18.07.2024
41. Filmfest München 2024

Filmische Visionen eines Kontinents

EL LADRÓN DE PERROS
Neorealistische Reminiszenzen in El Ladrón De Perros
(Foto: 41. Filmfest München)

Eine starke Auswahl neuer Filme aus Lateinamerika vermochte auf dem Filmfest München 2024 wieder zu beweisen, dass dieser Kontinent nach wie vor über unverwechselbare kinematographische Handschriften verfügt, die anknüpfen an große Traditionen

Von Wolfgang Lasinger

Über die verschie­denen Reihen verteilt, fand sich auf der 2024-er Ausgabe des Münchner Filmfests eine reiche Auswahl an Filmen aus dem latein­ame­ri­ka­ni­schen Kontinent, die neben den tradi­tio­nell großen Film­na­tionen Mexiko, Argen­ti­nien und Brasilien auch Beispiele aus Bolivien, Venezuela oder Kuba berück­sich­tigte.

Tradition des Dritten Kinos

Dabei gab es auch einen Anknüp­fungs­punkt an die Film­his­torie, der nach­drück­lich die eigen­s­tän­dige Entwick­lung eines latein­ame­ri­ka­ni­schen Kinos in Erin­ne­rung rief.

Die Präsen­ta­tion der Kurzfilme des Afro-Kubaners Nicolás Guillén Landrián (1938-2003), die lange Zeit als verschollen galten, verweist auf die große Tradition des Dritten Kinos der 60er und 70er Jahre, das zwischen Holly­woods Kino-Industrie und dem intel­lek­tu­ellen europäi­schen Autoren­kino den eigenen Weg eines enga­gierten »unreinen« Kinos erschloss.

Neue Restau­ra­tionen seiner Arbeiten, die auf wieder­ge­fun­dene Kopien zurück­greifen konnten, ermög­lichten diesen Rückblick. Die teilweise aben­teu­er­liche Wieder­ent­de­ckung des im »decenio gris« der kuba­ni­schen Revo­lu­ti­ons­re­gie­rung unbequem gewor­denen und verfemten Enfant terrible Landrián war in dem Doku­men­tar­film Landrián von Ernesto Daranas Serrano nach­zu­ver­folgen. In einer leben­digen Kombi­na­tion aus Inter­views mit Weg- und Lebens­ge­fährt*innen Landriáns und analy­tisch-sondie­renden Ausschnitten aus seinen Werken bekommt man einen erhel­lenden Einblick in die Geschichte dieses Regis­seurs, dessen impulsive Krea­ti­vität und Vitalität immer wieder an die Grenzen einer poli­ti­schen Kaste stieß, die sich schwertat mit undog­ma­ti­schen Heran­ge­hens­weisen an die revo­lu­ti­onären Anliegen, insbe­son­dere der afro­ku­ba­ni­schen Bevöl­ke­rung. Es wird hier durchaus ein latenter Rassismus der Clique um Fidel Castro spürbar. Landrián nützte es da auch nichts, dass er der Neffe des hoch­an­ge­se­henen Natio­nal­poeten Nicolás Guillén war.

Die gezeigten Kurzfilme von Landrián vermochten das explosive Potential seines Schaffens mehr als deutlich zu machen. Er geht aus von einer neorea­lis­ti­schen Basis, indem er der Wirk­lich­keit eindring­lich zu Leibe rückt, so eindring­lich, bis diese zurück­blickt, und das im wahrsten Sinne des Wortes. In seinen foto­gra­fisch groß­ar­tigen doku­men­ta­ri­schen Kurz­filmen En un barrio viejo (1963), Los del baile (1965) und – besonders über­wäl­ti­gend – Ociel del Toa (1965) gibt es immer die Momente, in denen die beob­ach­teten Menschen direkt in die Kamera schauen und so die filmische Distanz aufheben: Landrián sucht und provo­ziert diese Momente, er bringt die gefilmte Realität dazu, zu reagieren auf seine Inter­ven­tion. Diese Umschlag­punkte unter­s­tützt er durch heftige Tempo- und Rhyth­mus­wechsel bei der Anein­an­der­fü­gung der Einstel­lungen: die beob­ach­tende Haltung des Neorea­lismus geht mit der Agitation der Eisen­stein'schen Attrak­ti­ons­mon­tage eine explosive Verbin­dung ein.

Der indi­vi­dua­lis­ti­sche Vita­lismus und Eigensinn, mit dem er aneckte, kommt besonders fulminant in dem expe­ri­men­tellen Agitprop-Film Coffea Arábiga (1968) zum Ausdruck. Diese Auftrags­ar­beit, eigent­lich dazu gedacht, ihn wieder zu inte­grieren im ICAIC (Instituto Cubano del Arte e Industria Cine­ma­to­grá­ficos), dem staat­li­chen Kuba­ni­schen Institut für Filmkunst und Film­in­dus­trie, mündete aber in weitere Entfrem­dung.

Der erwartete didak­ti­sche Film zur persön­lich von Fidel Castro ausge­ru­fenen Kaffee­an­bau­kam­pagne wird von Landrián jedoch dekon­stru­iert. Die Bestand­teile, die die einzelnen Schritte der Kaffee­pro­duk­tion von den Setz­lingen über Anbau, Ernte, Röstung und Verkos­tung zeigen, sind alle da. Nur setzt er sie vehement den Montage- und Collage-Techniken des enga­gierten Dritten Kinos aus: doku­men­ta­ri­sche Passagen wechseln sich ab mit Foto­gra­fien und Schrif­t­ele­menten, die in dyna­mi­schen Zooms optisch groß­ge­zogen und verklei­nert werden, mit rhyth­misch-pulsie­renden Einblen­dungen, sugges­tiven Rezi­ta­tionen von Versen seines Onkels Nicolás Guillén, found footage auf Bild- und Tonebene: die Kolli­si­ons­mon­tage steigert sich zum Zitat der beim offi­zi­ellen Kuba nicht wohl­ge­lit­tenen Beatles, deren Song »The Fool on the Hill« blas­phe­mi­scher­weise auf Fidel Castro gemünzt wird.

Neorea­lis­ti­sche Ernst­haf­tig­keit

Für die nach wie vor trag­fähige Basis einer neorea­lis­ti­schen Annähe­rung an die Wirk­lich­keit kann El ladrón de perros von Vinko Tomičić Salinas in der Reihe Cine­vi­sion gelten. Kame­ra­mann ist Sergio Armstrong, der bei vielen Larraín-Filmen für die visuell effekt­reiche Bild­ge­stal­tung verant­wort­lich war: hier bei der Insze­nie­rung des Stadt­bildes der boli­via­ni­schen Anden­me­tro­pole La Paz erzeugt Armstrong einen gänzlich uneitlen Wirk­lich­keits­ef­fekt und stellt sich in den Dienst der filmi­schen Neorea­lismus-Program­matik des Regis­seurs. Schon der Titel ist eine Remi­nis­zenz an Vittorio de Sicas Fahr­rad­diebe, der vom chile­ni­schen Groß­schau­spieler Alfredo Castro gespielte verein­samte Jung­ge­selle, der Herren­schneider Sr. Novoa, der als einzigen Freund seinen Schä­fer­hund hat, lässt an Umberto D. denken, und der heran­wach­sende Waise Martín, der sich in seinen schul­freien Stunden als Schuh­putzer verdingt, ruft Sciuscià auf.

Im Zentrum steht Martín, der bei einer Bekannten seiner früh verstor­benen Mutter (den Vater kennt er gar nicht) Aufnahme gefunden hat. Als Haus­häl­terin bei einer besser gestellten Dame kann sie ihm nur eine vorü­ber­ge­hende Bleibe gewähren. Martín ist dort zunächst wohl­ge­litten, hofft aber auf eine staatlich vermit­telte Adoption. Über seinen Schuh­putzjob auf den öffent­li­chen Plätzen von La Paz stößt er auf den älteren Herren­schneider Sr. Novoa, der seinen Schä­fer­hund Astor durch die Straßen ausführt. Martín fasst den eher amateur­haften Plan, den Hund von Sr. Novoa zu entführen, um ein Lösegeld zu erpressen. Jedoch entwi­ckeln sich die Dinge etwas anders als gedacht, als Martín Novoas tiefe Trauer erkennt, die das Verschwinden des Hundes auslöst. Der sich nun vertie­fende Kontakt voller Ambi­va­lenzen zwischen dem gehemmt-auto­ri­tären Herren­schneider und dem naiv-verschla­genen Martín stellt eine insze­na­to­ri­sche Meis­ter­leis­tung des Films dar. Besonders die hinter­gründig-subtile Perfor­mance von Alfredo Castro verleiht ihr eine eindring­liche Wirkung. Es werden keine drama­ti­schen Momente forciert, alles entwi­ckelt sich aus einer abwä­genden Balance heraus. So handelt El ladrón de perros auf ergrei­fende Weise von sozialer Margi­na­li­sie­rung und ihrer Über­win­dung, von der Annähe­rung der Klassen, die in einem erhe­benden Bildungs­er­lebnis bei einem Konzert­be­such gipfelt. Ein wahrhaft großer Moment, den einem dieser kleine Film schenkt.

Wege aus dem Realismus

Der mexi­ka­ni­sche Film Sujo ist die zweite gemein­same Arbeit von Astrid Rondero und Fernanda Valadez. Bereits ihr erster Film Was geschah mit Bus 670?, der in Deutsch­land im Kino war, handelte von den Folgen der von den Drogen­kar­tellen ausge­henden Gewalt in Mexiko, wo eine Mutter nach dem verschol­lenen Sohn suchte. Sujo ist den »Verwaisten dieses Landes in Flammen« gewidmet und gedenkt so auch Buñuels Los olvidados, der als einer der Ersten das ästhe­ti­sche Paradigma des Neorea­lismus für latein­ame­ri­ka­ni­sche Wirk­lich­keiten fruchtbar machte. Und auch zeigte, dass man dabei nicht stehen­bleiben sollte. Die Auswege aus dem Rache- und Gewalt­zu­sam­men­hang, die in Sujo gesucht werden, führen denn auch in magisch-sugges­tiven Evoka­tionen weiter. Mit spröden und ellip­ti­schen Sequenzen schafft es dieser Film immer wieder, die außerhalb der Bilder statt­fin­dende Gewalt bedroh­lich zu beschwören, aber doch einen Schutz­raum für seine Figur zu bewahren. Der Vater von Sujo ist ein Killer und wird selbst wegen Verrats ermordet. Sujo wächst versteckt bei seiner Tante auf, die ihn so dem Zugriff der auf weitere Rache Sinnenden zunächst entziehen kann. Doch der Heran­wach­sende droht zusammen mit seinen Zieh­brü­dern Jaibo und Jeremy wieder in den Strudel der blutigen Gewalt gezogen zu werden. Der Weg aus der Provinz Michoacán nach Mexiko City soll schließ­lich die Rettung bringen, doch scheint Sujo auch hier die fatale Vergan­gen­heit auf den Fersen zu bleiben. Ob ihm der Ausstieg aus dem Herkunfts­mi­lieu und das Streben nach Bildung gelingen können, das ihm im letzten Teil die Univer­si­täts­do­zentin Susan aufzeigt, muss wohl offen bleiben. Einen Schimmer Zuver­sicht vermag der Film jeden­falls auszu­strahlen. Der meta­pho­ri­sche Bezug auf das unbändige wilde Pferd, dem der Junge den Namen Sujo verdankt, wirkt dabei aller­dings zu bemüht, auch wenn er dem Film einige der eindrück­lichsten Bilder beschert.

Grenz­ver­schie­bungen

Andere Formen des Umgangs mit der Wirk­lich­keit bieten der Kubaner Alán González mit La mujer salvaje und der Argen­ti­nier Federico Luis mit Simón de la montaña. Beide Filme heften sich an die parti­ku­lare Perspek­tive einer Figur und versuchen, die Zuschauer*innen in eine subjek­tive Sicht hinein­zu­ziehen, der man nicht immer iden­ti­fi­ka­to­risch folgen will, weil es nicht einfach ist, den Prot­ago­nist*innen in ihrem Tun zuzu­stimmen.

Dabei schaffen sie es, normativ-mora­li­sche Grenz­zie­hungen zu hinter­fragen. In La mujer salvaje ist es eine Frau, die nach dem blutigen Racheakt ihres Mannes an ihrem Liebhaber den Anfein­dungen der Nach­bar­schaft und Verwandt­schaft entge­gen­tritt und ihren Sohn für sich rekla­miert, auch wenn es voll­kommen ungewiss ist, ob sie als Verfemte und Gebrand­markte für ihn sorgen kann.

In Simón de la montaña fühlt sich der heran­wach­sende Simón bei den Angehö­rigen einer Einrich­tung für geistig und körper­lich Behin­derte besser aufge­hoben als zu Hause bei seiner Mutter und deren Partner. Er geht dabei soweit, sich in mime­ti­scher Anschmie­gung körper­liche Ticks anzu­eignen, um einen Behin­der­ten­aus­weis zu bekommen. Die vermeint­lich klaren Grenzen zwischen Behin­de­rung und Nicht-Behin­de­rung werden hier durchaus vers­tö­rend in Frage gestellt: Der Film von Federico Luis erhielt den Cine­vi­sion Award für den besten Debütfilm des Filmfests nicht zuletzt wegen der über­zeu­genden Darstel­ler­leis­tung des Ensembles.

Comic relief

Mit zwei Komödien kommt dann eine Stärke des latein­ame­ri­ka­ni­schen, insbe­son­dere des argen­ti­ni­schen Kinos zum Tragen, die mit den düsteren Wirk­lich­keiten ganz anders umspringt: nämlich hinter­sin­niger Humor, comic relief.

Puan von dem Regie- und Lebens­paar María Alché und Benjamín Naishtat setzt die gesell­schaft­li­chen Umbrüche in Argen­ti­nien anhand des Alltags an einem Univer­si­täts­in­stitut für poli­ti­sche Philo­so­phie in Buenos Aires in höchst amüsanter Weise in Szene. Die Situa­ti­ons­komik um den zurück­hal­tenden und zöger­li­chen Professor Marcelo (Marcelo Subiotto) treibt die absur­desten Blüten, als der bewun­derte Lehr­stuhl­in­haber und Mentor unver­mutet beim Joggen an einem Herz­in­farkt stirbt und sich ein Wett­be­werb um die Nachfolge entspinnt. Vor allem der eitle Blender Rafael (Leonardo Sbaraglia), der mit seinen Erfolgen im Ausland (in Deutsch­land) prahlt, sorgt für die turbu­lente Dynamik einer immer wieder schräg ausge­bremsten screwball comedy. Wie dann die akade­mi­schen Skur­ri­li­täten sympto­ma­tisch die sozio-ökono­mi­schen Reali­täten des aktuellen Argen­ti­nien aufscheinen lassen, verrät wirk­li­ches Komö­di­en­können.

Der Humor von Martín Rejtman dagegen ist lako­ni­scher und hinter­trie­bener. Der Regisseur, Mitbe­gründer des Nuevo Cine Argentino in den 1990er Jahren, drehte mit La Práctica eine veritable Komödie des Unter­state­ments. Der Argen­ti­nier Gustavo (Esteban Bigliardi) lebt als Yoga­lehrer in Santiago de Chile, wohin ihn die Ehe mit seiner chile­ni­schen Frau geführt hat. Sie, ebenfalls Yoga­leh­rerin, hat sich von ihm getrennt, sodass beide nun auch ihr gemein­sames Yoga-Studio splitten müssen.

Rejtmans an urbanen Szenen orien­tierter Alltags-Parcours ist mini­ma­lis­ti­sches Slacker-Kino, das man als echt argen­ti­ni­sche Mischung aus Woody Allen, Jim Jarmusch und Hong Sang-soo beschreiben könnte. Mit leichter Hand werden vertraute Situa­tionen des Groß­stadt­le­bens zwischen Bezie­hungs- und Berufs­stress slap­stick­haft durch­ex­er­ziert, so dass sich daraus ohne Weiteres eine erschöp­fende Grammatik absurder Alltags-Komik ableiten ließe.

Eine Reihe anderer Filme, etwa aus Brasilien, boten weitere Spiel­arten cine­as­ti­scher Formen, mit Genre-Anleihen in der kapi­ta­lis­ti­schen Ausbeuter-Allegorie Conti­nente von Davi Pretto oder in der melo­dra­ma­ti­schen Einwan­de­rer­ge­schichte aus den 50er Jahren Retrato de um certo oriente von Marcelo Gomes mit einem betörend eleganten Schwarz-Weiß.

Latein­ame­ri­ka­ni­sches Kino war mit hervor­ra­genden Beispielen auf dem Münchner Filmfest 2024 jeden­falls präsenter denn je.