10.10.2024

Alle Facetten des Weltkinos

Stranger Eyes
Eine der Festivalperlen Hamburgs: Stranger Eyes von Yeo Siew Hua aus Singapur
(Foto: Akanga Film Asia)

Beim 32. Filmfest Hamburg gab es viel zu entdecken. Dabei beeindruckten vor allem die Sonderreihen.

Von Eckhard Haschen

Die „ganze Kraft des Kinos“ hatte die neue Leiterin Malika Raba­hallah, die nach über zwanzig Jahren Albert Wieder­spiel nachfolgt, für ihre erste Ausgabe von Filmfest Hamburg verspro­chen und – angeführt von Sean Bakers Cannes-Gewinner Anora und Pedro Almo­do­vars Venedig-Gewinner The Room Next Door gab es in der Tat viele beein­dru­ckende Werke zu sehen.

Insgesamt wurden an zehn Tagen 124 Filme aus 55 Ländern gezeigt – am 3. Oktober sogar für alle Besucher kostenlos. An der bewährten Mischung aus Deutsch­land-Premieren von Filmen der großen Festivals, von denen viele in den nächsten Monaten regulär im Kino starten und Entde­ckungen von kleineren Festivals wurde ebenso fest­ge­halten wie an der weit­ge­hend nach Sprach­re­gionen einge­teilten Sektionen. Schon zum dritten Mal war das Molodist Kyiv Inter­na­tional Film­fes­tival mit seinem natio­nalen Wett­be­werb zu Gast. Die kleinen Sonder­reihen „Gegen­warts­kino im Fokus“ waren diesmal Joshua Oppen­heimer anläss­lich seines ersten Spiel­films The End sowie Pia Marais anläss­lich ihres neuesten Werks Tran­sama­zonia gewidmet. Mit Beiden gab es neben der Auffüh­rung von jeweils zwei früheren Arbeiten höchst aufschluss­reiche Werk­statt­ge­spräche. Gleich doppelt wurde in diesem Jahr der Douglas-Sirk-Preis vergeben, zum einen an Andrea Arnold, die ihren neuen Film Bird präsen­tierte und zum anderen an Jacques Audiard, der mit seiner neuesten Arbeit Emilia Pérez zu Gast war. Der Preis der Film­kritik ging dieses Jahr an Ramon Zürchers Der Spatz im Kamin. Über all diese Filme war hier schon – oder wird hier noch zu reden sein.

Besonders schön ist es immer wieder, Filme zu entdecken, die bisher entweder nur auf entle­ge­neren Festivals zu sehen waren oder auf größeren Festivals zu Unrecht wenig Beachtung fanden. Und die zumeist auch keinen Verleih finden. Allen voran ist hier Stranger Eyes von Yeo Siew Hua aus Singapur zu nennen, der für seinen vorigen Film A Land Imagined 2018 immerhin den Goldenen Leoparden in Locarno gewonnen hatte. Als Ausgangs­punkt seiner erneuten viel­schich­tigen Reflexion über Identität und Wahr­neh­mung dient ihm diesmal eine Kindes­ent­füh­rung. Die jungen Eltern des Kindes stellen fest, dass sie schon länger von ihrem Nachbarn nicht nur beob­achtet, sondern gefilmt wurden, und halten – wie auch der ermit­telnde Polizist – diesen zunächst für den Täter. Fast zwangs­läufig wird der junge Vater selbst zum Beob­achter und Voyeur und entwi­ckelt sich der Film auf den Spuren von Hitchcock, De Palma und Lynch zu einem immer faszi­nie­ren­deren Mysterium. Ebenso erfri­schend in der origi­nellen Variation vertrauter Genre-Muster ist Cloud von Kioshi Kurosawa. Dessen Prot­ago­nist will eigent­lich nur als selb­stän­diger Online-Händler mehr Geld verdienen als im zermür­benden Ange­stellten-Verhältnis, gerät dann aber in eine geradezu kafkaeske Spirale aus Gewalt und Betrug. Die hier erst zum Ende hin aufblit­zende, für Kurosawa sonst so typische Wildheit ist dem indischen Film Sister Midnight von den ersten Bildern an eigen. Mit welcher Vehemenz die Prot­ago­nistin von Karan Kandharis erstem Spielfilm hier aus der Ödnis einer arran­gierten Ehe ausbricht, das traut man ihr nicht nur lange Zeit nicht zu, sondern muss es selbst gesehen haben, um es zu glauben.

Ebenso schön zu sehen ist, dass auch das europäi­sche Kino noch zu origi­nellen Genre­va­ria­tionen fähig ist – wenn es sich auf einige Tugenden aus vergan­genen Jahr­zehnten besinnt. Mit der Lang­sam­keit eines Films aus den Sieb­zi­gern – was einige irritiert hat – kommt Visiting Hours von Patricia Mazuy daher. Isabelle Huppert und Hafsia Herzi sind darin als Ehefrauen ihren im Gefängnis sitzenden Männern treu ergeben – aber warum eigent­lich, fragen sie sich nach und nach. Dass es möglich ist, selbst der roman­ti­schen Komödie noch einen origi­nellen selbst­re­fle­xiven Dreh zu geben, beweist schließ­lich Jonás Truebas The Other Way Around, der von der eini­ger­maßen verrückten Idee ausgeht, dass man nicht die Hochzeit, sondern die Trennung feiern sollte. Immerhin wird man dies im nächsten Frühling auch regulär im Kino bestaunen können.