01.08.2024
Cinema Moralia – Folge 330

Über den Dächern von Paris

Air-Konzert Berlin

Über den Dächern von Paris

Leid, Light, Action: Francophone Olympiade, Kulturpolitisches und ein Sommer in Berlin – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 330. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Das Zeitlose ist von kürzester Dauer.«
– Arthur Schnitzler

»Kommu­ni­ka­tion ist unwahr­schein­lich.«
– Niklas Luhmann

Ein weißer Kasten, recht­eckig, der genau­ge­nommen ein einziges Cinema-Scope-Format ist, und ein einziges großes Display, drei­di­men­sional, ein bisschen 70er Jahre, ein Hauch von Clockwork Orange, ein bisschen Star-Trek-Brücke, die weiße Kleidung der drei Musiker erinnert auch an ELP-Auftritte – das war das sehr beein­dru­ckende Air-Konzert vor zehn Tagen in Berlin. Hier kann man es komplett ansehen/hören.

Auf dem Screen die kris­tallin erzeugten Stützen eines nicht vorhan­denen Daches.

Während ich höre und schaue, asso­zi­iere ich auch wild durch­ein­ander: Männer in der Krise; Männ­lich­keit: Albert Serra, Toco­tronic und Air als Gegen­mo­delle zu den Pausenhof-Bullys die Musik machen, Kino und Film­kritik; 1972; spacige Drei­di­men­sio­na­lität des Weltraums; Roger Vadim und »Barba­rella«.

Fran­co­phonie, und textlich gut auch als Kommentar zu den neuen Olym­piades lesbar:
»Où sont tes héros/ Aux corps d’athlètes
Où sont tes idoles/ Mal rasées, bien habillées
Sexy boy/ Sexy boy
Dans leurs yeux des dollars/ Dans leurs sourires des diamants
Moi aussi, un jour/ Je serai beau comme un Dieu«

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Fran­co­phonie II.: Warum Assassin’s Creed und nicht Fantomas oder Musidora über den Dächern von Paris mit dem olym­pi­schen Feuer herum­turnte – das war eine meiner Haupt­fragen bei der Eröff­nungs­feier der Olym­pi­schen Spiele. Die müssen nicht über Gebühr verklärt werden, kriti­siert aber auch nicht – wer etwas auspro­biert, macht immer etwas falsch, und wer viel wagt auch. Diese Eröff­nungs­feier wurde von Kommen­ta­toren aller­dings beschrieben als »geprägt durch das fran­zö­si­sche Kino, die siebte Kunst«. Schön wär’s gewesen.
Auch hier ist das zu bemerken, was man bei vielen fran­zö­si­schen Filmen sehen kann: Hinter der offen­sicht­li­chen Liebe zum eigenen, Fran­zö­si­schen, hinter dem Pathos (und manchmal auch dem kitschigen Schwärmen) für die eigene Kultur gibt es auch einen blinden Ameri­ka­nismus, eine USA-Verehrung, die der deutschen nicht nachsteht. Im Kino übersieht man die oft, weil fran­zö­si­sche Filme einfach besser sind als deutsche. Bei solchen Eröff­nungs­feiern fällt die Maske.

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Wir haben in den letzten Wochen ausführ­lich und in verschie­dener Form über den groß­ar­tigen Film Die Ermitt­lung von RP Kahl berichtet – und dies aus voller Über­zeu­gung! Die Ermitt­lung ist kein Film für die schnelle Verwer­tung. Sondern ein Film zum ruhigen langsamen Betrachten, zum Mehrfach-sehen, zum Nach­denken, zum Disku­tieren und Wider­spre­chen. Und es ist dem Verleih Leonine hoch anzu­rechnen, dass er das offen­sicht­lich genauso sieht – wie man hört, sind die Buchungen der Kinos für die kommenden Wochen eher noch besser als für die erste Start­woche, in der der Film allein schon wegen des Wetters und der Olympiade klarer­weise zu kämpfen hatte.

Wie gesagt: Es ist auch ein Film zum Wider­spre­chen. Und auch wenn wir uns hier bei artechock ganz einig sind, dass es sich um einen tollen Film handelt, wäre es auch schön gewesen, wenn wir hier viel­leicht auch noch einen kleinen »Gegentext« gehabt hätten. Damit gar nicht der Eindruck entsteht, wir seien das »Neue Deutsch­land«. Aber manchmal sind sich eben auch in freien Öffent­lich­keiten alle einig.

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Einig dürften sich aber auch die meisten unter denen, die Die Ermitt­lung für weniger gelungen halten, über etwas anderes sein: Während sich die deutsche Film­kritik diesem Film gegenüber in ihrer Breite erstaun­lich gewachsen zeigt – ich gebe zu: zu meiner großen Über­ra­schung –, und den Film jeden­falls niveau­voll und allen­falls etwas zu inhal­tis­tisch bespricht, ist der Film von der Berlinale abgelehnt worden. Er lag in fertiger Form vor, die Möglich­keit einer Fehlein­schät­zung aufgrund eines unfer­tigen Films kann also ausge­schlossen werden.

Ange­sichts der Premiere des Films am Dienstag vor zwei Wochen im Berliner Zoopalast, bei der vor allem ein normales, breit gefächertes Berliner Film­pu­blikum anwesend war, ist es eigent­lich voll­kommen unver­s­tänd­lich, dass ausge­rechnet für diesen Film in einem Programm von über 200 Berlinale-Filmen kein Platz war. Mit der Qualität des Films kann man dies nicht begründen. Man kann es eigent­lich nur damit begründen, dass genau dieser Diskurs von der Berlinale nicht geführt werden wollte. Und im Angesicht des Anti­se­mi­tismus-Skandals der Berlinale im Februar, im Angesicht der Vorge­schichte mit den anti­se­mi­ti­schen Ausfällen gerade im Berliner Kultur­be­trieb, und der Vorge­schichte der Berlinale, den Wort­mel­dungen von Berlinale-Mitar­bei­tern gegen jüdisches Leben auch in Deutsch­land und gegen jüdische Gäste auf der Berlinale im Vorfeld des Festivals, im Angesicht des Hin und Her über die Einladung von AfD-Mitglie­dern zur Berlinale-Eröffnung, im Angesicht des ganzen Unge­schicks der Berlinale-Leitung, ist die Nicht­ein­la­dung für diesen Film ein Skandal!

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Das sehe nicht nur ich so. Der der Berlinale gegenüber viel wohl­wol­len­dere Hanns-Georg Rodek drückte es in der »Welt am Sonntag« vom 21. Juli so aus:
»Gar nichts begriffen hatte offenbar die Berlinale, die Die Ermitt­lung gleich zweimal mit faden­schei­nigen Begrün­dungen ablehnte, obwohl ihr nicht nur das Konzept, sondern der fertige Film vorlag. Viel­leicht hatte die alte Berlinale-Führung den Film nur zum Teil oder auf einem kleinen Schirm gesehen, denn zwei Dinge braucht Die Ermitt­lung: die große Leinwand und den sanften Zwang dran­zu­bleiben. ... man muss sich den gesamten 241 Minuten aussetzen.«

Und wenn es nicht schon viele Gründe gegeben hätte, um die Amtszeit des Italie­ners Carlo Chatrian als künst­le­ri­schem Leiter nicht zu verlän­gern, dann ist allein die Nicht­ein­la­dung dieses Films Grund genug. Weil sie von einer totalen Ignoranz gegenüber zeugt; einer Ignoranz sowohl der poli­ti­schen Bedeutung, als auch den ästhe­ti­schen Mitteln dieses Films gegenüber – ein Berlinale-Leiter, der immer von sich behauptet, die Breite des Kinos und das Expe­ri­men­telle inter­es­sierten ihn, das Unge­wöhn­liche, der aber nicht in der Lage ist, das Besondere dieses Films zur Kenntnis zu nehmen und zu respek­tieren, ist falsch auf seinem Posten. Grund der Ablehnung war entweder Unwissen oder ist Ignoranz, und beides ist schlecht.

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Claudia Roth macht nicht nur den deutschen Film kaputt, sie beschä­digt nicht nur ihre eigene, allemal im Spätherbst befind­liche Karriere, sondern längst beschä­digt sie das Amt und sie beschä­digt den Begriff und das öffent­liche Vers­tändnis von Kultur und die Bedeutung und Stellung dieser Kultur.

Es sind ja nicht nur Roths Entschei­dungen zu Filmpreis und Film­för­de­rung, über die wir zuletzt vergan­gene Woche an dieser Stelle berichtet haben.

Es betrifft die ganze Breite der Kultur: Ob die ersatz­lose Strei­chung der Raubkunst-Kommis­sion und deren Tarnung mittels Gutachten, die so unge­fragten wie schwach­sin­nigen Verschlimm­bes­se­rungs­vor­schläge zu den Bayreu­ther Fest­spielen, Stichwort „Hänsel und Gretel“, und ihr baldiges Zurück­ru­dern; die Stiftung Preußi­scher Kultur­be­sitz; oder ihr Versagen im Anti­se­mi­tis­mus­streit – es geht nicht allein um das Kino. Claudia Roth versagt auf ganzer Linie. Ihr fehlen Geschmack und Gespür, sie ist bera­tungs­re­sis­tent. Sie trifft schnelle falsche Entschei­dungen und redet sich ohne Not um Kopf und Kragen. Die profes­sio­nellen Beob­achter wie die Haupt­stadt­be­amten schlagen im Angesicht von Roths erra­ti­schem Agieren nur noch die Hände überm Kopf zusammen.

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Bahnhof Zoo. Ich habe noch nie verstanden, wieso die S-Bahn in diesem lang­wei­ligen, häss­li­chen, uralten, schäbigen, niedrigen S-Bahnhof halten muss und nicht an den fast unge­nutzten majes­tä­ti­schen Nach­kriegs-Stahl­bau­gleisen des Bahnhof Zoo-Gebäudes direkt nebenan, da wo früher alle Züge, die nach West­berlin und Ganz-Berlin bis Sommer 2007, ankamen. Aber es ist wie es ist.
Jetzt ein Mal für ein paar Wochen kehrt der Bahnhof Zoo zurück – und das helle lichte West­berlin-Feeling. Denn die S-Bahn fährt »zwei Wochen« nicht, und aus den »zwei Wochen« sind erwar­tungs­gemäß bereits 17 Tage geworden. In der Zeit übernahm der Regio­nal­ex­press die West-Ost-Achse quer durch die Haupt­stadt.

Berlin, diese failed city, ist natur­gemäß über­rascht und dementspre­chend voll­kommen über­for­dert von der Tatsache, dass Tausende, nein: Zehn­tau­sende, die keine S-Bahn zum Fahren haben, statt­dessen auf die Regio­nal­bahn umsteigen. Darum gab es keine zusätz­li­chen Züge, auch keinen smarten Pendel­ver­kehr, sondern es waren einfach alle Regio­nal­züge, die sowieso schon fahren, fünfmal so voll, mit entspre­chend schlecht­ge­launten Menschen, und entspre­chend um mindes­tens zehn Minuten verspätet.