Poesie als Warnschuss |
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Nur vordergründig eine Geschichte aus dem Iran... | ||
(Foto: Happyalleyfilms) |
Von Axel Timo Purr
Bringt mir eine Lampe und ein Fenster, durch das ich die Menge im glücklichen Tal sehen kann.
– Forugh Farrochzad
Die dokumentarische Produktion eines Landes komprimiert auf einem Filmfestival zu sehen, ist wie eine tiefenpsychologische Reise in die Seele des Landes. Eine Reise, die umso interessanter ist, wenn es sich um ein Land wie Indien handelt, dessen Komplexität in westlichen Medien nur selten angemessen erfasst wird. Das 18. Mumbai International Film Festival (MIFF) für Dokumentarfilm, Kurzfilm und Animationsfilm, das dieses Jahr vom 15. bis 21. Juni 2024 stattfand, trat dieser »Unterversorgung« mit gleich 30 nationalen Produktionen angemessen entgegen.
Dabei zeigte sich nicht nur eine facettenreiche, aktivistische Beschäftigung mit Umweltproblemen (The Sea & Seven Villages, Catapults to Cameras, Submerged), gescheiterter Stadtplanung (Memory Footprints), sexuellem Missbrauch (Gandi Baat, Pukaar, From the Shadows), sondern immer wieder auch eine Tendenz, die neue Identität, die Indien in den letzten Jahren weltpolitisch und wirtschaftlich entwickelt hat, auch binnengesellschaftlich nachzumodellieren. Filme wie Shubhangi Rajan Sawants Sahastrasurya Savarkar konstruieren etwa eine historische Brücke zu den momentan in Indien populären nationalistisch-hinduistischen Ideen; andere Filme wie die starken 6-A Akash Ganga und Herd walk sowie Life in Loom konzentrieren sich hingegen ohne politischen Impetus auf die Frage, was man verliert, wenn nationale Identitätsmuster wie die klassische indische Musik, Schafhirten oder die diverse Weberkultur sich wandeln oder ganz zu verschwinden drohen.
Einen gänzlich anderen Weg geht die junge Regisseurin Sreemoyee Singh mit ihrem mit dem FIPRESCI-Preis und als bestes Debüt ausgezeichneten Film And, Towards Happy Alleys.
Nach einem Studium in Kalkuttas Jadavpur University geriet sie über ein Doktoranden-Projekt zunehmend in den Sog des iranischen Kinos, lernte Farsi und Filmemacher wie Jafar Panahi
und Mohammad Shirvani und Menschenrechtsaktivisten wie Nasrin Sotoudeh kennen und schätzen, um über sieben Jahre und zahllose Reisen in den Iran einen sehr persönlichen, tagebuchartigen Film zu drehen, der sich vordergründig mit dem Alltagsleben im Iran beschäftigt, einem
Iran, der durch die lauten Drohgebärden und massiven Restriktionen für die Weltöffentlichkeit kaum mehr sichtbar ist.
Sreemoyee Singh folgt Aktivist:innen und geht an die Gräber großer iranischer Dichter:innen, und wer einmal im Iran gewesen ist, weiß, was das bedeutet, denn an jedem großen Dichtergrab – und sei es auch in den Weiten des Landes nahe Maschad – stehen Menschen am Grab ihrer literarischen Idole, rezitieren ihre Verse und musizieren dazu. Sreemoyee Singh findet sich vor allem am Grab der legendären, früh verstorbenen Dichterin Forugh Farrochzad ein, um hier zu filmen, und eins von Farrochzads Gedichten, das in ihrem Film rezitiert wird, ist dann auch gewissermaßen das poetische und gleichzeitig sehr nüchterne Leitmotiv ihres Films:
»Ich spreche aus der Tiefe der Nacht
aus der Tiefe der Finsternis spreche ich.
Wenn du zu meinem Haus kommst, Freund
bring mir eine Lampe und ein Fenster,
durch das ich auf die Menge in der glücklichen Gasse schauen kann.«
Denn der tiefen Dunkelheit eines totalitären Regimes, seiner Opfer und seiner Täter, setzt Singh Alltagsporträts und -Vignetten entgegen, zeigt, wie es sich anfühlt, Widerstand zu leisten, wenn man Filmemacher ist oder einfach nur eine Frau. Immer wieder an ihrer Seite ist dabei Jafar Panahi, der wie in seinem Film Taxi Teheran (2015) mit Singh durch Teheran fährt und dabei nicht nur offen und mit einem Lächeln von seinen schweren Depressionen durch ein langes Berufsverbot und Gefängnisaufenthalte erzählt, sondern auch eine seiner ehemaligen Kinderschauspielerinnen aus der Frühphase seines Werkes wiedertrifft, das Mädchen aus Der weiße Ballon (1995), eine über alle Maßen berührende Begegnung, die es allein schon wert ist, diesen so klugen wie empathischen Film zu sehen.
Das Erstaunliche an Singhs And, Towards Happy Alleys ist, dass der Film nicht wütend ein Regime anklagt und das Volk gleich mit in Schutzhaft nimmt, sondern vielmehr leidenschaftlich von diesem Volk ohne seine Politiker erzählt und davon, wie Künstler und ganz normale Menschen ein derartiges Regime überleben und dabei dann und wann sogar so etwas wie Spaß haben. Das ist so zärtlich wie neugierig, aber stets mit dem universalen Humor erzählt, der auf der ganzen Welt die schärfste Waffe gegen totalitäre Macht ist.
Damit macht Singh auch klar, dass diese Geschichte zwar vordergründig vom Iran und seinen Menschen und vor allem dem iranischen Kino handelt, aber hintergründig auch eine subtile Warnung an die indische Heimat ist, eine poetische Warnung an eine Welt, in der nach der letzten Demokratie-Index-Messung durch den Economist nur mehr 7,8% aller Menschen in einer Volldemokratie leben. Denn überall, wo despotische Politiker an die Macht gekommen sind – davon wissen nicht nur die Iraner zu berichten, ist es etwa dieser Tage gerade wieder in der Slovakei passiert – war es immer der Kulturbereich als eine der ersten Instanzen, den die neuen Machthaber instrumentalisierten, um ihre Ideen auch in den Seelen »ihres« Volkes zu verankern.