Cinema Moralia – Folge 330
Über den Dächern von Paris |
»Das Zeitlose ist von kürzester Dauer.«
– Arthur Schnitzler»Kommunikation ist unwahrscheinlich.«
– Niklas Luhmann
Ein weißer Kasten, rechteckig, der genaugenommen ein einziges Cinema-Scope-Format ist, und ein einziges großes Display, dreidimensional, ein bisschen 70er Jahre, ein Hauch von Clockwork Orange, ein bisschen Star-Trek-Brücke, die weiße Kleidung der drei Musiker erinnert auch an ELP-Auftritte – das war das sehr beeindruckende Air-Konzert vor zehn Tagen in Berlin. Hier kann man es komplett ansehen/hören.
Auf dem Screen die kristallin erzeugten Stützen eines nicht vorhandenen Daches.
Während ich höre und schaue, assoziiere ich auch wild durcheinander: Männer in der Krise; Männlichkeit: Albert Serra, Tocotronic und Air als Gegenmodelle zu den Pausenhof-Bullys die Musik machen, Kino und Filmkritik; 1972; spacige Dreidimensionalität des Weltraums; Roger Vadim und »Barbarella«.
Francophonie, und textlich gut auch als Kommentar zu den neuen Olympiades lesbar:
»Où sont tes héros/ Aux corps d’athlètes
Où sont tes idoles/ Mal rasées, bien habillées
Sexy boy/ Sexy boy
Dans leurs yeux des dollars/ Dans leurs sourires des diamants
Moi aussi, un jour/ Je serai beau comme un Dieu«
+ + +
Francophonie II.: Warum Assassin’s Creed und nicht Fantomas oder Musidora über den Dächern von Paris mit dem olympischen Feuer herumturnte – das war eine meiner Hauptfragen bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele. Die müssen nicht über Gebühr verklärt werden, kritisiert aber auch nicht – wer etwas ausprobiert, macht immer etwas falsch, und wer viel wagt
auch. Diese Eröffnungsfeier wurde von Kommentatoren allerdings beschrieben als »geprägt durch das französische Kino, die siebte Kunst«. Schön wär’s gewesen.
Auch hier ist das zu bemerken, was man bei vielen französischen Filmen sehen kann: Hinter der offensichtlichen Liebe zum eigenen, Französischen, hinter dem Pathos (und manchmal auch dem kitschigen Schwärmen) für die eigene Kultur gibt es auch einen blinden Amerikanismus, eine USA-Verehrung, die der deutschen
nicht nachsteht. Im Kino übersieht man die oft, weil französische Filme einfach besser sind als deutsche. Bei solchen Eröffnungsfeiern fällt die Maske.
+ + +
Wir haben in den letzten Wochen ausführlich und in verschiedener Form über den großartigen Film Die Ermittlung von RP Kahl berichtet – und dies aus voller Überzeugung! Die Ermittlung ist kein Film für die schnelle Verwertung. Sondern ein Film zum ruhigen langsamen Betrachten, zum Mehrfach-sehen, zum Nachdenken, zum Diskutieren und Widersprechen. Und es ist dem Verleih Leonine hoch anzurechnen, dass er das offensichtlich genauso sieht – wie man hört, sind die Buchungen der Kinos für die kommenden Wochen eher noch besser als für die erste Startwoche, in der der Film allein schon wegen des Wetters und der Olympiade klarerweise zu kämpfen hatte.
Wie gesagt: Es ist auch ein Film zum Widersprechen. Und auch wenn wir uns hier bei artechock ganz einig sind, dass es sich um einen tollen Film handelt, wäre es auch schön gewesen, wenn wir hier vielleicht auch noch einen kleinen »Gegentext« gehabt hätten. Damit gar nicht der Eindruck entsteht, wir seien das »Neue Deutschland«. Aber manchmal sind sich eben auch in freien Öffentlichkeiten alle einig.
+ + +
Einig dürften sich aber auch die meisten unter denen, die Die Ermittlung für weniger gelungen halten, über etwas anderes sein: Während sich die deutsche Filmkritik diesem Film gegenüber in ihrer Breite erstaunlich gewachsen zeigt – ich gebe zu: zu meiner großen Überraschung –, und den Film jedenfalls niveauvoll und allenfalls etwas zu inhaltistisch bespricht, ist der Film von der Berlinale abgelehnt worden. Er lag in fertiger Form vor, die Möglichkeit einer Fehleinschätzung aufgrund eines unfertigen Films kann also ausgeschlossen werden.
Angesichts der Premiere des Films am Dienstag vor zwei Wochen im Berliner Zoopalast, bei der vor allem ein normales, breit gefächertes Berliner Filmpublikum anwesend war, ist es eigentlich vollkommen unverständlich, dass ausgerechnet für diesen Film in einem Programm von über 200 Berlinale-Filmen kein Platz war. Mit der Qualität des Films kann man dies nicht begründen. Man kann es eigentlich nur damit begründen, dass genau dieser Diskurs von der Berlinale nicht geführt werden wollte. Und im Angesicht des Antisemitismus-Skandals der Berlinale im Februar, im Angesicht der Vorgeschichte mit den antisemitischen Ausfällen gerade im Berliner Kulturbetrieb, und der Vorgeschichte der Berlinale, den Wortmeldungen von Berlinale-Mitarbeitern gegen jüdisches Leben auch in Deutschland und gegen jüdische Gäste auf der Berlinale im Vorfeld des Festivals, im Angesicht des Hin und Her über die Einladung von AfD-Mitgliedern zur Berlinale-Eröffnung, im Angesicht des ganzen Ungeschicks der Berlinale-Leitung, ist die Nichteinladung für diesen Film ein Skandal!
+ + +
Das sehe nicht nur ich so. Der der Berlinale gegenüber viel wohlwollendere Hanns-Georg Rodek drückte es in der »Welt am Sonntag« vom 21. Juli so aus:
»Gar nichts begriffen hatte offenbar die Berlinale, die Die Ermittlung gleich zweimal mit fadenscheinigen Begründungen ablehnte, obwohl ihr nicht nur das Konzept, sondern der fertige Film vorlag. Vielleicht hatte die alte Berlinale-Führung den Film
nur zum Teil oder auf einem kleinen Schirm gesehen, denn zwei Dinge braucht Die Ermittlung: die große Leinwand und den sanften Zwang dranzubleiben. ... man muss sich den gesamten 241 Minuten aussetzen.«
Und wenn es nicht schon viele Gründe gegeben hätte, um die Amtszeit des Italieners Carlo Chatrian als künstlerischem Leiter nicht zu verlängern, dann ist allein die Nichteinladung dieses Films Grund genug. Weil sie von einer totalen Ignoranz gegenüber zeugt; einer Ignoranz sowohl der politischen Bedeutung, als auch den ästhetischen Mitteln dieses Films gegenüber – ein Berlinale-Leiter, der immer von sich behauptet, die Breite des Kinos und das Experimentelle interessierten ihn, das Ungewöhnliche, der aber nicht in der Lage ist, das Besondere dieses Films zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren, ist falsch auf seinem Posten. Grund der Ablehnung war entweder Unwissen oder ist Ignoranz, und beides ist schlecht.
+ + +
Claudia Roth macht nicht nur den deutschen Film kaputt, sie beschädigt nicht nur ihre eigene, allemal im Spätherbst befindliche Karriere, sondern längst beschädigt sie das Amt und sie beschädigt den Begriff und das öffentliche Verständnis von Kultur und die Bedeutung und Stellung dieser Kultur.
Es sind ja nicht nur Roths Entscheidungen zu Filmpreis und Filmförderung, über die wir zuletzt vergangene Woche an dieser Stelle berichtet haben.
Es betrifft die ganze Breite der Kultur: Ob die ersatzlose Streichung der Raubkunst-Kommission und deren Tarnung mittels Gutachten, die so ungefragten wie schwachsinnigen Verschlimmbesserungsvorschläge zu den Bayreuther Festspielen, Stichwort „Hänsel und Gretel“, und ihr baldiges Zurückrudern; die Stiftung Preußischer Kulturbesitz; oder ihr Versagen im Antisemitismusstreit – es geht nicht allein um das Kino. Claudia Roth versagt auf ganzer Linie. Ihr fehlen Geschmack und Gespür, sie ist beratungsresistent. Sie trifft schnelle falsche Entscheidungen und redet sich ohne Not um Kopf und Kragen. Die professionellen Beobachter wie die Hauptstadtbeamten schlagen im Angesicht von Roths erratischem Agieren nur noch die Hände überm Kopf zusammen.
+ + +
Bahnhof Zoo. Ich habe noch nie verstanden, wieso die S-Bahn in diesem langweiligen, hässlichen, uralten, schäbigen, niedrigen S-Bahnhof halten muss und nicht an den fast ungenutzten majestätischen Nachkriegs-Stahlbaugleisen des Bahnhof Zoo-Gebäudes direkt nebenan, da wo früher alle Züge, die nach Westberlin und Ganz-Berlin bis Sommer 2007, ankamen. Aber es ist wie es ist.
Jetzt ein Mal für ein paar Wochen kehrt der Bahnhof Zoo zurück – und das helle lichte
Westberlin-Feeling. Denn die S-Bahn fährt »zwei Wochen« nicht, und aus den »zwei Wochen« sind erwartungsgemäß bereits 17 Tage geworden. In der Zeit übernahm der Regionalexpress die West-Ost-Achse quer durch die Hauptstadt.
Berlin, diese failed city, ist naturgemäß überrascht und dementsprechend vollkommen überfordert von der Tatsache, dass Tausende, nein: Zehntausende, die keine S-Bahn zum Fahren haben, stattdessen auf die Regionalbahn umsteigen. Darum gab es keine zusätzlichen Züge, auch keinen smarten Pendelverkehr, sondern es waren einfach alle Regionalzüge, die sowieso schon fahren, fünfmal so voll, mit entsprechend schlechtgelaunten Menschen, und entsprechend um mindestens zehn Minuten verspätet.