Ein plötzlicher Blick auf tiefere Dinge |
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Auf der Spitze des Berges: A Sudden Glimpse to Deeper Things von Mark Cousins gewann den Hauptpreis | ||
(Foto: KVIFF · Mark Cousins) |
Von Marta Moneva
Schon die Anreise aus Prag nach Karlovy Vary hat Filmcharakter und -länge – wenn man sich den Shuttle mit dem sehr unterhaltsamen Filmemacher Mark Cousins teilt, der aus Nordirland stammt, aber in Schottland zu Hause ist. Das rhizomartige Gespräch führt durch den ganzen Kontinent und darüber hinaus. Auf Cousins’ nackten Armen sind interessante Tätowierungen zu sehen, darunter Namen von Filmidolen wie Kira Muratowa und Abbas Kiarostami. Wir streifen seine fünfzehnstündige Geschichte des Films The Story of Film: An Odyssey (2011). An Politik kommt man nicht vorbei und fast zwangsläufig landen wir beim March on Rome (2022), Cousins’ Film über den Aufstieg des Faschismus in Italien. Im Gepäck nach Karlovy Vary hat er dieses Jahr A Sudden Glimpse to Deeper Things (2024), gewidmet der schottischen Künstlerin Wilhelmina Barns-Graham, die im letzten Jahrhundert gelebt hat.
Bei der Premiere seines Films, den man am ehesten als dokumentarisches Werk mit essayistischem Charakter bezeichnen könnte, scheitert auch Programmdirektor Karel Och daran, eine genauere Beschreibung zu finden. Vielmehr handele es sich aus seiner Sicht um das eigene Genre »Markcousinsism«. Der Film fängt mit einem banalen Urlaubsfoto der Künstlerin aus den Siebzigern an, während Cousins im Hintergrund über die Details laut nachdenkt und langsam, den Film entlang in die Frage gleitet, wie Barns-Graham als Künstlerin während ihrer Zeit übersehen werden konnte. Unterstützt durch die Stimme seiner langjährigen Kollaborateurin Tilda Swinton, die einige Passagen aus Briefen und Tagebüchern der Künstlerin liest, skizziert der Regisseur ihre Lebensgeschichte, ohne große biografische Details zu nennen. Dafür bekommt der Zuschauer Einblick in ihre von Neurodiversität geprägten Tagebücher und wird auf dem Grindelwald-Gletscher in die Schweiz mitgenommen, dessen Besteigen 1949 Barns-Graham extrem geprägt hat und sich in ihren kantigen, modernistischen Interpretationen der Natur für die nächsten fünfzig Jahren widerspiegelt. Überzeugt, dass seine Protagonistin zu Lebzeiten nicht ausreichend von den britischen Kunstkreisen anerkannt wurde, leuchtet der Regisseur ihre Arbeit aus und nimmt den Zuschauer in einer filmischen Galerie mit, wo die Werke in einer schnörkellosen Diashow-Montage laufen, abwechselnd mit Aufnahmen aus der Grindelwald-Region. Ein eher bescheidener – für Karlovy Vary – Applaus am Ende lässt vermuten, dass der Publikumspreis woandershin wandern wird. Und ja, der Publikumspreis der Zeitung »Pravo« ging an die tschechisch-slowakische Koproduktion The Waves (2024) von Jiří Mádl, deren Handlung in Zeiten des Prager Frühlings eingebettet ist. Dafür aber wurde Cousins’ Film zur großen Überraschung aller mit dem Kristallglobus, dem Hauptpreis des Festivals, ausgezeichnet.
Was das Publikum betrifft, füllen neben Fachbesucher:innen sehr viele Badegäste die Vorführungen, und die Eintrittspreise bleiben sehr niederschwellig gestaltet. Das Festivalgeschehen ist äußerst präsent in der Badestadt, mit Stars zum Greifen nahe. Jedes Jahr sorgt KVIFF auch für den Besuch einiger Hollywood-Größen, die für ihre Arbeit ausgezeichnet werden. Der Festival President’s Award ging 2024 an Viggo Mortensen, Clive Owen, den deutschen Schauspieler und Regisseur Daniel Brühl und den tschechischen Schauspieler Ivan Trojan. Gegründet 1946 und heute ein Magnet für die Badestadt, kann das Festival nicht nur auf eine lange Geschichte, sondern auch auf die überwundene Krise in den 90-er Jahren zurückblicken. Dafür wird Festivalpräsident Jiří Bartoška dieses Jahr besonders geehrt. Er hat KVIFF aus der Krise geführt und präsidiert es erfolgreich seit nun dreißig Jahren. Es ist bemerkenswert, dass in Zeiten großer Unsicherheiten für die Kultur- und speziell Filmfestivalszene KVIFF durch die zu 75 Prozent private Finanzierung eine relative Stabilität und künstlerische Freiheit genießt, im Gegensatz zu vielen anderen großen Kulturforen, deutschen inklusive.
Allerdings hat auch KVIFF manche Herausforderungen zu meistern. Die Lage in der Zeitspanne zwischen Cannes und Venedig ist nicht besonders günstig, wie Programmdirektor Karel Och anmerkt. Die Platzierung von Filmen in die internationale Szene ist eine hochkomplexe Angelegenheit und verlangt den Festivalprogrammabteilungen großes Geschick ab. Man hat nicht nur Schwierigkeiten, ausschließlich Weltpremieren zu bekommen, sogar manche der Filme, die in Cannes gelaufen sind, bekommt man überhaupt nicht für das Program außerhalb des Wettbewerbs, weil sie für Werbekampagnen zurückgehalten werden.
Im Hauptwettbewerb konkurrierten zwölf Filme um den Kristallglobus, 11 davon in Weltpremiere. Die imposante Statuette wurde dieses Jahr erstmalig etwas verkleinert und leichter. So darf man gespannt sein, wie sich die Maßnahme auf die Plots der nächsten Festivaltrailer auswirkt, wo die Statuette doch bislang häufig ironievoll von den Preisträgern als Instrument zum Zertrümmern und Zerschlagen eingesetzt wurde.
Ein weiterer Wettbewerbsfilm führt in den Norden. Ein Familienhaus irgendwo in einer unbekannten norwegischen Stadt. Die fesche Mittdreißigerin Maria lebt nach einer gescheiterten Ehe mit ihren zwei leicht schwierigen und sich zu entfremden beginnenden Kindern und möchte ihre Beziehungsfähigkeit unter Beweis stellen. Was als Partyflirt mit dem attraktiven Musiker Sigmund beginnt, der – warum auch immer – durch den ganzen Film einen schwerst zerrissenen Norwegerpullover tragen muss, entwickelt sich in einer Ehe mit zwei weiteren Kindern, eines davon auch etwas verhaltensauffällig. Der so oft erwähnte, aber nicht kleiner werden wollende Spagat zwischen Kindesbetreuung, Erziehung und Berufstätigkeit treibt auch Maria an ihre Grenzen, während Sigmund wochenlang beruflich unterwegs ist. Von Szene zu Szene bahnt sich eine Katastrophe an. Loveable (2024) der norwegischen Regisseurin Lilja Ingolfsdottir, die auch das Drehbuch verfasst hat, zeichnet in feinen Nuancen den Zerfall der Familie. Maria, mittlerweile Mutter vierer Kinder, begibt sich widerwillig in Therapie und fällt mit jeder weiteren Filmminute noch stärker auseinander, die Figur wunderbar gespielt von Helga Guren, deren immer tänzelnde Lippe stets eine unterschiedliche Handlungsentwicklung andeutet und nicht selten in einem sardonischen Lächeln endet. Maria ist inzwischen ausgezogen aus dem Familienheim und agonisiert allein qualvoll vor sich hin, komplett abgestoßen nicht nur von Sigmund, sondern auch von der älteren Tochter. Zu sehen ist aber nicht nur ein Scheidungsdrama, sondern auch eine Protagonistin, die sich selbst kennenzulernen und zu wachsen beginnt und anfängt, mit den dysfunktionalen Verhaltensmustern fertig zu werden, die sie in sich getragen hatte. Für die Darstellung und die wunderbar tänzelnde Lippe wurde Helga Guren als Beste Schauspielerin ausgezeichnet. Loveable selbst hat den Spezialpreis der Jury sowie den Preis der Ökonomischen Jury, der Europa Cinemas Label und den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik gewonnen.
Eine weitere Perle in der Dramenkette des diesjährigen Wettbewerbs ist Rude to Love (2024) des japanischen Regisseurs Yukihiro Morigaki, der in Tallinn für seinen letzten Film Goodbye, Grandpa! ausgezeichnet wurde. Rude to Love ist eine ausgefeilte Beziehungsstudie durch die Augen einer Frau, was laut Morigaki selbst bislang ein selten dargestellter Blickwinkel im japanischen Kino ist. Momoko, die Ehefrau, dominiert das Bild in ihrer leichten und eleganten, typisch japanischen locker sitzenden Leinenkleidung, stets bemüht um den Haushalt und das Wohlbefinden ihres Mannes Mamoru und der nebenan lebenden leicht penetranten Schwiegermutter, die stets besser weiß, was für ihren Sohn gut ist. Die Handlung verläuft komplett entgegen der japanischen Tradition, Schmerz zu unterdrücken. Momoko, die ihre Berufstätigkeit zugunsten der Ehe aufgegeben hat, lediglich ein paar Seifenherstellungskurse am Rande leitet und nach einer Missgeburt kinderlos ist, verlangt nach Aussprache mit der schwangeren Liebhaberin von Mamoru, verweigert ihm die Scheidung und lässt sich nicht wie einen unnötigen Gegenstand aus dem Weg beseitigen. In einer Kulmination kauft sich die Ehefrau aus dem Vorort noch eine Kettensäge, mit der sie den Boden des Familienhauses zerschneidet, worunter eine ihr teure Erinnerung vergraben liegt, und setzt sich durch. Inmitten eines riesigen Japanbooms zeigt Morigaki schonungslos die »Dunkelheit der japanischen Gesellschaft«, so Morigaki, der auch den extremen Drang Japans nach Produktivität kritisiert. Besonders stolz ist der Regisseur, den Film auf 35mm Film gedreht zu haben.
Der Wettbewerb bleibt in Asien, es geht weiter mit Fechten in Taiwan, wo das Drama Pierce (2024) spielt. Die Koproduktion aus Singapur, Taiwan und Polen ist das Langfilmdebüt der Regisseurin Nelicia Low und erzählt das Familiendrama zweier fechtender Brüder und ihrer alleinerziehenden Mutter, die ihren Lebensunterhalt als Sängerin in einem Nachtklub verdient. Der ältere Sohn hat während eines Wettbewerbs seinen Gegner mit abgebrochener Klinge tödlich verletzt und dafür eine siebenjährige Jugendgefängnisstrafe abgesessen. Als er zurück in die Freiheit kehrt, versucht die Mutter ihn vom jüngeren Bruder fernzuhalten, nicht von seiner Unschuld überzeugt. Die Brüder nähern sich trotzdem an und genießen heimlich ihre neu aufgebaute Beziehung, als ein Fechtvorfall alles verkompliziert. Die Geschichte ist gut und sehr überzeugend umgesetzt. Low, die bis 2010 für Singapur gefochten hat und auch das Drehbuch verfasst hat, wurde als Beste Regisseurin ausgezeichnet. Ihr ausgesprochener Wunsch war es, mit einem europäischen Kameramann zu arbeiten. Hinter der Kamera stand der mehrfach preisgekrönte Michał Dymek.
Vom Vater verlassen zu werden war das Thema gleich mehrerer Filme. Nach einer zehnjährigen Pause ist Peter Hoogendoorn mit Three Days of Fish (2024) zurück. Gerrie, ein pensionierter Mechaniker, kommt einmal jährlich nach Rotterdam, für Arztbesuche und andere Erledigungen. Dick, sein etwas tollpatschiger Sohn, ist Mitte Vierzig und hält sich mit dem Verkauf aufpolierter Sperrmüll-Möbelstücke über Wasser. Er vermisst den Vater sehr und verbringt die wenigen Tagen mit ihm. Der tänzelnde und sehr subtile Filmdialog bereitet Vergnügen. Der Film ist von großer Leichtigkeit getragen, obwohl es zwischen Vater und Sohn Traumata gibt. Das intime Porträt ist von Kameramann Gregg Telussa in sanftem, kontrastarmem Schwarzweiß gedreht. Keiner ist überrascht, als das Schauspielgespann Ton Kas und Guido Pollemans gleichermaßen als Beste Schauspieler ausgezeichnet werden. Auf den weiteren Weg des Films darf man gespannt sein.
Mit einer weitaus dramatischer gezeichneten Vater-Sohn-Geschichte nimmt die georgische Koproduktion Panopticon (2024) von George Sikharulidze am Wettbewerb teil. Sandro steht kurz vor dem Abitur, seine Mutter lebt in Amerika und hofft ihren Aufenthalt dort zu legalisieren, als sein Vater endgültig entscheidet, sich Gott zu widmen und Mönch zu werden. Sandro gerät zunehmend in Schwierigkeiten durch seine Nähe zur rechtsextremen Szene über den Freund Lasha und vereinsamt zu Hause.
Auf der Suche nach Spuren des verstorbenen Vaters macht sich Kaloyan, der mit seiner Mutter in Spanien lebt und nach Bulgarien zurückgekehrt ist, um die alte Familienwohnung zu verkaufen. Es stellt sich heraus, dass auch das Grab des Vaters umziehen muss, da der Friedhof den Plänen eines Großinvestors weichen muss. Der düstere Windless (2024) mit langen ruhigen Einstellungen des bulgarischen Regisseurs Pavel G. Vesnakov ist Teil des Proxima Wettbewerbs, das Raum für eine freiere Interpretation der Filmsprache und freies kreatives Denken auf der Leinwand bietet. Gleich auffallend ist das quadratische Bildformat, für welches sich Vesnakov zusammen mit seinem Kameramann Orlin Ruevski entschieden hat und damit noch mehr Druck auf die Leinwand erzeugt. Die Kamera bewegt sich nicht, es herrscht eine intime Atmosphäre, das Tempo der Filmerzählung ist langsam und ruhig, ganz nach Vesnakovs eigenem Geschmack. Da er auch fürs Fernsehen arbeitet, kennt er noch ganz andere Tempi. Inspiriert wurde das Drehbuch durch Anuk Arudpragasams Roman »Nach Norden«, in dem der Protagonist für die Beerdigung seiner Kinderfrau nach Hause reist. Eine italienische Distribution ist schon zu Gange.
Die aktuellsten Kriege und Konflikte waren natürlich auch Gegenstand des Programms, insbesondere seien hier die bemerkenswerte The Invasion (2024) von Sergei Loznitsa, Real (2024) von Oleh Sentsov, Voyage Along the War (2024) von Antonin Peretjatko und einer der Berlinale-Gewinner No Other Land (2024) von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor erwähnt.
Gleichermaßen erwähnenswert sind das somalische Debüt The Village Next to Paradise (2024) von Mo Harawe sowie einer der Cannes-Gewinner All We Imagine as Light (2024) der indischen Regisseurin Payal Kapadias, die zusammen mit einer Reihe ausgezeichneter Arbeiten in der Sektion »Horizons« außerhalb des Wettbewerbs gezeigt wurden.
Im Abschlussfilm Fingernails (2023) lässt der Regisseur Christos Nikou, ehemaliger Assistent von Yorgos Lanthimos, Paare ihre Liebe in einem Liebesinstitut testen. Durch das Herausreißen von Fingernägeln ohne Betäubung und derer anschließender Prüfung durch eine Maschine findet man den Verliebtheitsgrad heraus: 0, 50, 100 Prozent. Von der Skurrilität dieser Idee abgesehen, passiert nicht viel, während manche Passagen von Zuckerguss überzogen waren. Dass der Film auf eine relativ erfolgreiche Festivalgeschichte samt Auszeichnungen blicken kann, bleibt rätselhaft. Spoiler: Am Ende des Films laufen jede Menge Protagonisten mit frisch verbundenem Finger herum.