18.07.2024

Pst! Sagen Sie jetzt nichts!

Stummfilmsommer
Historisch: Stummfilmsommer im Innenhof des Stadtmuseums

Munix' FOMO: Bei den Internationalen Stummfilmtagen im Filmmuseum München gibt es große Emotionen bei Live-Musikbegleitung (bis 28.07.2024)

Von artechock-Redaktion

Wer letzten Sommer bei den Stumm­film­tagen im Film­mu­seum München war, wird dieses Jahr den wunder­schönen Innenhof des Stadt­mu­seums schmerz­lich vermissen. Unter freiem Himmel, bei sich neigendem Sonnen­stand, gab es, wenn es das Wetter zuließ, Stumm­filme auf der aufge­spannten 4:3-Leinwand, darunter spielten die Musiker live dazu.

Fragen der Film­re­stau­rie­rung

Tempi passati. Das Stadt­mu­seum wird umgebaut, aber das Film­mu­seum spielt weiter, in seiner Black Box im Unter­ge­schoss, unbe­hel­ligt von der musealen Umstruk­tu­rie­rung. Und damit wandern auch wieder die Stumm­film­tage zurück ins schwarze Kino. Was trotz des atmo­sphäri­schen Verlusts natürlich auch ein Gewinn ist: Die Projek­ti­ons­qua­lität ist natürlich besser, auch die Akustik.

Restau­rierte Stumm­filme stehen dieses Jahr im Zentrum. Film­mu­se­ums­leiter Stefan Drößler fragt einfüh­rend: »Was ist der Maßstab für die Restau­rie­rung?« Der Fragen­ka­talog, den ein Restau­rator für sich beant­worten muss, enthält Aspekte der Film­pre­miere sowie die originale Meter­länge, Zensur­ein­griffe – die es mehrfach, vor und nach Premieren, gab –, Texte der Zwischen­titel. Im Zeitalter der digitalen Restau­rie­rung, in dem alles machbar, aber aus film­his­to­ri­scher Perspek­tive keines­falls erwünscht ist, stellen sich zudem Fragen nach Tilgung der Lauf­streifen, Verschmut­zungen und anderes.

Crashkurs in Kino­ge­schichte

Vor den Filmen gibt Drößler entspre­chende Insights in den Zustand des Origi­nal­ma­te­rials und den Restau­rie­rungs­pro­zess. Viel lässt sich dabei auch über die histo­ri­sche Gesell­schaft, die damalige Auffüh­rungs­praxis und, vor allem inter­es­sant, über Kriterien der Zensur erfahren. Auch auf ästhe­ti­sche Verfahren wie Bild-Scha­blonen, expres­sio­nis­ti­sche Dekors oder Schau­spiel­kunst geht Drößler ein. Der Besuch der Stumm­film­tage wird so ganz nebenbei zum anschau­li­chen Crashkurs in Sachen Kino­ge­schichte.

Noch bis zum Beginn der Sommer­pause des Film­mu­seums kann man erleben, wie stumme Filme in Worten und Gesten ihre ganze Expres­si­vität entfalten, ergrei­fend sind, traurig stimmen wollen, unter­s­tützt von einer Musik­be­glei­tung. Meist übernimmt sie narrativ die Rolle des Erzählers, illus­triert Szenen, bisweilen auch konter­ka­riert sie aber auch, wird ironisch und macht sich über die Handlung oder ganze Gattungen lustig, wie letztens bei Ernst Lubitschs Die Bergkatze, wo eine Räuber­tochter sich im absurd-expres­sio­nis­ti­schen Dekor ein Stell­dichein mit einem eitlen Lackaffen gab.

Die Musik spielt fast die Haupt­rolle bei den Inter­na­tio­nalen Stumm­film­tagen München. Richard Siedhoff und Mykyta Sierov aus Weimar, Neil Brand und Stephen Horne aus London, Masako Ohta, Masha Khotimski, Sabrina Zimmer­mann und Mark Pogolski aus München sowie Günter A. Buchwald und Frank Bockius aus Freiburg sind bekannte Größen der inter­na­tio­nalen Stumm­film­szene. Meist begleiten eigene Kompo­si­tionen die Filme. »Es gibt nur ganz wenige Filme, für die eine eigene Begleit­musik kompo­niert wurde, die in mehr als einem Kino aufge­führt wurde«, schreibt Drößler. Deshalb kann in der Musik auch die Moderne, die Jetztzeit, in hohem Maße inter­pre­tie­rend auf die Filme wirken.

Das Programm

Im Programm stehen William Wyler Hell’s Heroes (1929) über drei Bankräuber, die auf der Flucht durch die Wüste ein Baby finden – Blaupause für John Fords Three Godfa­thers (und evtl. auch Drei Männer und ein Baby) (Do 18.7. 20:00). Im indischen Schick­sals­würfel (1929) der Münchner Regie-Legende Franz Osten werden bei Elefanten, Tiger­jagden und »mensch­li­cher Märchen­wahr­heit« (Origi­nal­pres­se­stimme von 1929) koloniale Sicht­weisen und die 20er-Jahre-Faszi­na­tion am Exoti­schen deutlich. (Fr 19.7. 20:00)

Der Sowjet­stumm­film war bahn­bre­chend. Michail Romms Fett­klößchen (1926) spielt zur Zeit des deutsch-fran­zö­si­schen Kriegs 1870/71, nach Maupas­sants Roman »Boule de suif«. (Sa 20.7. 20:00) Die von der Straße leben haben Fridrich Ermler und Eduard Jogansson direkt in den Straßen von Sankt Peters­burg gedreht. Quasi­do­ku­men­ta­risch werden hier Alltags­szenen einge­fangen. Gefeiert als »erstes russi­sches Sitten­bild« mit wochen­lang ausver­kauften Vorstel­lungen. (So 21.7. 18:00)

Weitere Filme: Ost und West (Sydney M. Goldin, AT 1923), Im Dunkel der Nacht (R: Charles Vanel, FR 1929), Manolescu – Der König der Hoch­stapler (Robert Liebmann, DE 1929), A Cottage on Dartmoor (Anthony Asquith, GB 1928), Prix de beauté (Augusto Genina, nach dem Buch von René Clair und G.W. Papst).

Hanns Zischler geht ins Kino

Abschließend gibt es noch einen Höhepunkt. Zum Kafka-Jahr hält Hanns Zischler, Autor des bahn­bre­chenden Kinobuchs »Kafka geht ins Kino« einen Vortrag mit vielen Film­aus­schnitten, Text­zi­taten, Doku­menten und Fotos, die deutlich machen, was die imaginäre Welt von Kafka gewesen war. Zischler hat dafür akribisch in den Notizen und Tage­büchern von Kafka geforscht – eine völlig andere, text­ba­sierte und rezi­pi­en­ten­sei­tige Art der Film-Restau­ra­tion. »Dass das Kino den Menschen ganz in den Bann schlagen kann, diese Erfahrung macht Kafka auch an sich selbst«, schreibt dazu der öster­rei­chi­sche Kultur­kri­tiker Paul Jandl. (So 28.7. 18:00)