11.07.2024
41. Filmfest München 2024

Verstörte Liebende im Palazzo Quirinale, Neorealismus im Ziegenstall

Anna
Packend: Marco Amentas sardisches Drama Anna
(Foto: 41. Filmfest München)

Vier neue italienische Produktionen und eine Diskussion zum »Cinema italiano!« beim Filmfest München

Von Katrin Hillgruber

Zwei Filme spielen in Rom, zwei auf den beiden größten italie­ni­schen Inseln Sizilien und Sardinien: Das Verhältnis von Stadt und Land zeigte sich bei den vier italie­ni­schen Produk­tionen, die auf dem 41. Münchner Filmfest ihre Deutsch­land-Premieren feierten, ausge­wogen. Die beiden römischen Filme – das eklek­ti­zis­tisch-dekadente Gangs­ter­drama enea von Pietro Castel­litto und Confi­denza, Daniele Lucchettis Verfil­mung des gleich­na­migen Romans von Domenico Starnone – über­ra­schen vor allem durch ihre unge­wöhn­li­chen Kame­ra­per­spek­tiven. Voller Stolz auf die Metropole und als wolle er sich jederzeit der Tatsache verge­wis­sern, auch wirklich in der Ewigen Stadt zu drehen, schwingt sich die Kamera von Radek Ladczuk in enea immer wieder über die Köpfe der deka­denten Entourage des Playboys und Sushi-Restau­rant-Besitzers Enea und seines Freundes Valentino (Giorgio Quarzo Guarascio) hinweg, hoch über Pini­en­haine, das Colosseum und weitere Sehens­wür­dig­keiten. Die Rolle des modernen Nach­fahren von Roms mythi­schem Stamm­vater Aeneas übernahm Regisseur und Dreh­buch­autor Pietro Castel­litto selbst.

Prak­ti­scher­weise ist Eneas Freund Valentino Pilot, so dass atem­be­rau­bende Stadt­an­sichten garan­tiert sind, was etwas mit der wirren, zuweilen wie geträumt wirkenden Handlung versöhnt. Das gutsi­tu­ierte Freun­des­paar wird aus Spaß kriminell: Enea blendet einen Gelehrten mit dem wohl­klin­genden Namen Oreste Dicembre mit dem Laser­pointer, später will ihn Valerio umbringen, indem er ein Klein­flug­zeug in Dicembres Hoch­haus­büro steuert. Dann wieder onaniert ein japa­ni­scher Koch des Sushi-Restau­rants unter Zuhil­fe­nahme eines toten Lachses. Alles kulmi­niert in einer präch­tigen Hochzeit mit über­bor­dender weißer Rosen­de­ko­ra­tion und düsterer Über­ra­schung. Für derartige Vorgänge prägte Guido Wester­welle seiner­zeit den schönen Begriff »spätrö­mi­sche Dekadenz«.

»Wenn wir über die Liebe sprechen, wissen wir, dass wir weder die ersten noch die letzten sind«: Mit solchen Sentenzen fesselt der Italie­nisch­lehrer Pietro Vella (gespielt vom höchst wandel­baren Elio Germano) in Confi­denza (»Trust«) die Aufmerk­sam­keit seiner Abitur­klasse. Er selbst hat dabei nur Augen für Teresa Quadraro (Federica Rosellini), die neben ihm recht stattlich wirkende Klas­sen­beste in Mathe­matik. Die Schülerin spürt das »verbotene« Interesse des Lehrers und will sich deshalb von Pietro, für den sie ihrer­seits Sympathie empfindet, nicht nach Hause fahren lassen. Nach dem Schul­ab­schluss sucht der enga­gierte Lehrer und Vertreter einer »Pädagogik der Zuneigung« nach seiner begabten Elevin, die mitt­ler­weile kellnert. Er überzeugt sie, Mathe­matik zu studieren, und sie werden ein Paar. Aber irgend­etwas stimmt nicht, Pietro scheint sich für seine bestim­mende, konflikt­freu­dige Freundin in der Öffent­lich­keit zu genieren. Da schlägt Teresa vor, dass sie sich gegen­seitig offen­baren, wofür sie sich im Leben am meisten schämen – dieses Band der Geheim­nisse soll das Paar zusam­men­halten.

Natürlich kommt es anders: Teresa verschwindet, Pietro gründet mit einer Kollegin eine Familie und hat doch sein weiteres Leben lang Angst vor der Enthül­lung seines Geheim­nisses durch Teresa. Passend dazu schwebt die Kamera in den wenigen Frei­luft­szenen hoch über Pietros Kopf, nimmt zum Beispiel die Perspek­tive einer Krähe in einem Baum­wipfel ein, als er das Haus gegenüber verlässt. Confi­denza ist ein Film, der von Rom fast nur Innen­räume zeigt – vom Palazzo Quirinale bis zur Badewanne des Helden. Das passt zu dessen konflikt­rei­chem Innen­leben und seiner fort­wäh­renden Beklem­mung. Sie überträgt sich in raffi­nierter Weise auf das Publikum, nicht zuletzt durch zum Teil brutale Tagträume, die Pietro unver­mit­telt über­fallen.

Confi­denza entwickle eine sehr merk­wür­dige Beziehung zu seinem Publikum, erklärte der Regisseur Daniele Luchetti beim Panel »Cinema italiano!« auf dem Filmfest: Selbst jenen, denen er nicht gefalle, gehe der Film nicht mehr aus dem Kopf. Er habe versucht, einen exis­ten­zi­ellen Stoff wie einen Thriller zu erzählen, um Starnones Roman gerecht zu werden, der um einen Abgrund kreise. Derzeit läuft im Kino Luchettis zweite Verfil­mung eines Romans von Domenico Starnone, »Lacci« (»Was uns hält«).

Außer Daniele Luchetti nahmen Marco Amenta, Regisseur des packenden sardi­schen Dramas Anna, und Simona Malato an der von Esther Yakub mode­rierten Diskus­sion teil. Malato spielt in Emma Dantes Film Miser­i­cordia Betta. Sie ist eine von drei Prosti­tu­ierten, die sich in einer armse­ligen Bara­cken­sied­lung mitten in einem sizi­lia­ni­schen Natur­schutz­ge­biet um den verträumten 18-jährigen Arturo (Simone Zambelli) kümmern. Er ist der Sohn des Zuhälters, der Arturos schwan­gere Mutter so sehr miss­han­delte, dass sie während der Geburt ihres Sohnes starb und dieser nun behindert ist.

Das Italie­ni­sche Kino erforsche in genauen Psycho­grammen den Zustand der Gesell­schaft, versprach die Ankün­di­gung: »Mal gibt es sich bürger­li­chen Abgründen hin, mal findet es an den Randzonen der Gesell­schaft echte Mensch­lich­keit.« Dafür steht der Film Miser­i­cordia (»Mitleid, Mitgefühl, Barm­her­zig­keit«) schon mit seinem Titel. Emma Dante wurde 1967 in Palermo geboren und drehte in ihrer sizi­lia­ni­schen Heimat: »Für ›Miser­cordia‹ brauchte ich Licht, denn das Stück war dunkel«, schrieb sie in einem Statement: »Die Figuren leben in der dunkelsten Armut, in der Dunkel­heit ihres Unbe­ha­gens. Ich hatte das Gefühl, der Film könnte diese Geschichte und diese Gemein­schaft mit Licht versorgen. Das Kino hat offen­sicht­lich etwas mit Licht zu tun, und ich muss sagen, dass dieser Film Licht gegeben hat. Ein offenes Licht, da der Film zwischen dem Meer und den Bergen ange­sie­delt ist. Ein Licht, das durch die Löcher und Ritzen der prekären Hütten dringt, in denen die Figuren leben.«

Jedes Stück Abfall in der künstlich bunten Szenerie des Ortes Contrada Tuono sei eigens dort platziert worden, berich­tete Simona Malato von den Dreh­ar­beiten. Die unge­zähmte Natur spiegele Arturos Innen­leben, der durch seine drei Ersatz­mütter auf anrüh­rende Weise Liebe und Zuver­sicht erfährt, jetzt aber als junger Erwach­sener aufbre­chen und die schüt­zende Gemein­schaft der Frauen verlassen will.

Seit der Corona-Epidemie sei ein stärkerer Wunsch des Publikums nach Filmen vom Lande zu spüren, die der Natur Respekt entge­gen­bringen, meinte Marco Amenta. Anna drehte er auf Sardinien mit einem von dort stam­menden Ensemble, da der örtliche Dialekt selbst für Italiener unver­s­tänd­lich sei, so Amenta. Auch seine phäno­me­nale Titel­heldin, die Ziegen­hirtin und Bäuerin Anna (über­wäl­ti­gend: Rose Aste) wurde während der Schwan­ger­schaft von ihrem Ex-Mann miss­han­delt. Nun traut sie niemandem mehr und lebt in trotziger Autonomie mit ihren geliebten Ziegen am Rande der Gesell­schaft. Doch eines Tages soll auf ihrem Grund­stück, auf das ihr Vater durch jahr­zehn­te­lange Nutzung einen Anspruch erwarb, ein Luxus­hotel errichtet werden. Es entbrennt ein erbit­terter, archai­scher Kampf zwischen der unbeug­samen Anna und dem Konzern mit seinen »mecha­ni­schen Monstern«, den Bauma­schinen. Er habe sich bei der Insze­nie­rung am Neorea­lismo orien­tiert, erzählte Marco Amenta: So wie nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ruinen gedreht wurde, so habe er sich mit seinem Team in den Ziegen­stall begeben. Rose Aste habe wochen­lang jeden Morgen um sechs in der selben Kleidung (wegen des Geruchs) die Tiere füttern müssen, um Vertrauen zu ihnen aufzu­bauen.

Ob es in Zukunft unter der rechten Meloni-Regierung noch eine staat­liche Förderung für wider­s­tän­dige Filme wie Anna und Miser­i­cordia geben wird? Das Münchner Panel zeigte sich skeptisch. Es ist eine Reform der Finan­zie­rung geplant. Daniele Luchetti, zeitweise Präsident der Verei­ni­gung »100autori«, meinte, das Kino seines Landes sei schon lange nicht mehr system­kri­tisch und die Regierung halte Kultur generell für über­flüssig. Sie bediene sich ausge­rechnet eines Narrativs des Anar­chisten Antonio Gramsci, um die angeb­liche Hegemonie der Linken zu beenden. So glaubt er auch nicht, dass er für einen geplanten Film über die deutsche Kapitänin Carola Rackete und andere Seenot-Retter finan­zi­elle Unter­s­tüt­zung erhalten wird. Denn die Regierung wünscht ausdrück­lich Filme über bedeu­tende nationale Persön­lich­keiten und Ereig­nisse. Giorgia Meloni selbst ist – wie andere italie­ni­sche Neofa­schisten – bekannt­lich ein Riesenfan des Phan­ta­sy­ro­mans »Der Herr der Ringe« des Briten J.R.R. Tolkien.