26.09.2024

Die Erwartung des Unerwarteten unterlaufen

Ma famille chérie
Schon wieder eine Familiengeschichte von Isild Le Besco: Ma famille chérie
(Foto: Filmfest Oldenburg · Isild Le Besco)

Das 31. Internationale Filmfest Oldenburg bot viele überraschende Indie-Perlen

Von Eckhard Haschen

»Find Your Wild«: Dass das Filmfest Oldenburg, das dieses Jahr unter diesem Motto stand, zahm werden könnte, steht vorerst nicht zu befürchten. Zumindest nicht, solange es Torsten Neumann leitet, der das Festival vor dreißig Jahren mitge­gründet hat. Schon der dies­jäh­rige Festi­val­trailer, angelehnt an Chris Markers berühmten Fotofilm La jetée, erzählt eine post­apo­ka­lyp­ti­sche Geschichte von der Entmün­di­gung des Menschen im Zeitalter der KI – von ihm war hier schon vorige Woche die Rede – und zeugt vom Geist des Wider­stands gegen den bald alles beherr­schenden Main­stream. Bemer­kens­wert: Neumann hat ihn zusammen mit Mitglie­dern seines Teams und der Erzäh­le­rin­nen­stimme von Amanda Plummer (auch dieses Jahr wieder zu Gast) selbst erstellt. Muster­gültig war auch die Dominik Graf gewidmete Retro­spek­tive, in der unter anderem der selten zu sehende Treffer von 1984 und der Director’s Cut von Die Sieger enthalten waren. In einer zweis­tün­digen Master­class berich­tete Graf anschau­lich von den Kämpfen um seine Art des Geschich­ten­er­zäh­lens: So geriet er in den letzten vierzig Jahren immer wieder zwischen die Lager von Kunst und Kommerz – die sich in Deutsch­land von jeher allzu feindlich gegen­ü­ber­stehen.

Auch die Auswahl der aktuellen Filme spiegelte dieses bestän­dige Suchen nach Alter­na­tiven zum Main­stream auf immer wieder erfri­schende Weise wider. Da wird etwa Isild Le Besco, der im letzten Jahr ein Tribute gewidmet war, die Treue gehalten, auch wenn ihr neuer Film Ma famille chérie, der die Erkundung der dunkleren Seiten des Mikro­kosmos Familie ihres letzt­jäh­rigen Confines fortsetzt, wie jüngst in Locarno nicht ganz so gut ankommt. Da gibt es die deutschen Erst­auf­füh­rungen von It’s Not Me, des neuen mittel­langen Films von Leos Carax, oder von The Second Act des stets expe­ri­men­tier­freu­digen Quentin Dupieux. Oder – wie berichtet – den wunderbar verspielten Marcello Mio von Christoph Honoré, der als Abschluss­film gezeigt wurde.

Wer bereits dachte, dass Florian Frerichs' ins heutige Berlin verlegte Verfil­mung von Schnitz­lers »Traum­no­velle« (Eröff­nungs­film) ein besonders mutiger Film ist, der hatte noch nicht den ebenfalls ohne nennens­werte Förderung entstan­denen Berlin-Film Flieg Steil von Martina Schöne-Radunski und Lana Cooper gesehen, der denn auch verdien­ter­maßen den Audacity-Award gewann. Eine Nazi-Rock-Musikerin (glaub­würdig: Ceci Chuh), die sich mit ihren ultra-femi­nis­ti­schen Ansichten in einer faschis­ti­schen Unter­grund­szene logi­scher­weise Feinde macht, aber sich nicht unter­kriegen lassen will… Von den verschie­denen Möglich­keiten, ihre Geschichte aufzu­lösen, haben die Regie-Debü­tan­tinnen diejenige gewählt, mit der man am wenigsten beruhigt nach Hause gehen kann.

Ein in vielerlei Hinsicht typischer Oldenburg-Film ist James des kana­di­schen Regis­seurs Max Train, Gewinner des German Inde­pen­dence Awards (Publi­kums­preis). Es ist die für sehr wenig Geld in Schwarz­weiß gedrehte, ziemlich verrückte Geschichte eines jungen Mannes, der auf einer Müllhalde ein wert­volles Fahrrad findet, es verliert – und es schließ­lich wieder­findet. Mag man zunächst an Vittorio de Sicas Fahr­rad­diebe denken, ist das Ganze aber eher von frühen Jarmusch-Filmen inspi­riert – aber mit dem Tempo von Scorseses After Hours. Ein kleine Indie-Perle, die man ohne dieses Festival womöglich nie zu sehen bekommen hätte.