies dringend nötig ist. Dass wir da eben nicht so leicht wieder raus kommen, wie es manche erhoffen. Auch der darauf­fol­gende ttt-Beitrag war klar und deutlich: das was hier auf »artechock« schon vor Monaten stand, dass nämlich insbe­son­dere die Haupt­stadt Berlin mit ihren sehr spezi­ellen, gewöh­nungs­be­dürf­tigen, aber immer weniger erträg­li­chen Diskursen ein Problem der deutschen Kultur ist, und glück­li­cher­weise ein Ausnah­me­fall, aller­dings ein sehr, sehr lauter, und in der deutschen Kultur­szene viel zu domi­nanter, das spricht sich allmäh­lich herum in der Republik und auch bei öffent­lich-recht­li­chen Bericht­erstat­tern.

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Immer mehr jüdische Einrich­tungen müssen beschützt werden. Seit dem 7. Oktober 2023 scheinen alle Dämme gebrochen. Philipp Peymann Engel, Chef­re­dak­teur der »Jüdischen Allge­meinen«, sagt bei ttt: »Es hört einfach nicht auf und es ist eine entsetz­liche Situation. Das Thema Anti­se­mi­tismus ist nicht nur ein Thema von Rechts­außen. Es ist ein Thema aus der Mitte der Gesell­schaft, es ist zurzeit aber gerade auch ein Thema eines Teils des linken Milieus und eines Teils der musli­mi­schen Einwan­de­rer­mi­lieus. Israel wird mit doppelten Standards gemessen, dele­gi­ti­miert und dämo­ni­siert.«
Vorge­stellt wird dann auch das Buch »Judenhass Under­ground« von Nicolas Potter und Stefan Lauer, das vor allem auf linke Milieus blickt. Auch dies ist ein Berlin-Phänomen: Die zumindest gele­gent­liche Selbst­kritik der linken Milieus. Sie ist hier aller­dings auch dringend nötig.
»An den Hoch­schulen wird Toleranz gefordert, aber der vermeint­liche Gegner nieder­ge­brüllt. Denn der Nahost­kon­flikt ist hoch­kom­plex, das post­ko­lo­niale Weltbild, das viele Studie­rende vertreten, eher schlicht.« Social Media ist ein Brand­be­schleu­niger dieser dummen Diskurse.
Der Beitrag nimmt dann noch die Berlinale als das neueste Beispiel der Schwarz-Weiß-Malerei im Kultur­be­trieb – insbe­son­dere, aber nicht nur im deutschen. »Einsei­tiges Israel Bashing, die Hamas wurde ignoriert.«

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»In eigener Sache« titelt die Redaktion von »ZEIT Geschichte« am 29. Februar 2024 und berichtet, wie sie für ihre Ausgabe »Jüdisches Leben« »mit anti­se­mi­ti­schem Hass überzogen« wurde. Chef­re­dak­teur Frank Werner schreibt: »Es ist gerade einmal drei Jahre her, da hat die Nation sich unter­ge­hakt und gefeiert: 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutsch­land.«

Als man als Reaktion auf den arabi­schen Terror­an­griff vom 7. Oktober und das sprung­hafte Ansteigen anti­jü­di­scher Straf­taten in Deutsch­land die drei Jahre alte Ausgabe zum jüdischen Leben noch einmal auf Facebook beworben hat, kam der Schock. Werner schreibt: »Einen Tag und 614 Kommen­tare später ist klar: Es geht heute nicht mehr darum, für einen versteckten, oft nur ange­deu­teten Anti­se­mi­tismus zu sensi­bi­li­sieren, wie noch vor drei Jahren. Es geht darum, sich gegen eine Flut voll­kommen enthemmter Hass­pa­rolen zu stemmen.«

Ohne Paywall kann man den Text hier nachlesen. Inklusive der abstoßenden Zitate ganz normaler deutscher Anti­se­miten.

Es stimmt: »Hier geht es nicht um Kritik an der israe­li­schen Regierung oder Kriegs­füh­rung, sondern um blanken Hass, der in uralten Stereo­typen daher­kommt: in der Rede vom 'Kinder­mörder', vom 'verschla­genen Lügner' oder vom vermeint­li­chen jüdischen Streben nach Welt­herr­schaft. Der Hass trifft auch die Juden in Deutsch­land, aus einem einzigen Grund: weil sie Juden sind.«

Werner ist auch in anderer Hinsicht offen: »Viele der Facebook-Accounts sind propaläs­ti­nen­si­sche Propa­gan­da­schleu­dern; teils in arabi­scher Sprache, teils mit türki­schen Flaggen neben den paläs­ti­nen­si­schen.« Es sind nicht nur biodeut­sche Spieß­bürger und neue Nazis, sondern: »Es ist vor allem ein migran­ti­scher Anti­se­mi­tismus, der sich hier austobt.«

Die Posts zeigten, so Werner, »wie der Anti­se­mi­tismus aus der Deckung kommt, wie aus verdruckster Rede und versteckten Codes eine Hetz­kam­pagne wird. ... und wie brüchig das Fundament zu werden droht, auf dem die scheinbar so erfolg­reiche deutsche Erin­ne­rungs­po­litik ruht.«

Zu werden »droht«? Nur hier, liebe Redaktion von »ZEIT Geschichte«, möchte ich wider­spre­chen: Das Fundament ist längst brüchig und an einigen Stellen ist es schon zerbro­chen. Gesteht es euch endlich ein, ihr Liberalen und Demo­kraten und Repu­bli­kaner aus der Mitte der Gesell­schaft. Redet nicht länger darum herum, hört auf, die Lage schön­zu­reden. Bitte! Dieses Fundament muss völlig neu gegossen werden.

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Eine Anti­se­mi­tis­mus­klausel für den Kultur­be­trieb mögen viele nicht, sie ist aber auf dem Weg. Insbe­son­dere in Berlin, wo ein erster, juris­tisch amateur­haft einge­lei­teter Versuch des uner­fah­renen Berliner Kultur­se­na­tors Joe Chialo (CDU) geschei­tert ist. Der Kampf gegen Judenhass gehöre in die Berliner Verfas­sung, sagte Kai Wegner, Regie­render Bürger­meister von Berlin, bereits im Januar: »Die Diskus­sion über die soge­nannte Anti­se­mi­tismus-Klausel zeigt, dass es wichtiger denn je ist, eine klare Haltung zu zeigen.« Er wolle den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus als Staats­ziel in der Verfas­sung des Landes Berlin verankern.

Nach dem Scheitern des ersten Versuchs machte der Regie­rende Bürger­meister schnell klar, dass seine große Koalition besser und effek­tiver nachlegen wolle, und kündigte eine neue, breiter angelegte Lösung an: »Wir werden einen gemein­samen Weg gehen, wie wir das Thema rechts­si­cher gestalten können und für alle Berliner Verwal­tungen zur Anwendung bringen«, sagte der CDU-Politiker im Berliner Abge­ord­ne­ten­haus unge­achtet der teils harschen Kritik aus der Kultur­szene. »Wir werden genau aufpassen, dass die Träger, die wir fördern, sich zu unserem Zusam­men­leben bekennen, zu unserer Demo­kratie«, so Wegner. »Bei diesem Thema muss klar sein: Wer Förder­mittel bekommt, der muss sich einer genauen Prüfung unter­ziehen. Dabei ist völlig egal, aus welcher Richtung unsere Demo­kratie ange­griffen wird. Ob es Menschen­feind­lich­keit ist, Hass oder Hetze.«

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Ein weiterer Schritt dazu, dass Ähnliches auch auf Bundes­ebene einge­führt werden wird, ist die an diesem Mittwoch veröf­fent­lichte »Gemein­same Erklärung der Kultur­mi­nis­ter­kon­fe­renz, der Beauf­tragten der Bundes­re­gie­rung für Kultur und Medien und der kommu­nalen Spit­zen­ver­bände«.

Unter dem Titel »Freiheit und Respekt in Kunst und Kultur« geht es darin um »Stra­te­gien gegen anti­se­mi­ti­sche, rassis­ti­sche und andere menschen­ver­ach­tende Inhalte im öffent­lich geför­derten Kultur­be­trieb«.

Weiter heißt es: »Die Freiheit der Kunst gehört zu den elemen­taren Prin­zi­pien unseres Grund­ge­setzes und ist damit Grundlage unserer frei­heit­li­chen, demo­kra­ti­schen Gesell­schaft. ... Für die öffent­liche Förderung von Kunst und Kultur bedeutet die Wahrung der Kunst­frei­heit, dass für Kunst, die sich im Rahmen der geltenden Gesetze bewegt, keine inhalt­li­chen Vorgaben des Staates gelten dürfen und der Staat bei der Abfor­de­rung von konkreten Bekennt­nissen als Auflage von Zuwen­dungen Zurück­hal­tung üben sollte.
Zugleich ist die Bekämp­fung von Anti­se­mi­tismus, Rassismus und Menschen­feind­lich­keit Verpflich­tung des Staates. Deshalb muss sicher­ge­stellt sein, dass öffent­liche Gelder nicht dazu miss­braucht werden, anti­se­mi­ti­sche, rassis­ti­sche und andere menschen­ver­ach­tende Kunst- und Kultur­pro­jekte zu finan­zieren.«

Länder, Bund und Kommunen verkünden nun dazu erste drei »Eckpunkte«: »(1) Förder­be­din­gungen präzi­sieren ... (2) Sensi­bi­li­sie­rung sicher­stellen ... (3) Eigen­ver­ant­wor­tung stärken«.

Die Richtung ist klar. Der letzte Punkt bedeutet aller­dings auch etwas Konkretes für die Berlinale: Sie ist selbst­ver­ant­wort­lich für das, was in ihrem Rahmen geschieht. Und wenn sie dieser Verant­wor­tung nicht gerecht wird, werden scharfe Konse­quenzen folgen.

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In der letzten Woche hatten wir hier einen SZ-Text zitiert. Darin war von einer »Akademie für Film und Fernsehen« die Rede. Die gibt es nicht. Auf Nachfrage hat sich heraus­ge­stellt, dass die »Akademie für Fernsehen« gemeint war. Sie hat im Rahmen des Festivals ein Panel orga­ni­siert. Die SZ hatte berichtet, dass man sich aktiv dagegen entschieden hatte, ein Panel zu Anti­se­mi­tismus und Meinungs­frei­heit abzu­halten. Das war ange­sichts der nach­fol­genden Debatte ohne Frage erwäh­nens­wert.

Was die einzige Schwäche des SZ-Textes ist, ist, dass im Grunde ein Satz fehlt, nur ein Satz – aber eben ein sehr wichtiger Satz: Dass der Unwille über Israel / Juden / Anti­se­mi­tismus zu reden, der gesamten Filmszene / Kultur­szene in Deutsch­land gemeinsam ist. Da ist die Berlinale eher Symptom als Täter.

Aller­dings ist die Berlinale deshalb so wichtig wie die Documenta und deswegen auch der richtige Schau­platz für Grund­satz­de­batten, weil sie eine global wichtige Kultur­in­sti­tu­tion ist, kein lokales Ereignis.
Ansonsten ist zur Berlinale noch hinzu­zu­fügen, dass die Berliner Situation und die Inter­na­tio­na­lität des Teams alles in dem Fall noch schlimmer macht.

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Fest­zu­halten aber bleibt, dass die Berlinale kein »safe space« mehr ist. Jeden­falls nicht für Juden.

Das sieht man an einem »statement from Berlinale workers« vom 12. Februar 2024, also bereits vor der Berlinale, das in Deutsch­land ein bisschen unter dem Radar gelaufen und daher kaum beachtet wurde.

Darin raunen die anonymen Verfasser von den »aktuellen Grenzen, die der Sprache gesetzt sind« und der »insti­tu­tio­nellen Trägheit im Kultur­sektor in Deutsch­land« und äußern »Wider­spruch zum aktuellen Angriff auf das Leben der Paläs­ti­nenser ... Wir schließen uns einer globalen Soli­da­ri­täts­be­we­gung an.«

Vom Festival fordern sie »dass sich das Programm des dies­jäh­rigen Festivals aktiver und diskur­siver mit der Dring­lich­keit und Realität des Augen­blicks ausein­an­der­setzt, indem es Dialogräume aus eigener Initia­tive und Gestal­tung im Großen bereit­hält. ... Statt­dessen erleben wir keine Initia­tiven, die Fachleute und/oder Publikum in einen spezi­ellen Diskus­si­ons­raum einladen, der so struk­tu­riert ist, dass eine längere Begegnung zwischen allen möglich ist. ... Da die Welt Zeuge eines unvor­stell­baren Verlusts an zivilen Leben in Gaza ist – darunter auch von Jour­na­listen, Künstlern und Film­schaf­fenden – sowie der Zers­törung eines einzig­ar­tigen kultu­rellen Erbes, brauchen wir eine stärkere insti­tu­tio­nelle Haltung.«

Kein Wort statt­dessen über die israe­li­schen Opfer, über getötete und verge­wal­tigte und entführte Israelis.

Die Liste der Unter­zeichner ist nach wie vor hier einsehbar.
Allein 15 der 65 Unter­zeichner arbeiten bei der »Gene­ra­tion«. Kinder an die Macht? Besser nicht. Auch 15 arbeiten im Panorama. Genau aus diesen beiden Sektionen stammen die anstößigen State­ments der angeblich »gehackten« Berlinale-Seiten. Zufall? Kaum zu glauben.

Weitere 14 arbeiten im Berlinale-Filmmarkt, dem EFM, manche in führender Position, darunter sogar der Assistent des bishe­rigen EFM-Chefs Denis Ruh.

Was lernen wir daraus? Insbe­son­dere das Panorama, die Gene­ra­tion und den EFM sollten Juden in Zukunft besser meiden.

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Vergan­genen Donnerstag schrieb ich folgende Mail an die Leiterin der Berlinale-Pres­se­stelle:

»Bitte erlaube mir eine kurze Nachfrage. In Eurer Pres­se­mit­tei­lung vom 26.2. kündigt ihr an, die Berlinale habe wegen des ›Hacker­an­griffs‹ nach der Preis­ver­lei­hung Straf­an­zeige gestellt.
Mir wurde nun durch einen Kontakt aus der Berliner Filmszene mitge­teilt, dass diese Straf­an­zeige bislang noch nicht gestellt wurde. Da ich mir das wiederum eigent­lich nicht vorstellen kann, bitte ich Dich um Aufklärung.«

Außerdem inter­es­siert mich, ob ihr inzwi­schen Genaueres zu dem Vorfall und seinen Urhebern sagen könnt. Du kennst bestimmt die Zweifel und Einwände von manchen Seiten (z.B.: https://www.t-online.de/unter­hal­tung/kino/id_100352908/berlinale-anti­se­mi­tismus-eklat-instagram-posting-doch-kein-hacker­an­griff-.html). Es wird argu­men­tiert, das die anti­se­mi­ti­schen Posts durch Berlinale-Mitar­beiter gepostet sein müssen. Ausdrück­lich möchte ich mir das selbst nicht zu eigen machen – ich verstehe davon technisch zu wenig. Aber ich gehe davon aus, dass die Berlinale selbst der Sache auf den Grund gehen will, und hier womöglich schon weiter ist. Könnt ihr definitiv ausschließen, dass die Posts von Berlinale-Mitar­bei­tern stammen bzw. intern ohne Hacking versandt wurden?

Da die Adres­satin in Urlaub ist, bekam ich von einer Mitar­bei­terin folgende Antwort (Donnerstag, 07. März 2024 um 15:32 Uhr):

»> Lieber Rüdiger Suchsland,
> vielen Dank für Ihre Anfrage.
> Die Straf­an­zeige wurde gestellt. Das LKA ermittelt.«

Worauf ich um 15:37 Uhr wie folgt nach­fragte:
»Danke! Können Sie mir auch sagen, wo die Straf­an­zeige gestellt wurde – das LKA ermittelt ja aus eigener Initia­tive.
Und ich hatte Ihnen noch eine zweiten Frage­ab­satz gestellt. Zusam­men­fas­send: Kann die Berlinale definitiv ausschließen, dass die Posts von Berlinale Mitar­bei­tern stammen bzw. intern ohne Hacking versandt wurden?«

Bislang keine Antwort.

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Die neue Berlinale-Chefin wird einiges zu tun haben, um diesen isra­el­feind­li­chen, latent anti­se­mi­ti­schen Sumpf trocken zu legen. Noch quaken die Frösche.