41. Filmfest München 2024
Verstörte Liebende im Palazzo Quirinale, Neorealismus im Ziegenstall |
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Packend: Marco Amentas sardisches Drama Anna | ||
(Foto: 41. Filmfest München) |
Zwei Filme spielen in Rom, zwei auf den beiden größten italienischen Inseln Sizilien und Sardinien: Das Verhältnis von Stadt und Land zeigte sich bei den vier italienischen Produktionen, die auf dem 41. Münchner Filmfest ihre Deutschland-Premieren feierten, ausgewogen. Die beiden römischen Filme – das eklektizistisch-dekadente Gangsterdrama enea von Pietro Castellitto und Confidenza, Daniele Lucchettis Verfilmung des gleichnamigen Romans von Domenico Starnone – überraschen vor allem durch ihre ungewöhnlichen Kameraperspektiven. Voller Stolz auf die Metropole und als wolle er sich jederzeit der Tatsache vergewissern, auch wirklich in der Ewigen Stadt zu drehen, schwingt sich die Kamera von Radek Ladczuk in enea immer wieder über die Köpfe der dekadenten Entourage des Playboys und Sushi-Restaurant-Besitzers Enea und seines Freundes Valentino (Giorgio Quarzo Guarascio) hinweg, hoch über Pinienhaine, das Colosseum und weitere Sehenswürdigkeiten. Die Rolle des modernen Nachfahren von Roms mythischem Stammvater Aeneas übernahm Regisseur und Drehbuchautor Pietro Castellitto selbst.
Praktischerweise ist Eneas Freund Valentino Pilot, so dass atemberaubende Stadtansichten garantiert sind, was etwas mit der wirren, zuweilen wie geträumt wirkenden Handlung versöhnt. Das gutsituierte Freundespaar wird aus Spaß kriminell: Enea blendet einen Gelehrten mit dem wohlklingenden Namen Oreste Dicembre mit dem Laserpointer, später will ihn Valerio umbringen, indem er ein Kleinflugzeug in Dicembres Hochhausbüro steuert. Dann wieder onaniert ein japanischer Koch des Sushi-Restaurants unter Zuhilfenahme eines toten Lachses. Alles kulminiert in einer prächtigen Hochzeit mit überbordender weißer Rosendekoration und düsterer Überraschung. Für derartige Vorgänge prägte Guido Westerwelle seinerzeit den schönen Begriff »spätrömische Dekadenz«.
»Wenn wir über die Liebe sprechen, wissen wir, dass wir weder die ersten noch die letzten sind«: Mit solchen Sentenzen fesselt der Italienischlehrer Pietro Vella (gespielt vom höchst wandelbaren Elio Germano) in Confidenza (»Trust«) die Aufmerksamkeit seiner Abiturklasse. Er selbst hat dabei nur Augen für Teresa Quadraro (Federica Rosellini), die neben ihm recht stattlich wirkende Klassenbeste in Mathematik. Die Schülerin spürt das »verbotene« Interesse des Lehrers und will sich deshalb von Pietro, für den sie ihrerseits Sympathie empfindet, nicht nach Hause fahren lassen. Nach dem Schulabschluss sucht der engagierte Lehrer und Vertreter einer »Pädagogik der Zuneigung« nach seiner begabten Elevin, die mittlerweile kellnert. Er überzeugt sie, Mathematik zu studieren, und sie werden ein Paar. Aber irgendetwas stimmt nicht, Pietro scheint sich für seine bestimmende, konfliktfreudige Freundin in der Öffentlichkeit zu genieren. Da schlägt Teresa vor, dass sie sich gegenseitig offenbaren, wofür sie sich im Leben am meisten schämen – dieses Band der Geheimnisse soll das Paar zusammenhalten.
Natürlich kommt es anders: Teresa verschwindet, Pietro gründet mit einer Kollegin eine Familie und hat doch sein weiteres Leben lang Angst vor der Enthüllung seines Geheimnisses durch Teresa. Passend dazu schwebt die Kamera in den wenigen Freiluftszenen hoch über Pietros Kopf, nimmt zum Beispiel die Perspektive einer Krähe in einem Baumwipfel ein, als er das Haus gegenüber verlässt. Confidenza ist ein Film, der von Rom fast nur Innenräume zeigt – vom Palazzo Quirinale bis zur Badewanne des Helden. Das passt zu dessen konfliktreichem Innenleben und seiner fortwährenden Beklemmung. Sie überträgt sich in raffinierter Weise auf das Publikum, nicht zuletzt durch zum Teil brutale Tagträume, die Pietro unvermittelt überfallen.
Confidenza entwickle eine sehr merkwürdige Beziehung zu seinem Publikum, erklärte der Regisseur Daniele Luchetti beim Panel »Cinema italiano!« auf dem Filmfest: Selbst jenen, denen er nicht gefalle, gehe der Film nicht mehr aus dem Kopf. Er habe versucht, einen existenziellen Stoff wie einen Thriller zu erzählen, um Starnones Roman gerecht zu werden, der um einen Abgrund kreise. Derzeit läuft im Kino Luchettis zweite Verfilmung eines Romans von Domenico Starnone, »Lacci« (»Was uns hält«).
Außer Daniele Luchetti nahmen Marco Amenta, Regisseur des packenden sardischen Dramas Anna, und Simona Malato an der von Esther Yakub moderierten Diskussion teil. Malato spielt in Emma Dantes Film Misericordia Betta. Sie ist eine von drei Prostituierten, die sich in einer armseligen Barackensiedlung mitten in einem sizilianischen Naturschutzgebiet um den verträumten 18-jährigen Arturo (Simone Zambelli) kümmern. Er ist der Sohn des Zuhälters, der Arturos schwangere Mutter so sehr misshandelte, dass sie während der Geburt ihres Sohnes starb und dieser nun behindert ist.
Das Italienische Kino erforsche in genauen Psychogrammen den Zustand der Gesellschaft, versprach die Ankündigung: »Mal gibt es sich bürgerlichen Abgründen hin, mal findet es an den Randzonen der Gesellschaft echte Menschlichkeit.« Dafür steht der Film Misericordia (»Mitleid, Mitgefühl, Barmherzigkeit«) schon mit seinem Titel. Emma Dante wurde 1967 in Palermo geboren und drehte in ihrer sizilianischen Heimat: »Für ›Misercordia‹ brauchte ich Licht, denn das Stück war dunkel«, schrieb sie in einem Statement: »Die Figuren leben in der dunkelsten Armut, in der Dunkelheit ihres Unbehagens. Ich hatte das Gefühl, der Film könnte diese Geschichte und diese Gemeinschaft mit Licht versorgen. Das Kino hat offensichtlich etwas mit Licht zu tun, und ich muss sagen, dass dieser Film Licht gegeben hat. Ein offenes Licht, da der Film zwischen dem Meer und den Bergen angesiedelt ist. Ein Licht, das durch die Löcher und Ritzen der prekären Hütten dringt, in denen die Figuren leben.«
Jedes Stück Abfall in der künstlich bunten Szenerie des Ortes Contrada Tuono sei eigens dort platziert worden, berichtete Simona Malato von den Dreharbeiten. Die ungezähmte Natur spiegele Arturos Innenleben, der durch seine drei Ersatzmütter auf anrührende Weise Liebe und Zuversicht erfährt, jetzt aber als junger Erwachsener aufbrechen und die schützende Gemeinschaft der Frauen verlassen will.
Seit der Corona-Epidemie sei ein stärkerer Wunsch des Publikums nach Filmen vom Lande zu spüren, die der Natur Respekt entgegenbringen, meinte Marco Amenta. Anna drehte er auf Sardinien mit einem von dort stammenden Ensemble, da der örtliche Dialekt selbst für Italiener unverständlich sei, so Amenta. Auch seine phänomenale Titelheldin, die Ziegenhirtin und Bäuerin Anna (überwältigend: Rose Aste) wurde während der Schwangerschaft von ihrem Ex-Mann misshandelt. Nun traut sie niemandem mehr und lebt in trotziger Autonomie mit ihren geliebten Ziegen am Rande der Gesellschaft. Doch eines Tages soll auf ihrem Grundstück, auf das ihr Vater durch jahrzehntelange Nutzung einen Anspruch erwarb, ein Luxushotel errichtet werden. Es entbrennt ein erbitterter, archaischer Kampf zwischen der unbeugsamen Anna und dem Konzern mit seinen »mechanischen Monstern«, den Baumaschinen. Er habe sich bei der Inszenierung am Neorealismo orientiert, erzählte Marco Amenta: So wie nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ruinen gedreht wurde, so habe er sich mit seinem Team in den Ziegenstall begeben. Rose Aste habe wochenlang jeden Morgen um sechs in der selben Kleidung (wegen des Geruchs) die Tiere füttern müssen, um Vertrauen zu ihnen aufzubauen.
Ob es in Zukunft unter der rechten Meloni-Regierung noch eine staatliche Förderung für widerständige Filme wie Anna und Misericordia geben wird? Das Münchner Panel zeigte sich skeptisch. Es ist eine Reform der Finanzierung geplant. Daniele Luchetti, zeitweise Präsident der Vereinigung »100autori«, meinte, das Kino seines Landes sei schon lange nicht mehr systemkritisch und die Regierung halte Kultur generell für überflüssig. Sie bediene sich ausgerechnet eines Narrativs des Anarchisten Antonio Gramsci, um die angebliche Hegemonie der Linken zu beenden. So glaubt er auch nicht, dass er für einen geplanten Film über die deutsche Kapitänin Carola Rackete und andere Seenot-Retter finanzielle Unterstützung erhalten wird. Denn die Regierung wünscht ausdrücklich Filme über bedeutende nationale Persönlichkeiten und Ereignisse. Giorgia Meloni selbst ist – wie andere italienische Neofaschisten – bekanntlich ein Riesenfan des Phantasyromans »Der Herr der Ringe« des Briten J.R.R. Tolkien.