39. DOK.fest München 2024
DOK.fest-Marathon 02 |
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Trust Me: Wer sich traut, der traut sich | ||
(Foto: DOK.fest | Trust Me) |
Trust Me (Deutschland, Polen 2024 · R: Joanna Ratajczak · DOK.deutsch)
Über 6 Jahre begleitete die Regisseurin Joanna Ratajczak das Ehepaar Sebastian und Alicja. Dabei ist ein Werk entstanden, welches eine Liebesbeziehung so ehrlich und nah zeigt, wie man es selten sieht.
Kaum eine Thematik ist so verbraucht vom Kino, wie es die Liebe zwischen Mann und Frau ist. Übermäßiger Kitsch, unrealistische Schönheitsideale und lächerliche Dramatisierung sind hier zu meist an der Tagesordnung. Umso interessanter ist es, wenn das Genre des Dokumentarfilms diese ästhetischen Normen aufhebt. Joanna Ratajczak verzichtet in Gänze auf ästhetische Ablenkungen, sondern hält viel mehr schonungslos drauf.
Der Film beginnt mit Sebastian und Alicja, wie sie in einem See Nacktbaden. Wir sehen echte Körper, die nicht perfekt sind. Nachfolgend bemerkt man, dass auch die Beziehung der beiden Menschen, deren Körper wir zuvor gesehen haben, alles andere als perfekt ist. In einem Gespräch unterhalten sich die beiden über ihre (inzwischen) offene Ehe. Immer wieder sehen wir die beiden, wie sie ihre Ehe diskutieren. Was bedeutet Freiheit ? Was bedeutet Eifersucht ? All jene Fragen werden nicht beantwortet. Viel mehr ist es der Versuch, die Komplexität von modernen Beziehungen zu erforschen. Die Komplexität erhöht sich zudem noch, nachdem die monogame Beziehung zu einer polygamen Dreiecksbeziehung wird.
Intim und gefühlvoll verfolgen wir das Paar, was sich immer wieder voneinander entfernt und wieder zueinander findet. Teilweise sind es nur die Blicke der Protagonisten oder kleine Berührungen zwischen ihnen, die viel mehr erzählen als jedes Wort was gewechselt wird. Eingerahmt von der herausragenden Schnittarbeit scheint man kaum aus dem Nachdenken über das Gesehene aufhören zu können, so intensiv »inszeniert« Ratajczak das Nicht-inszenierte. Eine Wertung bleibt die Regisseurin dem Zuschauer jedoch glücklicherweise schuldig, sodass man eben nicht in die gewohnte Falle tappt, seine eigene Weltanschauung bestätigt zu suchen.
Zum Schluss befindet der Film sich gewissermaßen da, wo er anfing. Sebastian und Alicja sind an einem See. Diesmal ist die Sonne jedoch bereits untergegangen. Einige Worte werden gewechselt. Ist es das Ende? Ist es der Neubeginn? Der Zuschauer vermag die Antwort nur zu erahnen. Eins bleibt jedoch: Das Gefühl, einen Blick auf die Liebe und die Menschlichkeit geworfen zu haben, wie es ihn in unserer digitalen und mit Filtern überzogenen Welt nur selten zu sehen gibt. – Christian Schmuck, LMU München
I’m not everything I want to be (Österreich, Slowakei, Tschechische Republik 2024 · R: Klára Tasovská · Best of Fests)
Libuše Jarcovjáková wehrt sich gegen die Repressionen des kommunistischen Regimes in Tschechien, reist zunächst illegal und später, mit Hilfe einer Scheinheirat, legal ins Ausland. Ihr erstes Ziel ist Japan, wo ihre ebenfalls ausgewanderte Freundin mit ihrem Mann lebt. Dort beginnt sie eine Karriere als Modefotografin, kehrt jedoch kurze Zeit später, unzufrieden mit der mangelnden Selbstdarstellung in ihren Bildern, nach Prag zurück. Dort findet sie bei der Arbeit als Tschechischlehrerin für Vietnamesen, welche infolge des »Arbeitersaustausches« zwischen kommunistischen Ländern nach Prag gekommen waren, neue Freunde. Durch diese lernt sie das illegale und queere Nachtleben Prags kennen, dessen Wurzeln sie schlussendlich dazu verleiten, nach Westberlin zu ziehen.
Von den Prager Frühlingsdemonstrationen bis zum Fall der Berliner Mauer dokumentiert Libuše Jarcovjáková alles mit ihrer Fotokamera. Zusammen mit der Regisseurin Klára Tasovská setzt sie ihre Fotografien zu Filmmaterial zusammen und kreiert somit ein intimes Porträt ihres Lebens. Diese sehr künstlerische Herangehensweise an das Produzieren eines Dokumentarfilms erlaubt einen Blick durch Jarcovjákovás Augen und spiegelt das Fotografieren als einzige Konstante in ihrem Leben wieder. – Allison Geyer, LMU München
Projekt Ballhausplatz. Aufstieg und Fall des Sebastian Kurz (R: Kurt Langbein · Österreich 2023 · DOK.Focus Democrazy)
»Dem Volke dienen.« Sebastian Kurz saß 2010 als sehr junger Abgeordneter im Wiener Gemeinderat, wurde 2011 Integrationsstaatssekretär in einer rot-schwarzen Bundesregierung, 2013, mit 27, der jüngste Außenminister der Republik Österreich, der 2014, nach Putins Besetzung der Krim, schon mal für die Aufhebung der Russland-Sanktionen plädierte. In der so genannten Flüchtlingskrise 2015 konnte er sich als heldenhafter Macher profilieren, dem es gelang, die »Westbalkan-Route zu schließen« – bald darauf ging es darum, mit der Hilfe seiner »Jünger« und genauester strategischer Planung das Kanzleramt (am Wiener Ballhausplatz) zu erobern. Die Österreichische Volkspartei wandelt sich zur türkisfarbenen »Liste Kurz«, die klassischen Medien werden unter Druck gesetzt, der frühere »Wunderwuzzi« inszeniert sich als jugendliche Führerfigur. »Österreich neu denken« heißt, die Republik unter totale Kontrolle zu bringen: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Dank der legendären Ibiza-Affäre (der Herren Strache und Godenus der mitregierenden FPÖ) und der skandalösen Chat-Protokolle zwischen Kurz und seinem getreuen Zuarbeiter Thomas Schmid ging es dann doch zu Ende mit der Kanzlerschaft.
Kurt Langbein ruft mit Archivmaterialien und gleichermaßen erläuternd wie interpretierenden Interviews einiger Weggefährt:innen, Beobachter, mancher Betroffener (und einer nett-bemühten Inszenierungs-Idee) diese Karriere und ihre bitteren Folgen für die gesamte Republik in Erinnerung. Für politisch interessierte Österreicher:innen nichts Neues. Für uns ein paar Vergleiche: Wie es wohl hierorts in manchen Parteizentralen, Bundes- und Landes-Regierungen hinter den Kulissen zugehen mag?
Kurz übrigens verbringt seine Auszeit mit, wen wundert’s, Palantir-Co-Chef und Trump-Helfershelfer Peter Thiel. Und hat, mit seinen menschen- und demokratieverachtenden Methoden, den Boden bereitet für einen FPÖ-»Volkskanzler« Herbert Kickl, der, so ist zu befürchten, im Herbst 2024 die Wahlen in Österreich gewinnt. – Hermann Barth
Das leere Grab · Regie Agnes Lisa Wegner & Cece Mlay · Deutschland/Tansania 2024 · DOK.network Africa
Das heutige Tansania war einst, zu Kaisers Zeiten, eine deutsche Kolonie. Die Aufständischen, die sich dort gegen Zwangsarbeit, Unterdrückung und die Zerstörung ihrer Kultur wehrten, wurden im Maji-Maji-Krieg zwischen 1905 und 1907 niedergemacht – und unzählige ihrer Schädel vom besessenen »Menschenforscher« Felix von Luschan für rassistische Studien nach Berlin verbracht. John Mbano, junger Anwalt und Urenkel des 1906 ermordeten Anführers Songea Mbano, macht sich, zusammen mit seiner Frau Cesilia, auf die Suche nach dem Schädel seines Urgroßvaters. Auch Felix und Ernest Kaaya kämpfen für die Rückführung der sterblichen Überreste ihres Vorfahren. Dank der Hilfe zweier Berliner Aktivisten erfahren die Mbanos bei einem Aufenthalt in Deutschland Unterstützung durch das Auswärtige Amt und die Stiftung Preussischer Kulturbesitz.
Jedoch: Restitution ist eine kaum zu lösende Aufgabe. Es fehlt an aussagekräftigen Unterlagen. Die Herkunft Tausender menschlicher Gebeine in westlichen Archiven und Museen ist nur in den seltensten Fällen einer konkreten Person zuordenbar. Selbst wenn es, wie im Fall der Familie Kaaya gelingt, ist dies für die tansanischen Behörden noch lange kein Grund, sich von Staats wegen für eine Rückführung einzusetzen.
Der Film des deutsch-tansanischen Regie-Duos Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay ist eine facettenreiche Langzeitstudie geworden, die in den Süden und Norden Tansanias (in die Stadt Samoa und zum Mount Meru), in die Hauptstadt Dar-es-Salaam und nach Berlin führt. Zu den leeren Gräbern, wo Trauer und Schmerz der Angehörigen der dritten und vierten Generation unmittelbar erlebbar sind, in Amtsstuben, Bibliotheken und Depots.
Gegen Ende ein Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an der Gedenkstätte für die Opfer des Maji-Maji-Krieges. Er legt eine Rose nieder. – Hermann Barth
Joana Mallwitz – Momentum · Regie Günter Atteln · Deutschland 2024 · DOK.Music
Tolle Dirigentin. Akribisch bereitet sie sich auf jede Aufführung vor, gräbt sich in die feinsten Details einer Komposition und vermag ihre sachliche Begeisterung mit den MusikerInnen zu teilen. Fünf Jahre lang stand die 37-Jährige am Pult des Nürnberger Staatstheaters. Nun ist sie Chefdirigentin und künstlerische Leiterin des Konzerthauses Berlin. Ganz großer, bewegender Abschied in Nürnberg, erwartungsvoller Empfang in Berlin.
Dazwischen Salzburg, Paris, Amsterdam. Eine Verabredung mit dem Freund Igor Levit. Der Umzug. Die Interviews. Ein Familienleben. Mit Mann (dem Tenor Simon Bode) und Kind. Da bleiben die nervig-redundanten Fragen nach dem »Wie schaffen sie das, als Frau?« nicht aus.
Zwei Jahre lang hat Günther Atteln Joana Mallwitz begleitet und dabei sehr viele schöne, stille und große Momente eingefangen – die auch einem nicht-klassik-affinen Publikum nahebringen können, was den Beruf zur Berufung macht.
Joana Mallwitz hat die seltene Begabung, dass sie mit Worten anschaulich erklären kann, worum es in ihrer Arbeit geht. Um dann beim Dirigat hochkonzentriert und mit vollem Körpereinsatz durch die Partitur zu führen.
Sehr schade, dass der Film, wohl unter dem Druck der Premiere, nicht zu Ende geschnitten ist. Das Material zeigt immer wieder 5/5, der Film aber belässt’s bei 3/5. – Hermann Barth