16.05.2024
39. DOK.fest München 2024

DOK.fest-Marathon 02

DOK.fest | Trust Me
Trust Me: Wer sich traut, der traut sich
(Foto: DOK.fest | Trust Me)

Mittellange Kritiken: Wir besprechen »Projekt Ballhausplatz«, »Trust Me«, »Das leere Grab« und »Joana Mallwitz«

Von artechock-Redaktion

Trust Me (Deutsch­land, Polen 2024 · R: Joanna Ratajczak · DOK.deutsch)

Eine 88-minütige Liebes­bal­lade

Über 6 Jahre beglei­tete die Regis­seurin Joanna Ratajczak das Ehepaar Sebastian und Alicja. Dabei ist ein Werk entstanden, welches eine Liebes­be­zie­hung so ehrlich und nah zeigt, wie man es selten sieht.

Kaum eine Thematik ist so verbraucht vom Kino, wie es die Liebe zwischen Mann und Frau ist. Über­mäßiger Kitsch, unrea­lis­ti­sche Schön­heits­ideale und lächer­liche Drama­ti­sie­rung sind hier zu meist an der Tages­ord­nung. Umso inter­es­santer ist es, wenn das Genre des Doku­men­tar­films diese ästhe­ti­schen Normen aufhebt. Joanna Ratajczak verzichtet in Gänze auf ästhe­ti­sche Ablen­kungen, sondern hält viel mehr scho­nungslos drauf.

Der Film beginnt mit Sebastian und Alicja, wie sie in einem See Nackt­baden. Wir sehen echte Körper, die nicht perfekt sind. Nach­fol­gend bemerkt man, dass auch die Beziehung der beiden Menschen, deren Körper wir zuvor gesehen haben, alles andere als perfekt ist. In einem Gespräch unter­halten sich die beiden über ihre (inzwi­schen) offene Ehe. Immer wieder sehen wir die beiden, wie sie ihre Ehe disku­tieren. Was bedeutet Freiheit ? Was bedeutet Eifer­sucht ? All jene Fragen werden nicht beant­wortet. Viel mehr ist es der Versuch, die Komple­xität von modernen Bezie­hungen zu erfor­schen. Die Komple­xität erhöht sich zudem noch, nachdem die monogame Beziehung zu einer polygamen Drei­ecks­be­zie­hung wird.

Intim und gefühl­voll verfolgen wir das Paar, was sich immer wieder vonein­ander entfernt und wieder zuein­ander findet. Teilweise sind es nur die Blicke der Prot­ago­nisten oder kleine Berüh­rungen zwischen ihnen, die viel mehr erzählen als jedes Wort was gewech­selt wird. Einge­rahmt von der heraus­ra­genden Schnitt­ar­beit scheint man kaum aus dem Nach­denken über das Gesehene aufhören zu können, so intensiv »insze­niert« Ratajczak das Nicht-insze­nierte. Eine Wertung bleibt die Regis­seurin dem Zuschauer jedoch glück­li­cher­weise schuldig, sodass man eben nicht in die gewohnte Falle tappt, seine eigene Welt­an­schauung bestätigt zu suchen.

Zum Schluss befindet der Film sich gewis­ser­maßen da, wo er anfing. Sebastian und Alicja sind an einem See. Diesmal ist die Sonne jedoch bereits unter­ge­gangen. Einige Worte werden gewech­selt. Ist es das Ende? Ist es der Neubeginn? Der Zuschauer vermag die Antwort nur zu erahnen. Eins bleibt jedoch: Das Gefühl, einen Blick auf die Liebe und die Mensch­lich­keit geworfen zu haben, wie es ihn in unserer digitalen und mit Filtern über­zo­genen Welt nur selten zu sehen gibt. – Christian Schmuck, LMU München

I’m not ever­y­thing I want to be (Öster­reich, Slowakei, Tsche­chi­sche Republik 2024 · R: Klára Tasovská · Best of Fests)

Foto­gra­fieren als Konstante des Lebens

Libuše Jarcov­já­ková wehrt sich gegen die Repres­sionen des kommu­nis­ti­schen Regimes in Tsche­chien, reist zunächst illegal und später, mit Hilfe einer Schein­heirat, legal ins Ausland. Ihr erstes Ziel ist Japan, wo ihre ebenfalls ausge­wan­derte Freundin mit ihrem Mann lebt. Dort beginnt sie eine Karriere als Mode­fo­to­grafin, kehrt jedoch kurze Zeit später, unzu­frieden mit der mangelnden Selbst­dar­stel­lung in ihren Bildern, nach Prag zurück. Dort findet sie bei der Arbeit als Tsche­chisch­leh­rerin für Viet­na­mesen, welche infolge des »Arbei­ter­s­aus­tau­sches« zwischen kommu­nis­ti­schen Ländern nach Prag gekommen waren, neue Freunde. Durch diese lernt sie das illegale und queere Nacht­leben Prags kennen, dessen Wurzeln sie schluss­end­lich dazu verleiten, nach West­berlin zu ziehen.

Von den Prager Früh­lings­de­mons­tra­tionen bis zum Fall der Berliner Mauer doku­men­tiert Libuše Jarcov­já­ková alles mit ihrer Foto­ka­mera. Zusammen mit der Regis­seurin Klára Tasovská setzt sie ihre Foto­gra­fien zu Film­ma­te­rial zusammen und kreiert somit ein intimes Porträt ihres Lebens. Diese sehr künst­le­ri­sche Heran­ge­hens­weise an das Produ­zieren eines Doku­men­tar­films erlaubt einen Blick durch Jarcov­já­kovás Augen und spiegelt das Foto­gra­fieren als einzige Konstante in ihrem Leben wieder. – Allison Geyer, LMU München

Projekt Ball­haus­platz. Aufstieg und Fall des Sebastian Kurz (R: Kurt Langbein · Öster­reich 2023 · DOK.Focus Democrazy)

»Dem Volke dienen.« Sebastian Kurz saß 2010 als sehr junger Abge­ord­neter im Wiener Gemein­derat, wurde 2011 Inte­gra­ti­ons­staats­se­kretär in einer rot-schwarzen Bundes­re­gie­rung, 2013, mit 27, der jüngste Außen­mi­nister der Republik Öster­reich, der 2014, nach Putins Besetzung der Krim, schon mal für die Aufhebung der Russland-Sank­tionen plädierte. In der so genannten Flücht­lings­krise 2015 konnte er sich als helden­hafter Macher profi­lieren, dem es gelang, die »West­balkan-Route zu schließen« – bald darauf ging es darum, mit der Hilfe seiner »Jünger« und genau­ester stra­te­gi­scher Planung das Kanz­leramt (am Wiener Ball­haus­platz) zu erobern. Die Öster­rei­chi­sche Volks­partei wandelt sich zur türkis­far­benen »Liste Kurz«, die klas­si­schen Medien werden unter Druck gesetzt, der frühere »Wunder­wuzzi« insze­niert sich als jugend­liche Führer­figur. »Öster­reich neu denken« heißt, die Republik unter totale Kontrolle zu bringen: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Dank der legen­dären Ibiza-Affäre (der Herren Strache und Godenus der mitre­gie­renden FPÖ) und der skan­dalösen Chat-Proto­kolle zwischen Kurz und seinem getreuen Zuar­beiter Thomas Schmid ging es dann doch zu Ende mit der Kanz­ler­schaft.

Kurt Langbein ruft mit Archiv­ma­te­ria­lien und glei­cher­maßen erläu­ternd wie inter­pre­tie­renden Inter­views einiger Wegge­fährt:innen, Beob­achter, mancher Betrof­fener (und einer nett-bemühten Insze­nie­rungs-Idee) diese Karriere und ihre bitteren Folgen für die gesamte Republik in Erin­ne­rung. Für politisch inter­es­sierte Öster­rei­cher:innen nichts Neues. Für uns ein paar Vergleiche: Wie es wohl hierorts in manchen Partei­zen­tralen, Bundes- und Landes-Regie­rungen hinter den Kulissen zugehen mag?

Kurz übrigens verbringt seine Auszeit mit, wen wundert’s, Palantir-Co-Chef und Trump-Helfers­helfer Peter Thiel. Und hat, mit seinen menschen- und demo­kra­tie­ver­ach­tenden Methoden, den Boden bereitet für einen FPÖ-»Volks­kanzler« Herbert Kickl, der, so ist zu befürchten, im Herbst 2024 die Wahlen in Öster­reich gewinnt. – Hermann Barth

Das leere Grab · Regie Agnes Lisa Wegner & Cece Mlay · Deutsch­land/Tansania 2024 · DOK.network Africa

Das heutige Tansania war einst, zu Kaisers Zeiten, eine deutsche Kolonie. Die Aufs­tän­di­schen, die sich dort gegen Zwangs­ar­beit, Unter­drü­ckung und die Zers­törung ihrer Kultur wehrten, wurden im Maji-Maji-Krieg zwischen 1905 und 1907 nieder­ge­macht – und unzählige ihrer Schädel vom beses­senen »Menschen­for­scher« Felix von Luschan für rassis­ti­sche Studien nach Berlin verbracht. John Mbano, junger Anwalt und Urenkel des 1906 ermor­deten Anführers Songea Mbano, macht sich, zusammen mit seiner Frau Cesilia, auf die Suche nach dem Schädel seines Urgroß­va­ters. Auch Felix und Ernest Kaaya kämpfen für die Rück­füh­rung der sterb­li­chen Überreste ihres Vorfahren. Dank der Hilfe zweier Berliner Akti­visten erfahren die Mbanos bei einem Aufent­halt in Deutsch­land Unter­s­tüt­zung durch das Auswär­tige Amt und die Stiftung Preus­si­scher Kultur­be­sitz.

Jedoch: Resti­tu­tion ist eine kaum zu lösende Aufgabe. Es fehlt an aussa­ge­kräf­tigen Unter­lagen. Die Herkunft Tausender mensch­li­cher Gebeine in west­li­chen Archiven und Museen ist nur in den seltensten Fällen einer konkreten Person zuor­denbar. Selbst wenn es, wie im Fall der Familie Kaaya gelingt, ist dies für die tansa­ni­schen Behörden noch lange kein Grund, sich von Staats wegen für eine Rück­füh­rung einzu­setzen.

Der Film des deutsch-tansa­ni­schen Regie-Duos Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay ist eine facet­ten­reiche Lang­zeit­studie geworden, die in den Süden und Norden Tansanias (in die Stadt Samoa und zum Mount Meru), in die Haupt­stadt Dar-es-Salaam und nach Berlin führt. Zu den leeren Gräbern, wo Trauer und Schmerz der Angehö­rigen der dritten und vierten Gene­ra­tion unmit­telbar erlebbar sind, in Amts­stuben, Biblio­theken und Depots.

Gegen Ende ein Besuch von Bunde­sprä­si­dent Frank-Walter Stein­meier an der Gedenks­tätte für die Opfer des Maji-Maji-Krieges. Er legt eine Rose nieder. – Hermann Barth

Joana Mallwitz – Momentum · Regie Günter Atteln · Deutsch­land 2024 · DOK.Music

Tolle Diri­gentin. Akribisch bereitet sie sich auf jede Auffüh­rung vor, gräbt sich in die feinsten Details einer Kompo­si­tion und vermag ihre sachliche Begeis­te­rung mit den Musi­kerInnen zu teilen. Fünf Jahre lang stand die 37-Jährige am Pult des Nürn­berger Staats­thea­ters. Nun ist sie Chef­di­ri­gentin und künst­le­ri­sche Leiterin des Konzert­hauses Berlin. Ganz großer, bewe­gender Abschied in Nürnberg, erwar­tungs­voller Empfang in Berlin.

Dazwi­schen Salzburg, Paris, Amsterdam. Eine Verab­re­dung mit dem Freund Igor Levit. Der Umzug. Die Inter­views. Ein Fami­li­en­leben. Mit Mann (dem Tenor Simon Bode) und Kind. Da bleiben die nervig-redun­danten Fragen nach dem »Wie schaffen sie das, als Frau?« nicht aus.

Zwei Jahre lang hat Günther Atteln Joana Mallwitz begleitet und dabei sehr viele schöne, stille und große Momente einge­fangen – die auch einem nicht-klassik-affinen Publikum nahe­bringen können, was den Beruf zur Berufung macht.

Joana Mallwitz hat die seltene Begabung, dass sie mit Worten anschau­lich erklären kann, worum es in ihrer Arbeit geht. Um dann beim Dirigat hoch­kon­zen­triert und mit vollem Körper­ein­satz durch die Partitur zu führen.

Sehr schade, dass der Film, wohl unter dem Druck der Premiere, nicht zu Ende geschnitten ist. Das Material zeigt immer wieder 5/5, der Film aber belässt’s bei 3/5. – Hermann Barth