Die Erwartung des Unerwarteten unterlaufen |
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Schon wieder eine Familiengeschichte von Isild Le Besco: Ma famille chérie | ||
(Foto: Filmfest Oldenburg · Isild Le Besco) |
Von Eckhard Haschen
»Find Your Wild«: Dass das Filmfest Oldenburg, das dieses Jahr unter diesem Motto stand, zahm werden könnte, steht vorerst nicht zu befürchten. Zumindest nicht, solange es Torsten Neumann leitet, der das Festival vor dreißig Jahren mitgegründet hat. Schon der diesjährige Festivaltrailer, angelehnt an Chris Markers berühmten Fotofilm La jetée, erzählt eine postapokalyptische Geschichte von der Entmündigung des Menschen im Zeitalter der KI – von ihm war hier schon vorige Woche die Rede – und zeugt vom Geist des Widerstands gegen den bald alles beherrschenden Mainstream. Bemerkenswert: Neumann hat ihn zusammen mit Mitgliedern seines Teams und der Erzählerinnenstimme von Amanda Plummer (auch dieses Jahr wieder zu Gast) selbst erstellt. Mustergültig war auch die Dominik Graf gewidmete Retrospektive, in der unter anderem der selten zu sehende Treffer von 1984 und der Director’s Cut von Die Sieger enthalten waren. In einer zweistündigen Masterclass berichtete Graf anschaulich von den Kämpfen um seine Art des Geschichtenerzählens: So geriet er in den letzten vierzig Jahren immer wieder zwischen die Lager von Kunst und Kommerz – die sich in Deutschland von jeher allzu feindlich gegenüberstehen.
Auch die Auswahl der aktuellen Filme spiegelte dieses beständige Suchen nach Alternativen zum Mainstream auf immer wieder erfrischende Weise wider. Da wird etwa Isild Le Besco, der im letzten Jahr ein Tribute gewidmet war, die Treue gehalten, auch wenn ihr neuer Film Ma famille chérie, der die Erkundung der dunkleren Seiten des Mikrokosmos Familie ihres letztjährigen Confines fortsetzt, wie jüngst in Locarno nicht ganz so gut ankommt. Da gibt es die deutschen Erstaufführungen von It’s Not Me, des neuen mittellangen Films von Leos Carax, oder von The Second Act des stets experimentierfreudigen Quentin Dupieux. Oder – wie berichtet – den wunderbar verspielten Marcello Mio von Christoph Honoré, der als Abschlussfilm gezeigt wurde.
Wer bereits dachte, dass Florian Frerichs' ins heutige Berlin verlegte Verfilmung von Schnitzlers »Traumnovelle« (Eröffnungsfilm) ein besonders mutiger Film ist, der hatte noch nicht den ebenfalls ohne nennenswerte Förderung entstandenen Berlin-Film Flieg Steil von Martina Schöne-Radunski und Lana Cooper gesehen, der denn auch verdientermaßen den Audacity-Award gewann. Eine Nazi-Rock-Musikerin (glaubwürdig: Ceci Chuh), die sich mit ihren ultra-feministischen Ansichten in einer faschistischen Untergrundszene logischerweise Feinde macht, aber sich nicht unterkriegen lassen will… Von den verschiedenen Möglichkeiten, ihre Geschichte aufzulösen, haben die Regie-Debütantinnen diejenige gewählt, mit der man am wenigsten beruhigt nach Hause gehen kann.
Ein in vielerlei Hinsicht typischer Oldenburg-Film ist James des kanadischen Regisseurs Max Train, Gewinner des German Independence Awards (Publikumspreis). Es ist die für sehr wenig Geld in Schwarzweiß gedrehte, ziemlich verrückte Geschichte eines jungen Mannes, der auf einer Müllhalde ein wertvolles Fahrrad findet, es verliert – und es schließlich wiederfindet. Mag man zunächst an Vittorio de Sicas Fahrraddiebe denken, ist das Ganze aber eher von frühen Jarmusch-Filmen inspiriert – aber mit dem Tempo von Scorseses After Hours. Ein kleine Indie-Perle, die man ohne dieses Festival womöglich nie zu sehen bekommen hätte.