10.10.2024

Geschichten für junge Menschen – anders erzählt

Uproar
Uproar von Paul Middleditch und Hamish Bennett aus dem Jugendfilmwettbewerb
(Foto: Schlingel)

Das 29. Internationale Festival für Kinder und junges Publikum in Chemnitz

Von Holger Twele

Was im Kino gut ankommt, wird gerne wieder­holt oder nur leicht variiert. Der zuneh­mende Einsatz von KI beim Dreh­buch­schreiben wird diesen Trend vermut­lich noch vers­tärken. Zum Glück gibt es immer wieder Film­schaf­fende, die den Mut aufbringen, ihre Geschichten zumindest in Teilen etwas anders zu erzählen, gerade auch für ein junges Publikum. Eine Reihe von sehens­werten Beispielen – ohne Anspruch auf Volls­tän­dig­keit – lieferte das 29. Schlingel-Festival in Chemnitz, wobei das nicht immer gleich Meis­ter­werke sein müssen. Aber sie geben wertvolle Anre­gungen und sorgen für größere Vielfalt.

Seit etlichen Jahren sind die inter­na­tio­nalen Spiel­film­wett­be­werbe des Festivals in drei Sektionen unter­teilt, in Filme für die Jüngsten bis zu 10 Jahren, in Junior­filme bis zu einem empfoh­lenen Alter von 13 Jahren und in Jugend­filme ab 14 Jahren. Diese Auftei­lung, die übrigens den Alters­frei­gaben der FSK komplett zuwi­der­läuft, ist sinnvoll und wird auch vom Publikum geschätzt und gut ange­nommen. Der Artikel folgt dieser Struktur unab­hängig davon, ob die Filme eine Chance haben, später in Deutsch­land einen Kinostart zu erleben oder ob sie einen der zahl­rei­chen Preise von den gut zehn Jurys erhalten haben.

Kinder­film­wett­be­werb

Victoria Må Dø / Victoria Muss Weg (Norwegen, R: Gunnbjörg Gunn­ars­dottir) ist ein Kinder­film, der in Deutsch­land wohl keine Förder­mittel erhalten hätte und nicht nur aufgrund des freien Umgangs mit Schuss­waffen proble­ma­tisch ist. Auch der Plot selbst ist gewöh­nungs­be­dürftig. Denn die Geschwister Hendrik und Hedvig haben die Nase voll von den ständigen Regeln und Verboten der neuen Frau ihres Vaters. So kommen sie auf die Idee, die verhasste Stief­mutter zu besei­tigen und einen Auftrags­killer zu enga­gieren, nachdem erste Versuche, sie mit Kirsch­kernen zu vergiften, kläglich geschei­tert sind. Dass ein solcher Film kein reines Happyend haben kann, das Kinder von einem Film für ihre Alters­gruppe eigent­lich erwarten, liegt auf der Hand. Auch die Botschaft, dass man Stief­mütter nicht umbringen darf, ist eindeutig. Was den Film dennoch sehens­wert macht, ist der unver­blümte und sogar unter­halt­same Umgang mit dieser heiklen Thematik. Denn die Frage nach Gut und Böse, die auch in vielen Märchen­filmen nicht gerade zimper­lich zur Diskus­sion gestellt wird, ist hier einmal aus einer völlig unge­wohnten Perspek­tive erzählt. Zugleich greift der Film gesell­schaft­liche Klischees und Vorur­teile auf, wie mit dem Auftrags­killer, der in der medial geprägten Vorstel­lungs­welt der Kinder nur aus dem Balkan stammen kann, und führt sie genüss­lich ad absurdum.
Seltsame Fami­li­en­kon­stel­la­tionen bilden auch die Grund­struktur von Bookworm / Bücher­wurm (Neusee­land, R: Ant Timpson). Die Vater-Tochter-Geschichte spielt inmitten der unberührten und grandios ins Bild gerückten Natur des Landes. Die elfjäh­rige Mildred als Haupt­figur ist alles andere als durch­schnitt­lich. Nahezu ihr gesamtes Wissen, das dem eines erwach­senen Studie­renden entspricht, hat Mildred aus Büchern gelernt. Aber kann ein solches Wissen auch der Realität stand­halten? Als die Mutter durch einen Unfall im Koma liegt, taucht plötzlich der Vater von Mildred auf, ein Zauber­künstler, der die Familie kurz nach der Geburt der Tochter verlassen hatte. Nun steht er vor ihrer Tür und möchte sich um sie kümmern, was diese ihm nicht abnimmt. Da sie aber davon träumt, den mit einem hohen Preisgeld bedachten Beweis für die Existenz des schwarzen Canter­bury-Panthers erbringen zu können, um die Schulden der Mutter zu tilgen, überredet sie den fremden Vater zu einem Camping­aus­flug in die Berge. Der willigt leicht­fertig ein und muss schnell fest­stellen, dass ihm die Tochter zumindest an ange­le­sener Erfahrung weit überlegen ist. Die vorsich­tige Annähe­rung zwischen Vater und Tochter findet ein vorläu­figes Ende durch die Begegnung mit bösen Menschen, wobei sich der Vater als Hasenfuß erweist. Aber das ist zum Glück nicht das Ende dieser etwas unglaub­wür­digen und dennoch sehr berüh­renden und faszi­nie­renden Geschichte.
An den krachenden grellen Humor von Super­krachten Voor Je Hoofd / Super­kräfte Mit Köpfchen (Nieder­lande, R: Dylan Haegens) muss man sich viel­leicht erst gewöhnen. Der nach einem miss­glückten Sprung gehbe­hin­derte Lev möchte bei einer Super­helden-Messe endlich sein Idol Helix kennen­lernen, der die Menschen von ihren Krank­heiten heilen kann. Die über-fürsorg­li­chen Eltern sind strikt dagegen, die rebel­li­sche Groß­mutter dagegen unter­s­tützt ihren Enkel nach Kräften, die sich jedoch als sehr begrenzt erweisen. Das über­zo­gene Vexier­spiel um echte und vermeint­liche Super­kräfte kann der Realität am Ende nicht stand­halten und am Ende muss sich Lev entscheiden, ob er lieber weiter in einer Traumwelt leben möchte oder bereit ist, sich seinen Ängsten zu stellen.
Miss Boots / Miss Pantoffel (Kanada, R: Jan Lanuette Turgeon) beruht auf dem Film­klas­siker BACH UND BROCCOLI von André Melançon und dem legen­dären Kinder­film­pro­du­zenten Rock Demers aus dem Jahr 1986. Daher ist diese Geschichte über ein tier­lie­bendes Waisen­mäd­chen, das ein Stinktier zum besten Freund hat und von der Fürsorge vorü­ber­ge­hend bei ihrem davon wenig erfreuten Onkel unter­ge­bracht wird, nicht neu und zum Teil vorher­sehbar. Was den Film dennoch sehens­wert macht, sind die kleine resolute Haupt­dar­stel­lerin Margue­rite Laurence, die mit dem Preis als beste Kinder­dar­stel­lerin ausge­zeichnet wurde, sowie die Figu­ren­zeich­nung des Onkels, in diesem Fall einem Kompo­nisten für Opern, der nach einem Schick­sals­schlag schwer an sozialer Phobie erkrankt ist und sich kaum noch aus dem Haus traut.
An ein filmi­sches Vorbild erinnert auch Yasmeen‘S Element / Yasmins Element (Pakistan, USA, R: Amman Abbasi), selbst falls das nicht beab­sich­tigt gewesen sein sollte. Ähnlich wie in dem Film­klas­siker Wo ist das Haus meines Freundes? (Iran 1987, R: Abbas Kiaros­tami) versucht sich die zwölf­jäh­rige Yasmin gegenüber einer abwei­senden Männer-Welt zu behaupten. Sie geht in Pakistan in eine Schule ausschließ­lich für Mädchen. Weil sie vergessen hat, auf welches Element im Peri­oden­system sie sich auf eine Prüfung am kommenden Tag vorbe­reiten soll, macht sie sich auf den beschwer­li­chen Weg, um ihren Lehrer zu finden. Im Unter­schied zum irani­schen Film wirken die Männer nicht ganz so abweisend. Sie verhalten sich freund­lich und zuvor­kom­mend, sind am Ende jedoch ausschließ­lich auf ihren Vorteil bedacht und denken nicht wirklich daran, Yasmin zu helfen. Am Ende eines langen Tages findet sie endlich den Lehrer, der sich ihrer annimmt, obwohl er gezwungen wurde, seine Wohnung am Folgetag zu räumen, ihr aber eine wesent­liche Infor­ma­tion voren­thält. Denn am nächsten Morgen wird die Mädchen­schule von radikal-isla­mi­schen Wach­män­nern auf Dauer geschlossen. Warum genau, ist im Film nicht zu erfahren. Für Kinder mag das unbe­frie­di­gend sein, aber viel­leicht haben sie wenigs­tens schon mal davon gehört, wie es derzeit Mädchen und Frauen in Afgha­ni­stan ergeht.
Ob diese unge­wöhn­li­chen Filme auch beim jungen Publikum gut ankommen, steht auf einem anderen Blatt. Sowohl die deutsche Kinder­jury als auch die Europäi­sche Kinder­jury hat sich bei ihren Preisen für den polni­schen Film Lampo, the traveling dog / lampo – ein vier­beiner auf reisen von Magdalena Nieć entschieden. Darin geht es um ein herz­krankes Mädchen, das dringend eine für die Eltern unbe­zahl­bare Operation in den USA benötigt, und ihrer Freund­schaft zu einem weißen Schä­fer­hund. Drama­ti­sches Herz­klopfen gepaart mit der Treue eines klugen Hundes war schon zu LASSIES Zeiten äußerst populär. Neu ist immerhin, dass der in einem Zug geborene Hund inzwi­schen gelernt hat, große Entfer­nungen pünktlich mit einem natürlich polni­schen (und nicht etwa deutschen) Zug hinter sich zu bringen.

Junior­film­wett­be­werb

Zwei Filme in dieser Sektion fangen zwar konven­tio­nell an, führen dann aber zu über­ra­schenden Wendungen und Perspek­tiven. Nicht zuletzt dank der Auszeich­nungen für beide Filme rückt eine spätere Kino­aus­wer­tung in Deutsch­land durchaus in den Bereich des Möglichen.
Hajjan (Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien, R: Abu Bakr Shawky) beschwört zu Beginn eine von Männern domi­nierte Gesell­schaft, in der Kamele und Kamel-Wettrennen den Wert und das Ansehen eines Mannes hervor­heben. Frauen scheinen nur eine unter­ge­ord­nete Rolle zu spielen, was aus west­eu­ropäi­scher Sicht ziemlich lang­weilig und überholt wirkt. Im Mittel­punkt steht der junge Mattar, der mit seinem Kamel Hofira als Jockey zwar gerne an solchen Kamel­rennen teil­nehmen würde, aber weiß, dass er gegen die Besitzer der großen Gestüte kaum eine Chance hat. Insbe­son­dere nicht gegen den gierigen Gestüts­leiter Jasser, der für den Tod von Mattars älterem Bruder Ghanim bei einem Rennen verant­wort­lich ist, der mit Kamelen nur wenig am Hut hat und nur auf seinen eigenen Ruhm bedacht ist. Über mehrere retar­die­rende Momente hinweg muss Mattar sich bewähren, wobei ihm von weib­li­cher Seite uner­war­tete Hilfe zukommt, die aus dem span­nenden Film für ein männ­li­ches Publikum fast schon ein unter­halt­sames femi­nis­ti­sches Manifest werden lässt.
Auch Robin And The Hoods (Groß­bri­tan­nien, R: Phil Hawkins) führt das Publikum zunächst ganz bewusst in die Irre. Kinder mit Ritter­rüs­tung auf Pferden oder mit Schwer­tern bewaffnet, kämpfen nach dem filmi­schen Vorbild Robin Hood um die Vorherr­schaft inmitten eines Wald­ge­bietes. Erst nach einigen Minuten entpuppt sich die gleiche Szene als Rollen­spiel von ganz normal ange­zo­genen Kindern, in deren Fantasie die mittel­al­ter­liche Vergan­gen­heit lediglich beschworen wird, die Pferde sich zurück­ver­wan­deln in Fahrräder und die Schwerter in Pfeile mit Gumminäpf­chen und Bogen. Angeführt werden die Hoods von der elfjäh­rigen Robin, die ganz in ihrer Fanta­sie­welt verhaftet ist. Kaum zu Hause, schlägt die Realität uner­bitt­lich zu. Denn der Wald am Ende der Straße soll einem völlig über­zo­genen Baupro­jekt weichen und eine skru­pel­lose Maklerin setzt alles daran, um den Eigen­tü­mern Honig ums Maul zu schmieren. Um ihren Wald und den Spiel­platz zu retten, der auch ein Rück­zugs­ge­biet für seltene Arten ist, setzen die Hoods unter Robins Führung alles aufs Spiel und sind sogar dazu bereit, sich mit den gegne­ri­schen „Rittern“ und einer im Wald lebenden „Hexe“ zu verbünden. Schnell wird aus dem unschul­digen Ritter­spiel ein ökolo­gi­scher Thriller, der gekonnt weiterhin zwischen Realität und Fiktion oszil­liert, was den beson­deren Reiz dieses Aben­teu­er­films ausmacht.

Jugend­film­wett­be­werb

Der Film Uproar (Neusee­land, R: Paul Midd­leditch, Hamish Bennett) blendet zurück in das Jahr 1981, als Neusee­land wegen der Tour der südafri­ka­ni­schen Rugby-Natio­nal­mann­schaft Spring­boks in Aufruhr geriet und große Teile der Bevöl­ke­rung auf die Straße gingen, um gegen die rassis­ti­sche Apart­heid­po­litik in Südafrika zu protes­tieren. Der 17-jährige Außen­seiter Josh, der mit seiner aus England stam­menden Mutter und dem älteren, nach einem Unfall gehan­di­capten Bruder zusam­men­lebt, möchte dagegen um keinen Preis auffallen. Eher wider­willig spielt er auf Betreiben der Mutter trotz seiner Kurz­sich­tig­keit und Körper­fülle in der ange­se­henen Rugby-Mann­schaft der Schule mit. Diese ist ganz auf britische Tradi­tionen bedacht. Sie duldet in ihren Mauern keinerlei Aufruhr und beachtet die ethnische Minder­heit im Land kaum. Das zurück­ge­zo­gene Leben für Josh ändert sich, als er plötzlich seine Leiden­schaft für die Schau­spie­lerei entdeckt. Er beginnt, sich gegen die Unge­rech­tig­keiten und rassis­ti­schen Vorur­teile in seinem Lebens­um­feld zu wehren und doku­men­tiert mit einer Kamera die Demons­tra­tionen und das harte Vorgehen der Polizei. Zugleich begibt er sich auf die Suche nach seinen Wurzeln als Māori und seiner Identität. Geschickt verbindet der Film eine Coming-of-Age-Geschichte mit den gesell­schaft­li­chen Ereig­nissen jener Zeit, die hier­zu­lande zwar kaum bekannt sein dürften, gleich­wohl eine Brücke in die poli­ti­sche Gegenwart schlagen können.
Die 17-jährige Simone leidet schwer unter ihrer Körper­fülle und ihrem Selbst­wert­ge­fühl. Sie fühlt sich ungeliebt und kaum beachtet. Das ändert sich schlag­artig, als sie über Instagram einen afri­ka­ni­schen Buch­halter aus Ghana kennen­lernt. Sie lädt den jungen Mann, dessen wahre Absichten nicht wirklich klar werden, gegen den Wider­stand ihrer Eltern ein. Eine kleine Erpres­sung kommt ihr dabei zu Hilfe. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlt sie sich so akzep­tiert wie sie ist und sogar geliebt. Mr. Freeman (Dänemark, R: Mads Matthiesen) gelingt es, diese Ambi­va­lenz zwischen Anziehung und Ausnut­zung, echter und vorge­täuschter Liebe nach­voll­ziehbar zu machen und zur Diskus­sion zu stellen, ohne in billige Vorur­teile abzu­gleiten.
Während dieser Film noch vergleichs­weise positiv ausgeht, gibt es bei #Annais­missing (Tsche­chi­sche Republik, Slowakei, R: Pavel Soukup) nur noch Verlierer, denn aus Opfern können Täter werden und am Ende der Geschichte sind mindes­tens zwei Familien zerstört. Dieser Film lief zwar in der Sektion Panorama, darf an dieser Stelle aber nicht unerwähnt bleiben zumal er sich wie der dänische Film ebenfalls kritisch mit den Chancen und Gefahren der Social Media ausein­an­der­setzt. Als die 15-jährige Nina auf dem Handy ihres geliebten Vaters, einem ange­se­henen Anwalt, frei­zü­gige Fotos einer Minder­jäh­rigen entdeckt, ist sie geschockt. Sie recher­chiert und findet heraus, dass die Fotos von der Influen­cerin Anna in ihrem Alter stammen, die sich im Internet in verfäng­li­chen Posen präsen­tierte und zugleich Anzeige erstat­tete gegen die Männer, die diese Fotos herun­ter­ge­laden haben. Seit einigen Tagen ist Anna spurlos verschwunden. Nina gelingt es, den letzten Aufent­haltsort von Anna in Erfahrung zu bringen, an dem auch ihr Vater gewesen sein muss. Die ganze Wahrheit in ihren viel­schich­tigen Facetten wird aller­dings erst später im Film sichtbar. Ein zutiefst vers­tö­render Film, der versucht, alle Sicht­weisen und Perspek­tiven der betei­ligten Personen zu berück­sich­tigen. Und obwohl bis zuletzt Nina und andere Frauen die Haupt­fi­guren und Leid­tra­genden sind, bleibt die Perspek­tive der Männer nicht unberück­sich­tigt, wobei sie dabei viel­leicht etwas zu gut davon­kommen.