08.08.2024

Ein plötzlicher Blick auf tiefere Dinge

A Sudden Glimpse to Deeper Things
Auf der Spitze des Berges: A Sudden Glimpse to Deeper Things von Mark Cousins gewann den Hauptpreis
(Foto: KVIFF · Mark Cousins)

Das 59. Filmfestival KVIFF in Karlovy Vary schiebt sich zwischen Cannes und Venedig und schafft es trotzdem, herausragende Weltpremieren zu zeigen

Von Marta Moneva

Schon die Anreise aus Prag nach Karlovy Vary hat Film­cha­rakter und -länge – wenn man sich den Shuttle mit dem sehr unter­halt­samen Filme­ma­cher Mark Cousins teilt, der aus Nord­ir­land stammt, aber in Schott­land zu Hause ist. Das rhizom­ar­tige Gespräch führt durch den ganzen Kontinent und darüber hinaus. Auf Cousins’ nackten Armen sind inter­es­sante Täto­wie­rungen zu sehen, darunter Namen von Film­idolen wie Kira Muratowa und Abbas Kiaros­tami. Wir streifen seine fünf­zehn­stün­dige Geschichte des Films The Story of Film: An Odyssey (2011). An Politik kommt man nicht vorbei und fast zwangs­läufig landen wir beim March on Rome (2022), Cousins’ Film über den Aufstieg des Faschismus in Italien. Im Gepäck nach Karlovy Vary hat er dieses Jahr A Sudden Glimpse to Deeper Things (2024), gewidmet der schot­ti­schen Künst­lerin Wilhel­mina Barns-Graham, die im letzten Jahr­hun­dert gelebt hat.

Bei der Premiere seines Films, den man am ehesten als doku­men­ta­ri­sches Werk mit essay­is­ti­schem Charakter bezeichnen könnte, scheitert auch Programm­di­rektor Karel Och daran, eine genauere Beschrei­bung zu finden. Vielmehr handele es sich aus seiner Sicht um das eigene Genre »Mark­cou­sin­sism«. Der Film fängt mit einem banalen Urlaubs­foto der Künst­lerin aus den Sieb­zi­gern an, während Cousins im Hinter­grund über die Details laut nachdenkt und langsam, den Film entlang in die Frage gleitet, wie Barns-Graham als Künst­lerin während ihrer Zeit übersehen werden konnte. Unter­s­tützt durch die Stimme seiner lang­jäh­rigen Kolla­bo­ra­teurin Tilda Swinton, die einige Passagen aus Briefen und Tage­büchern der Künst­lerin liest, skizziert der Regisseur ihre Lebens­ge­schichte, ohne große biogra­fi­sche Details zu nennen. Dafür bekommt der Zuschauer Einblick in ihre von Neuro­di­ver­sität geprägten Tage­bücher und wird auf dem Grin­del­wald-Gletscher in die Schweiz mitge­nommen, dessen Besteigen 1949 Barns-Graham extrem geprägt hat und sich in ihren kantigen, moder­nis­ti­schen Inter­pre­ta­tionen der Natur für die nächsten fünfzig Jahren wider­spie­gelt. Überzeugt, dass seine Prot­ago­nistin zu Lebzeiten nicht ausrei­chend von den briti­schen Kunst­kreisen anerkannt wurde, leuchtet der Regisseur ihre Arbeit aus und nimmt den Zuschauer in einer filmi­schen Galerie mit, wo die Werke in einer schnör­kel­losen Diashow-Montage laufen, abwech­selnd mit Aufnahmen aus der Grin­del­wald-Region. Ein eher beschei­dener – für Karlovy Vary – Applaus am Ende lässt vermuten, dass der Publi­kums­preis woan­dershin wandern wird. Und ja, der Publi­kums­preis der Zeitung »Pravo« ging an die tsche­chisch-slowa­ki­sche Kopro­duk­tion The Waves (2024) von Jiří Mádl, deren Handlung in Zeiten des Prager Frühlings einge­bettet ist. Dafür aber wurde Cousins’ Film zur großen Über­ra­schung aller mit dem Kris­tall­globus, dem Haupt­preis des Festivals, ausge­zeichnet.

Was das Publikum betrifft, füllen neben Fach­be­su­cher:innen sehr viele Badegäste die Vorfüh­rungen, und die Eintritts­preise bleiben sehr nieder­schwellig gestaltet. Das Festi­val­ge­schehen ist äußerst präsent in der Badestadt, mit Stars zum Greifen nahe. Jedes Jahr sorgt KVIFF auch für den Besuch einiger Hollywood-Größen, die für ihre Arbeit ausge­zeichnet werden. Der Festival President’s Award ging 2024 an Viggo Mortensen, Clive Owen, den deutschen Schau­spieler und Regisseur Daniel Brühl und den tsche­chi­schen Schau­spieler Ivan Trojan. Gegründet 1946 und heute ein Magnet für die Badestadt, kann das Festival nicht nur auf eine lange Geschichte, sondern auch auf die über­wun­dene Krise in den 90-er Jahren zurück­bli­cken. Dafür wird Festi­val­prä­si­dent Jiří Bartoška dieses Jahr besonders geehrt. Er hat KVIFF aus der Krise geführt und präsi­diert es erfolg­reich seit nun dreißig Jahren. Es ist bemer­kens­wert, dass in Zeiten großer Unsi­cher­heiten für die Kultur- und speziell Film­fes­ti­valszene KVIFF durch die zu 75 Prozent private Finan­zie­rung eine relative Stabi­lität und künst­le­ri­sche Freiheit genießt, im Gegensatz zu vielen anderen großen Kultur­foren, deutschen inklusive.

Aller­dings hat auch KVIFF manche Heraus­for­de­rungen zu meistern. Die Lage in der Zeit­spanne zwischen Cannes und Venedig ist nicht besonders günstig, wie Programm­di­rektor Karel Och anmerkt. Die Plat­zie­rung von Filmen in die inter­na­tio­nale Szene ist eine hoch­kom­plexe Ange­le­gen­heit und verlangt den Festi­val­pro­gramm­ab­tei­lungen großes Geschick ab. Man hat nicht nur Schwie­rig­keiten, ausschließ­lich Welt­pre­mieren zu bekommen, sogar manche der Filme, die in Cannes gelaufen sind, bekommt man überhaupt nicht für das Program außerhalb des Wett­be­werbs, weil sie für Werbe­kam­pa­gnen zurück­ge­halten werden.

Im Haupt­wett­be­werb konkur­rierten zwölf Filme um den Kris­tall­globus, 11 davon in Welt­pre­miere. Die imposante Statuette wurde dieses Jahr erstmalig etwas verklei­nert und leichter. So darf man gespannt sein, wie sich die Maßnahme auf die Plots der nächsten Festi­val­trailer auswirkt, wo die Statuette doch bislang häufig ironie­voll von den Preis­trä­gern als Instru­ment zum Zertrüm­mern und Zerschlagen einge­setzt wurde.

Ein weiterer Wett­be­werbs­film führt in den Norden. Ein Fami­li­en­haus irgendwo in einer unbe­kannten norwe­gi­schen Stadt. Die fesche Mitt­dreißi­gerin Maria lebt nach einer geschei­terten Ehe mit ihren zwei leicht schwie­rigen und sich zu entfremden begin­nenden Kindern und möchte ihre Bezie­hungs­fähig­keit unter Beweis stellen. Was als Party­flirt mit dem attrak­tiven Musiker Sigmund beginnt, der – warum auch immer – durch den ganzen Film einen schwerst zerris­senen Norwe­ger­pull­over tragen muss, entwi­ckelt sich in einer Ehe mit zwei weiteren Kindern, eines davon auch etwas verhal­tens­auf­fällig. Der so oft erwähnte, aber nicht kleiner werden wollende Spagat zwischen Kindes­be­treuung, Erziehung und Berufs­tä­tig­keit treibt auch Maria an ihre Grenzen, während Sigmund wochen­lang beruflich unterwegs ist. Von Szene zu Szene bahnt sich eine Kata­strophe an. Loveable (2024) der norwe­gi­schen Regis­seurin Lilja Ingolf­sdottir, die auch das Drehbuch verfasst hat, zeichnet in feinen Nuancen den Zerfall der Familie. Maria, mitt­ler­weile Mutter vierer Kinder, begibt sich wider­willig in Therapie und fällt mit jeder weiteren Film­mi­nute noch stärker ausein­ander, die Figur wunderbar gespielt von Helga Guren, deren immer tänzelnde Lippe stets eine unter­schied­liche Hand­lungs­ent­wick­lung andeutet und nicht selten in einem sardo­ni­schen Lächeln endet. Maria ist inzwi­schen ausge­zogen aus dem Fami­li­en­heim und agoni­siert allein qualvoll vor sich hin, komplett abge­stoßen nicht nur von Sigmund, sondern auch von der älteren Tochter. Zu sehen ist aber nicht nur ein Schei­dungs­drama, sondern auch eine Prot­ago­nistin, die sich selbst kennen­zu­lernen und zu wachsen beginnt und anfängt, mit den dysfunk­tio­nalen Verhal­tens­mus­tern fertig zu werden, die sie in sich getragen hatte. Für die Darstel­lung und die wunderbar tänzelnde Lippe wurde Helga Guren als Beste Schau­spie­lerin ausge­zeichnet. Loveable selbst hat den Spezi­al­preis der Jury sowie den Preis der Ökono­mi­schen Jury, der Europa Cinemas Label und den Fipresci-Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik gewonnen.

Eine weitere Perle in der Dramen­kette des dies­jäh­rigen Wett­be­werbs ist Rude to Love (2024) des japa­ni­schen Regis­seurs Yukihiro Morigaki, der in Tallinn für seinen letzten Film Goodbye, Grandpa! ausge­zeichnet wurde. Rude to Love ist eine ausge­feilte Bezie­hungs­studie durch die Augen einer Frau, was laut Morigaki selbst bislang ein selten darge­stellter Blick­winkel im japa­ni­schen Kino ist. Momoko, die Ehefrau, dominiert das Bild in ihrer leichten und eleganten, typisch japa­ni­schen locker sitzenden Leinen­klei­dung, stets bemüht um den Haushalt und das Wohl­be­finden ihres Mannes Mamoru und der nebenan lebenden leicht pene­tranten Schwie­ger­mutter, die stets besser weiß, was für ihren Sohn gut ist. Die Handlung verläuft komplett entgegen der japa­ni­schen Tradition, Schmerz zu unter­drü­cken. Momoko, die ihre Berufs­tä­tig­keit zugunsten der Ehe aufge­geben hat, lediglich ein paar Seifen­her­stel­lungs­kurse am Rande leitet und nach einer Miss­ge­burt kinderlos ist, verlangt nach Aussprache mit der schwan­geren Lieb­ha­berin von Mamoru, verwei­gert ihm die Scheidung und lässt sich nicht wie einen unnötigen Gegen­stand aus dem Weg besei­tigen. In einer Kulmi­na­tion kauft sich die Ehefrau aus dem Vorort noch eine Ketten­säge, mit der sie den Boden des Fami­li­en­hauses zerschneidet, worunter eine ihr teure Erin­ne­rung vergraben liegt, und setzt sich durch. Inmitten eines riesigen Japan­booms zeigt Morigaki scho­nungslos die »Dunkel­heit der japa­ni­schen Gesell­schaft«, so Morigaki, der auch den extremen Drang Japans nach Produk­ti­vität kriti­siert. Besonders stolz ist der Regisseur, den Film auf 35mm Film gedreht zu haben.

Der Wett­be­werb bleibt in Asien, es geht weiter mit Fechten in Taiwan, wo das Drama Pierce (2024) spielt. Die Kopro­duk­tion aus Singapur, Taiwan und Polen ist das Lang­film­debüt der Regis­seurin Nelicia Low und erzählt das Fami­li­en­drama zweier fech­tender Brüder und ihrer allein­er­zie­henden Mutter, die ihren Lebens­un­ter­halt als Sängerin in einem Nachtklub verdient. Der ältere Sohn hat während eines Wett­be­werbs seinen Gegner mit abge­bro­chener Klinge tödlich verletzt und dafür eine sieben­jäh­rige Jugend­ge­fäng­nis­strafe abge­sessen. Als er zurück in die Freiheit kehrt, versucht die Mutter ihn vom jüngeren Bruder fern­zu­halten, nicht von seiner Unschuld überzeugt. Die Brüder nähern sich trotzdem an und genießen heimlich ihre neu aufge­baute Beziehung, als ein Fecht­vor­fall alles verkom­pli­ziert. Die Geschichte ist gut und sehr über­zeu­gend umgesetzt. Low, die bis 2010 für Singapur gefochten hat und auch das Drehbuch verfasst hat, wurde als Beste Regis­seurin ausge­zeichnet. Ihr ausge­spro­chener Wunsch war es, mit einem europäi­schen Kame­ra­mann zu arbeiten. Hinter der Kamera stand der mehrfach preis­ge­krönte Michał Dymek.

Vom Vater verlassen zu werden war das Thema gleich mehrerer Filme. Nach einer zehn­jäh­rigen Pause ist Peter Hoogen­doorn mit Three Days of Fish (2024) zurück. Gerrie, ein pensio­nierter Mecha­niker, kommt einmal jährlich nach Rotterdam, für Arzt­be­suche und andere Erle­di­gungen. Dick, sein etwas toll­pat­schiger Sohn, ist Mitte Vierzig und hält sich mit dem Verkauf aufpo­lierter Sperrmüll-Möbels­tücke über Wasser. Er vermisst den Vater sehr und verbringt die wenigen Tagen mit ihm. Der tänzelnde und sehr subtile Film­dialog bereitet Vergnügen. Der Film ist von großer Leich­tig­keit getragen, obwohl es zwischen Vater und Sohn Traumata gibt. Das intime Porträt ist von Kame­ra­mann Gregg Telussa in sanftem, kontrastarmem Schwarz­weiß gedreht. Keiner ist über­rascht, als das Schau­spiel­ge­spann Ton Kas und Guido Pollemans glei­cher­maßen als Beste Schau­spieler ausge­zeichnet werden. Auf den weiteren Weg des Films darf man gespannt sein.

Mit einer weitaus drama­ti­scher gezeich­neten Vater-Sohn-Geschichte nimmt die geor­gi­sche Kopro­duk­tion Panop­ticon (2024) von George Sikha­ru­lidze am Wett­be­werb teil. Sandro steht kurz vor dem Abitur, seine Mutter lebt in Amerika und hofft ihren Aufent­halt dort zu lega­li­sieren, als sein Vater endgültig entscheidet, sich Gott zu widmen und Mönch zu werden. Sandro gerät zunehmend in Schwie­rig­keiten durch seine Nähe zur rechts­extremen Szene über den Freund Lasha und vereinsamt zu Hause.

Auf der Suche nach Spuren des verstor­benen Vaters macht sich Kaloyan, der mit seiner Mutter in Spanien lebt und nach Bulgarien zurück­ge­kehrt ist, um die alte Fami­li­en­woh­nung zu verkaufen. Es stellt sich heraus, dass auch das Grab des Vaters umziehen muss, da der Friedhof den Plänen eines Groß­in­ves­tors weichen muss. Der düstere Windless (2024) mit langen ruhigen Einstel­lungen des bulga­ri­schen Regis­seurs Pavel G. Vesnakov ist Teil des Proxima Wett­be­werbs, das Raum für eine freiere Inter­pre­ta­tion der Film­sprache und freies kreatives Denken auf der Leinwand bietet. Gleich auffal­lend ist das quadra­ti­sche Bild­format, für welches sich Vesnakov zusammen mit seinem Kame­ra­mann Orlin Ruevski entschieden hat und damit noch mehr Druck auf die Leinwand erzeugt. Die Kamera bewegt sich nicht, es herrscht eine intime Atmo­sphäre, das Tempo der Film­erzäh­lung ist langsam und ruhig, ganz nach Vesnakovs eigenem Geschmack. Da er auch fürs Fernsehen arbeitet, kennt er noch ganz andere Tempi. Inspi­riert wurde das Drehbuch durch Anuk Arud­pra­ga­sams Roman »Nach Norden«, in dem der Prot­ago­nist für die Beer­di­gung seiner Kinder­frau nach Hause reist. Eine italie­ni­sche Distri­bu­tion ist schon zu Gange.

Die aktu­ellsten Kriege und Konflikte waren natürlich auch Gegen­stand des Programms, insbe­son­dere seien hier die bemer­kens­werte The Invasion (2024) von Sergei Loznitsa, Real (2024) von Oleh Sentsov, Voyage Along the War (2024) von Antonin Peret­jatko und einer der Berlinale-Gewinner No Other Land (2024) von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor erwähnt.

Glei­cher­maßen erwäh­nens­wert sind das soma­li­sche Debüt The Village Next to Paradise (2024) von Mo Harawe sowie einer der Cannes-Gewinner All We Imagine as Light (2024) der indischen Regis­seurin Payal Kapadias, die zusammen mit einer Reihe ausge­zeich­neter Arbeiten in der Sektion »Horizons« außerhalb des Wett­be­werbs gezeigt wurden.

Im Abschluss­film Finger­nails (2023) lässt der Regisseur Christos Nikou, ehema­liger Assistent von Yorgos Lanthimos, Paare ihre Liebe in einem Liebes­in­stitut testen. Durch das Heraus­reißen von Fingernä­geln ohne Betäubung und derer anschließender Prüfung durch eine Maschine findet man den Verliebt­heits­grad heraus: 0, 50, 100 Prozent. Von der Skur­ri­lität dieser Idee abgesehen, passiert nicht viel, während manche Passagen von Zucker­guss überzogen waren. Dass der Film auf eine relativ erfolg­reiche Festi­val­ge­schichte samt Auszeich­nungen blicken kann, bleibt rätsel­haft. Spoiler: Am Ende des Films laufen jede Menge Prot­ago­nisten mit frisch verbun­denem Finger herum.