27.06.2024

Poesie als Warnschuss

And, Towards Happy Alleys
Nur vordergründig eine Geschichte aus dem Iran...
(Foto: Happyalleyfilms)

Die Dokumentarfilme des 18. Mumbai International Film Festival (MIFF) zeigen ein zerrissenes Indien, das vor allem Identitäten sucht und hinterfragt und im Fall der FIPRESCI-Gewinnerin dafür sogar in den Iran geht

Von Axel Timo Purr

Bringt mir eine Lampe und ein Fenster, durch das ich die Menge im glück­li­chen Tal sehen kann.
– Forugh Farrochzad

Die doku­men­ta­ri­sche Produk­tion eines Landes kompri­miert auf einem Film­fes­tival zu sehen, ist wie eine tiefen­psy­cho­lo­gi­sche Reise in die Seele des Landes. Eine Reise, die umso inter­es­santer ist, wenn es sich um ein Land wie Indien handelt, dessen Komple­xität in west­li­chen Medien nur selten ange­messen erfasst wird. Das 18. Mumbai Inter­na­tional Film Festival (MIFF) für Doku­men­tar­film, Kurzfilm und Anima­ti­ons­film, das dieses Jahr vom 15. bis 21. Juni 2024 stattfand, trat dieser »Unter­ver­sor­gung« mit gleich 30 natio­nalen Produk­tionen ange­messen entgegen.

Dabei zeigte sich nicht nur eine facet­ten­reiche, akti­vis­ti­sche Beschäf­ti­gung mit Umwelt­pro­blemen (The Sea & Seven Villages, Catapults to Cameras, Submerged), geschei­terter Stadt­pla­nung (Memory Foot­prints), sexuellem Miss­brauch (Gandi Baat, Pukaar, From the Shadows), sondern immer wieder auch eine Tendenz, die neue Identität, die Indien in den letzten Jahren welt­po­li­tisch und wirt­schaft­lich entwi­ckelt hat, auch binnen­ge­sell­schaft­lich nach­zu­mo­del­lieren. Filme wie Shubhangi Rajan Sawants Sahas­t­ra­surya Savarkar konstru­ieren etwa eine histo­ri­sche Brücke zu den momentan in Indien populären natio­na­lis­tisch-hindu­is­ti­schen Ideen; andere Filme wie die starken 6-A Akash Ganga und Herd walk sowie Life in Loom konzen­trieren sich hingegen ohne poli­ti­schen Impetus auf die Frage, was man verliert, wenn nationale Iden­ti­täts­muster wie die klas­si­sche indische Musik, Schaf­hirten oder die diverse Weber­kultur sich wandeln oder ganz zu verschwinden drohen.

Einen gänzlich anderen Weg geht die junge Regis­seurin Sreemoyee Singh mit ihrem mit dem FIPRESCI-Preis und als bestes Debüt ausge­zeich­neten Film And, Towards Happy Alleys.
Nach einem Studium in Kalkuttas Jadavpur Univer­sity geriet sie über ein Dokto­randen-Projekt zunehmend in den Sog des irani­schen Kinos, lernte Farsi und Filme­ma­cher wie Jafar Panahi und Mohammad Shirvani und Menschen­rechts­ak­ti­visten wie Nasrin Sotoudeh kennen und schätzen, um über sieben Jahre und zahllose Reisen in den Iran einen sehr persön­li­chen, tage­buch­ar­tigen Film zu drehen, der sich vorder­gründig mit dem Alltags­leben im Iran beschäf­tigt, einem Iran, der durch die lauten Droh­ge­bärden und massiven Restrik­tionen für die Weltöf­fent­lich­keit kaum mehr sichtbar ist.

Sreemoyee Singh folgt Aktivist:innen und geht an die Gräber großer irani­scher Dichter:innen, und wer einmal im Iran gewesen ist, weiß, was das bedeutet, denn an jedem großen Dich­ter­grab – und sei es auch in den Weiten des Landes nahe Maschad – stehen Menschen am Grab ihrer lite­ra­ri­schen Idole, rezi­tieren ihre Verse und musi­zieren dazu. Sreemoyee Singh findet sich vor allem am Grab der legen­dären, früh verstor­benen Dichterin Forugh Farrochzad ein, um hier zu filmen, und eins von Farrochzads Gedichten, das in ihrem Film rezitiert wird, ist dann auch gewis­ser­maßen das poetische und gleich­zeitig sehr nüchterne Leitmotiv ihres Films:

»Ich spreche aus der Tiefe der Nacht
aus der Tiefe der Fins­ternis spreche ich.
Wenn du zu meinem Haus kommst, Freund
bring mir eine Lampe und ein Fenster,
durch das ich auf die Menge in der glück­li­chen Gasse schauen kann.«

Denn der tiefen Dunkel­heit eines tota­li­tären Regimes, seiner Opfer und seiner Täter, setzt Singh Alltags­por­träts und -Vignetten entgegen, zeigt, wie es sich anfühlt, Wider­stand zu leisten, wenn man Filme­ma­cher ist oder einfach nur eine Frau. Immer wieder an ihrer Seite ist dabei Jafar Panahi, der wie in seinem Film Taxi Teheran (2015) mit Singh durch Teheran fährt und dabei nicht nur offen und mit einem Lächeln von seinen schweren Depres­sionen durch ein langes Berufs­verbot und Gefäng­nis­auf­ent­halte erzählt, sondern auch eine seiner ehema­ligen Kinder­schau­spie­le­rinnen aus der Frühphase seines Werkes wieder­trifft, das Mädchen aus Der weiße Ballon (1995), eine über alle Maßen berüh­rende Begegnung, die es allein schon wert ist, diesen so klugen wie empa­thi­schen Film zu sehen.

Das Erstaun­liche an Singhs And, Towards Happy Alleys ist, dass der Film nicht wütend ein Regime anklagt und das Volk gleich mit in Schutz­haft nimmt, sondern vielmehr leiden­schaft­lich von diesem Volk ohne seine Politiker erzählt und davon, wie Künstler und ganz normale Menschen ein derar­tiges Regime überleben und dabei dann und wann sogar so etwas wie Spaß haben. Das ist so zärtlich wie neugierig, aber stets mit dem univer­salen Humor erzählt, der auf der ganzen Welt die schärfste Waffe gegen tota­li­täre Macht ist.

Damit macht Singh auch klar, dass diese Geschichte zwar vorder­gründig vom Iran und seinen Menschen und vor allem dem irani­schen Kino handelt, aber hinter­gründig auch eine subtile Warnung an die indische Heimat ist, eine poetische Warnung an eine Welt, in der nach der letzten Demo­kratie-Index-Messung durch den Economist nur mehr 7,8% aller Menschen in einer Voll­de­mo­kratie leben. Denn überall, wo despo­ti­sche Politiker an die Macht gekommen sind – davon wissen nicht nur die Iraner zu berichten, ist es etwa dieser Tage gerade wieder in der Slovakei passiert – war es immer der Kultur­be­reich als eine der ersten Instanzen, den die neuen Macht­haber instru­men­ta­li­sierten, um ihre Ideen auch in den Seelen »ihres« Volkes zu verankern.