Alle Facetten des Weltkinos |
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Eine der Festivalperlen Hamburgs: Stranger Eyes von Yeo Siew Hua aus Singapur | ||
(Foto: Akanga Film Asia) |
Von Eckhard Haschen
Die „ganze Kraft des Kinos“ hatte die neue Leiterin Malika Rabahallah, die nach über zwanzig Jahren Albert Wiederspiel nachfolgt, für ihre erste Ausgabe von Filmfest Hamburg versprochen und – angeführt von Sean Bakers Cannes-Gewinner Anora und Pedro Almodovars Venedig-Gewinner The Room Next Door gab es in der Tat viele beeindruckende Werke zu sehen.
Insgesamt wurden an zehn Tagen 124 Filme aus 55 Ländern gezeigt – am 3. Oktober sogar für alle Besucher kostenlos. An der bewährten Mischung aus Deutschland-Premieren von Filmen der großen Festivals, von denen viele in den nächsten Monaten regulär im Kino starten und Entdeckungen von kleineren Festivals wurde ebenso festgehalten wie an der weitgehend nach Sprachregionen eingeteilten Sektionen. Schon zum dritten Mal war das Molodist Kyiv International Filmfestival mit seinem nationalen Wettbewerb zu Gast. Die kleinen Sonderreihen „Gegenwartskino im Fokus“ waren diesmal Joshua Oppenheimer anlässlich seines ersten Spielfilms The End sowie Pia Marais anlässlich ihres neuesten Werks Transamazonia gewidmet. Mit Beiden gab es neben der Aufführung von jeweils zwei früheren Arbeiten höchst aufschlussreiche Werkstattgespräche. Gleich doppelt wurde in diesem Jahr der Douglas-Sirk-Preis vergeben, zum einen an Andrea Arnold, die ihren neuen Film Bird präsentierte und zum anderen an Jacques Audiard, der mit seiner neuesten Arbeit Emilia Pérez zu Gast war. Der Preis der Filmkritik ging dieses Jahr an Ramon Zürchers Der Spatz im Kamin. Über all diese Filme war hier schon – oder wird hier noch zu reden sein.
Besonders schön ist es immer wieder, Filme zu entdecken, die bisher entweder nur auf entlegeneren Festivals zu sehen waren oder auf größeren Festivals zu Unrecht wenig Beachtung fanden. Und die zumeist auch keinen Verleih finden. Allen voran ist hier Stranger Eyes von Yeo Siew Hua aus Singapur zu nennen, der für seinen vorigen Film A Land Imagined 2018 immerhin den Goldenen Leoparden in Locarno gewonnen hatte. Als Ausgangspunkt seiner erneuten vielschichtigen Reflexion über Identität und Wahrnehmung dient ihm diesmal eine Kindesentführung. Die jungen Eltern des Kindes stellen fest, dass sie schon länger von ihrem Nachbarn nicht nur beobachtet, sondern gefilmt wurden, und halten – wie auch der ermittelnde Polizist – diesen zunächst für den Täter. Fast zwangsläufig wird der junge Vater selbst zum Beobachter und Voyeur und entwickelt sich der Film auf den Spuren von Hitchcock, De Palma und Lynch zu einem immer faszinierenderen Mysterium. Ebenso erfrischend in der originellen Variation vertrauter Genre-Muster ist Cloud von Kioshi Kurosawa. Dessen Protagonist will eigentlich nur als selbständiger Online-Händler mehr Geld verdienen als im zermürbenden Angestellten-Verhältnis, gerät dann aber in eine geradezu kafkaeske Spirale aus Gewalt und Betrug. Die hier erst zum Ende hin aufblitzende, für Kurosawa sonst so typische Wildheit ist dem indischen Film Sister Midnight von den ersten Bildern an eigen. Mit welcher Vehemenz die Protagonistin von Karan Kandharis erstem Spielfilm hier aus der Ödnis einer arrangierten Ehe ausbricht, das traut man ihr nicht nur lange Zeit nicht zu, sondern muss es selbst gesehen haben, um es zu glauben.
Ebenso schön zu sehen ist, dass auch das europäische Kino noch zu originellen Genrevariationen fähig ist – wenn es sich auf einige Tugenden aus vergangenen Jahrzehnten besinnt. Mit der Langsamkeit eines Films aus den Siebzigern – was einige irritiert hat – kommt Visiting Hours von Patricia Mazuy daher. Isabelle Huppert und Hafsia Herzi sind darin als Ehefrauen ihren im Gefängnis sitzenden Männern treu ergeben – aber warum eigentlich, fragen sie sich nach und nach. Dass es möglich ist, selbst der romantischen Komödie noch einen originellen selbstreflexiven Dreh zu geben, beweist schließlich Jonás Truebas The Other Way Around, der von der einigermaßen verrückten Idee ausgeht, dass man nicht die Hochzeit, sondern die Trennung feiern sollte. Immerhin wird man dies im nächsten Frühling auch regulär im Kino bestaunen können.