41. Filmfest München 2024
Filmische Visionen eines Kontinents |
||
Neorealistische Reminiszenzen in El Ladrón De Perros | ||
(Foto: 41. Filmfest München) |
Über die verschiedenen Reihen verteilt, fand sich auf der 2024-er Ausgabe des Münchner Filmfests eine reiche Auswahl an Filmen aus dem lateinamerikanischen Kontinent, die neben den traditionell großen Filmnationen Mexiko, Argentinien und Brasilien auch Beispiele aus Bolivien, Venezuela oder Kuba berücksichtigte.
Dabei gab es auch einen Anknüpfungspunkt an die Filmhistorie, der nachdrücklich die eigenständige Entwicklung eines lateinamerikanischen Kinos in Erinnerung rief.
Die Präsentation der Kurzfilme des Afro-Kubaners Nicolás Guillén Landrián (1938-2003), die lange Zeit als verschollen galten, verweist auf die große Tradition des Dritten Kinos der 60er und 70er Jahre, das zwischen Hollywoods Kino-Industrie und dem intellektuellen europäischen Autorenkino den eigenen Weg eines engagierten »unreinen« Kinos erschloss.
Neue Restaurationen seiner Arbeiten, die auf wiedergefundene Kopien zurückgreifen konnten, ermöglichten diesen Rückblick. Die teilweise abenteuerliche Wiederentdeckung des im »decenio gris« der kubanischen Revolutionsregierung unbequem gewordenen und verfemten Enfant terrible Landrián war in dem Dokumentarfilm Landrián von Ernesto Daranas Serrano nachzuverfolgen. In einer lebendigen Kombination aus Interviews mit Weg- und Lebensgefährt*innen Landriáns und analytisch-sondierenden Ausschnitten aus seinen Werken bekommt man einen erhellenden Einblick in die Geschichte dieses Regisseurs, dessen impulsive Kreativität und Vitalität immer wieder an die Grenzen einer politischen Kaste stieß, die sich schwertat mit undogmatischen Herangehensweisen an die revolutionären Anliegen, insbesondere der afrokubanischen Bevölkerung. Es wird hier durchaus ein latenter Rassismus der Clique um Fidel Castro spürbar. Landrián nützte es da auch nichts, dass er der Neffe des hochangesehenen Nationalpoeten Nicolás Guillén war.
Die gezeigten Kurzfilme von Landrián vermochten das explosive Potential seines Schaffens mehr als deutlich zu machen. Er geht aus von einer neorealistischen Basis, indem er der Wirklichkeit eindringlich zu Leibe rückt, so eindringlich, bis diese zurückblickt, und das im wahrsten Sinne des Wortes. In seinen fotografisch großartigen dokumentarischen Kurzfilmen En un barrio viejo (1963), Los del baile (1965) und – besonders überwältigend – Ociel del Toa (1965) gibt es immer die Momente, in denen die beobachteten Menschen direkt in die Kamera schauen und so die filmische Distanz aufheben: Landrián sucht und provoziert diese Momente, er bringt die gefilmte Realität dazu, zu reagieren auf seine Intervention. Diese Umschlagpunkte unterstützt er durch heftige Tempo- und Rhythmuswechsel bei der Aneinanderfügung der Einstellungen: die beobachtende Haltung des Neorealismus geht mit der Agitation der Eisenstein'schen Attraktionsmontage eine explosive Verbindung ein.
Der individualistische Vitalismus und Eigensinn, mit dem er aneckte, kommt besonders fulminant in dem experimentellen Agitprop-Film Coffea Arábiga (1968) zum Ausdruck. Diese Auftragsarbeit, eigentlich dazu gedacht, ihn wieder zu integrieren im ICAIC (Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos), dem staatlichen Kubanischen Institut für Filmkunst und Filmindustrie, mündete aber in weitere Entfremdung.
Der erwartete didaktische Film zur persönlich von Fidel Castro ausgerufenen Kaffeeanbaukampagne wird von Landrián jedoch dekonstruiert. Die Bestandteile, die die einzelnen Schritte der Kaffeeproduktion von den Setzlingen über Anbau, Ernte, Röstung und Verkostung zeigen, sind alle da. Nur setzt er sie vehement den Montage- und Collage-Techniken des engagierten Dritten Kinos aus: dokumentarische Passagen wechseln sich ab mit Fotografien und Schriftelementen, die in dynamischen Zooms optisch großgezogen und verkleinert werden, mit rhythmisch-pulsierenden Einblendungen, suggestiven Rezitationen von Versen seines Onkels Nicolás Guillén, found footage auf Bild- und Tonebene: die Kollisionsmontage steigert sich zum Zitat der beim offiziellen Kuba nicht wohlgelittenen Beatles, deren Song »The Fool on the Hill« blasphemischerweise auf Fidel Castro gemünzt wird.
Für die nach wie vor tragfähige Basis einer neorealistischen Annäherung an die Wirklichkeit kann El ladrón de perros von Vinko Tomičić Salinas in der Reihe Cinevision gelten. Kameramann ist Sergio Armstrong, der bei vielen Larraín-Filmen für die visuell effektreiche Bildgestaltung verantwortlich war: hier bei der Inszenierung des Stadtbildes der bolivianischen Andenmetropole La Paz erzeugt Armstrong einen gänzlich uneitlen Wirklichkeitseffekt und stellt sich in den Dienst der filmischen Neorealismus-Programmatik des Regisseurs. Schon der Titel ist eine Reminiszenz an Vittorio de Sicas Fahrraddiebe, der vom chilenischen Großschauspieler Alfredo Castro gespielte vereinsamte Junggeselle, der Herrenschneider Sr. Novoa, der als einzigen Freund seinen Schäferhund hat, lässt an Umberto D. denken, und der heranwachsende Waise Martín, der sich in seinen schulfreien Stunden als Schuhputzer verdingt, ruft Sciuscià auf.
Im Zentrum steht Martín, der bei einer Bekannten seiner früh verstorbenen Mutter (den Vater kennt er gar nicht) Aufnahme gefunden hat. Als Haushälterin bei einer besser gestellten Dame kann sie ihm nur eine vorübergehende Bleibe gewähren. Martín ist dort zunächst wohlgelitten, hofft aber auf eine staatlich vermittelte Adoption. Über seinen Schuhputzjob auf den öffentlichen Plätzen von La Paz stößt er auf den älteren Herrenschneider Sr. Novoa, der seinen Schäferhund Astor durch die Straßen ausführt. Martín fasst den eher amateurhaften Plan, den Hund von Sr. Novoa zu entführen, um ein Lösegeld zu erpressen. Jedoch entwickeln sich die Dinge etwas anders als gedacht, als Martín Novoas tiefe Trauer erkennt, die das Verschwinden des Hundes auslöst. Der sich nun vertiefende Kontakt voller Ambivalenzen zwischen dem gehemmt-autoritären Herrenschneider und dem naiv-verschlagenen Martín stellt eine inszenatorische Meisterleistung des Films dar. Besonders die hintergründig-subtile Performance von Alfredo Castro verleiht ihr eine eindringliche Wirkung. Es werden keine dramatischen Momente forciert, alles entwickelt sich aus einer abwägenden Balance heraus. So handelt El ladrón de perros auf ergreifende Weise von sozialer Marginalisierung und ihrer Überwindung, von der Annäherung der Klassen, die in einem erhebenden Bildungserlebnis bei einem Konzertbesuch gipfelt. Ein wahrhaft großer Moment, den einem dieser kleine Film schenkt.
Der mexikanische Film Sujo ist die zweite gemeinsame Arbeit von Astrid Rondero und Fernanda Valadez. Bereits ihr erster Film Was geschah mit Bus 670?, der in Deutschland im Kino war, handelte von den Folgen der von den Drogenkartellen ausgehenden Gewalt in Mexiko, wo eine Mutter nach dem verschollenen Sohn suchte. Sujo ist den »Verwaisten dieses Landes in Flammen« gewidmet und gedenkt so auch Buñuels Los olvidados, der als einer der Ersten das ästhetische Paradigma des Neorealismus für lateinamerikanische Wirklichkeiten fruchtbar machte. Und auch zeigte, dass man dabei nicht stehenbleiben sollte. Die Auswege aus dem Rache- und Gewaltzusammenhang, die in Sujo gesucht werden, führen denn auch in magisch-suggestiven Evokationen weiter. Mit spröden und elliptischen Sequenzen schafft es dieser Film immer wieder, die außerhalb der Bilder stattfindende Gewalt bedrohlich zu beschwören, aber doch einen Schutzraum für seine Figur zu bewahren. Der Vater von Sujo ist ein Killer und wird selbst wegen Verrats ermordet. Sujo wächst versteckt bei seiner Tante auf, die ihn so dem Zugriff der auf weitere Rache Sinnenden zunächst entziehen kann. Doch der Heranwachsende droht zusammen mit seinen Ziehbrüdern Jaibo und Jeremy wieder in den Strudel der blutigen Gewalt gezogen zu werden. Der Weg aus der Provinz Michoacán nach Mexiko City soll schließlich die Rettung bringen, doch scheint Sujo auch hier die fatale Vergangenheit auf den Fersen zu bleiben. Ob ihm der Ausstieg aus dem Herkunftsmilieu und das Streben nach Bildung gelingen können, das ihm im letzten Teil die Universitätsdozentin Susan aufzeigt, muss wohl offen bleiben. Einen Schimmer Zuversicht vermag der Film jedenfalls auszustrahlen. Der metaphorische Bezug auf das unbändige wilde Pferd, dem der Junge den Namen Sujo verdankt, wirkt dabei allerdings zu bemüht, auch wenn er dem Film einige der eindrücklichsten Bilder beschert.
Andere Formen des Umgangs mit der Wirklichkeit bieten der Kubaner Alán González mit La mujer salvaje und der Argentinier Federico Luis mit Simón de la montaña. Beide Filme heften sich an die partikulare Perspektive einer Figur und versuchen, die Zuschauer*innen in eine subjektive Sicht hineinzuziehen, der man nicht immer identifikatorisch folgen will, weil es nicht einfach ist, den Protagonist*innen in ihrem Tun zuzustimmen.
Dabei schaffen sie es, normativ-moralische Grenzziehungen zu hinterfragen. In La mujer salvaje ist es eine Frau, die nach dem blutigen Racheakt ihres Mannes an ihrem Liebhaber den Anfeindungen der Nachbarschaft und Verwandtschaft entgegentritt und ihren Sohn für sich reklamiert, auch wenn es vollkommen ungewiss ist, ob sie als Verfemte und Gebrandmarkte für ihn sorgen kann.
In Simón de la montaña fühlt sich der heranwachsende Simón bei den Angehörigen einer Einrichtung für geistig und körperlich Behinderte besser aufgehoben als zu Hause bei seiner Mutter und deren Partner. Er geht dabei soweit, sich in mimetischer Anschmiegung körperliche Ticks anzueignen, um einen Behindertenausweis zu bekommen. Die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung werden hier durchaus verstörend in Frage gestellt: Der Film von Federico Luis erhielt den Cinevision Award für den besten Debütfilm des Filmfests nicht zuletzt wegen der überzeugenden Darstellerleistung des Ensembles.
Mit zwei Komödien kommt dann eine Stärke des lateinamerikanischen, insbesondere des argentinischen Kinos zum Tragen, die mit den düsteren Wirklichkeiten ganz anders umspringt: nämlich hintersinniger Humor, comic relief.
Puan von dem Regie- und Lebenspaar María Alché und Benjamín Naishtat setzt die gesellschaftlichen Umbrüche in Argentinien anhand des Alltags an einem Universitätsinstitut für politische Philosophie in Buenos Aires in höchst amüsanter Weise in Szene. Die Situationskomik um den zurückhaltenden und zögerlichen Professor Marcelo (Marcelo Subiotto) treibt die absurdesten Blüten, als der bewunderte Lehrstuhlinhaber und Mentor unvermutet beim Joggen an einem Herzinfarkt stirbt und sich ein Wettbewerb um die Nachfolge entspinnt. Vor allem der eitle Blender Rafael (Leonardo Sbaraglia), der mit seinen Erfolgen im Ausland (in Deutschland) prahlt, sorgt für die turbulente Dynamik einer immer wieder schräg ausgebremsten screwball comedy. Wie dann die akademischen Skurrilitäten symptomatisch die sozio-ökonomischen Realitäten des aktuellen Argentinien aufscheinen lassen, verrät wirkliches Komödienkönnen.
Der Humor von Martín Rejtman dagegen ist lakonischer und hintertriebener. Der Regisseur, Mitbegründer des Nuevo Cine Argentino in den 1990er Jahren, drehte mit La Práctica eine veritable Komödie des Unterstatements. Der Argentinier Gustavo (Esteban Bigliardi) lebt als Yogalehrer in Santiago de Chile, wohin ihn die Ehe mit seiner chilenischen Frau geführt hat. Sie, ebenfalls Yogalehrerin, hat sich von ihm getrennt, sodass beide nun auch ihr gemeinsames Yoga-Studio splitten müssen.
Rejtmans an urbanen Szenen orientierter Alltags-Parcours ist minimalistisches Slacker-Kino, das man als echt argentinische Mischung aus Woody Allen, Jim Jarmusch und Hong Sang-soo beschreiben könnte. Mit leichter Hand werden vertraute Situationen des Großstadtlebens zwischen Beziehungs- und Berufsstress slapstickhaft durchexerziert, so dass sich daraus ohne Weiteres eine erschöpfende Grammatik absurder Alltags-Komik ableiten ließe.
Eine Reihe anderer Filme, etwa aus Brasilien, boten weitere Spielarten cineastischer Formen, mit Genre-Anleihen in der kapitalistischen Ausbeuter-Allegorie Continente von Davi Pretto oder in der melodramatischen Einwanderergeschichte aus den 50er Jahren Retrato de um certo oriente von Marcelo Gomes mit einem betörend eleganten Schwarz-Weiß.
Lateinamerikanisches Kino war mit hervorragenden Beispielen auf dem Münchner Filmfest 2024 jedenfalls präsenter denn je.