Geschichten für junge Menschen – anders erzählt |
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Uproar von Paul Middleditch und Hamish Bennett aus dem Jugendfilmwettbewerb | ||
(Foto: Schlingel) |
Von Holger Twele
Was im Kino gut ankommt, wird gerne wiederholt oder nur leicht variiert. Der zunehmende Einsatz von KI beim Drehbuchschreiben wird diesen Trend vermutlich noch verstärken. Zum Glück gibt es immer wieder Filmschaffende, die den Mut aufbringen, ihre Geschichten zumindest in Teilen etwas anders zu erzählen, gerade auch für ein junges Publikum. Eine Reihe von sehenswerten Beispielen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – lieferte das 29. Schlingel-Festival in Chemnitz, wobei das nicht immer gleich Meisterwerke sein müssen. Aber sie geben wertvolle Anregungen und sorgen für größere Vielfalt.
Seit etlichen Jahren sind die internationalen Spielfilmwettbewerbe des Festivals in drei Sektionen unterteilt, in Filme für die Jüngsten bis zu 10 Jahren, in Juniorfilme bis zu einem empfohlenen Alter von 13 Jahren und in Jugendfilme ab 14 Jahren. Diese Aufteilung, die übrigens den Altersfreigaben der FSK komplett zuwiderläuft, ist sinnvoll und wird auch vom Publikum geschätzt und gut angenommen. Der Artikel folgt dieser Struktur unabhängig davon, ob die Filme eine Chance haben, später in Deutschland einen Kinostart zu erleben oder ob sie einen der zahlreichen Preise von den gut zehn Jurys erhalten haben.
Victoria Må Dø / Victoria Muss Weg (Norwegen, R: Gunnbjörg Gunnarsdottir) ist ein Kinderfilm, der in Deutschland wohl keine Fördermittel erhalten hätte und nicht nur aufgrund des freien Umgangs mit Schusswaffen problematisch ist. Auch der Plot selbst ist gewöhnungsbedürftig. Denn die Geschwister Hendrik und Hedvig haben die Nase voll von den ständigen Regeln und Verboten der neuen Frau ihres Vaters. So kommen sie auf die Idee, die verhasste Stiefmutter zu
beseitigen und einen Auftragskiller zu engagieren, nachdem erste Versuche, sie mit Kirschkernen zu vergiften, kläglich gescheitert sind. Dass ein solcher Film kein reines Happyend haben kann, das Kinder von einem Film für ihre Altersgruppe eigentlich erwarten, liegt auf der Hand. Auch die Botschaft, dass man Stiefmütter nicht umbringen darf, ist eindeutig. Was den Film dennoch sehenswert macht, ist der unverblümte und sogar unterhaltsame Umgang mit dieser heiklen Thematik. Denn die
Frage nach Gut und Böse, die auch in vielen Märchenfilmen nicht gerade zimperlich zur Diskussion gestellt wird, ist hier einmal aus einer völlig ungewohnten Perspektive erzählt. Zugleich greift der Film gesellschaftliche Klischees und Vorurteile auf, wie mit dem Auftragskiller, der in der medial geprägten Vorstellungswelt der Kinder nur aus dem Balkan stammen kann, und führt sie genüsslich ad absurdum.
Seltsame Familienkonstellationen bilden auch die Grundstruktur von
Bookworm / Bücherwurm (Neuseeland, R: Ant Timpson). Die Vater-Tochter-Geschichte spielt inmitten der unberührten und grandios ins Bild gerückten Natur des Landes. Die elfjährige Mildred als Hauptfigur ist alles andere als durchschnittlich. Nahezu ihr gesamtes Wissen, das dem eines erwachsenen Studierenden entspricht, hat Mildred aus Büchern gelernt. Aber kann ein solches Wissen auch der Realität standhalten? Als die Mutter durch einen Unfall im Koma liegt,
taucht plötzlich der Vater von Mildred auf, ein Zauberkünstler, der die Familie kurz nach der Geburt der Tochter verlassen hatte. Nun steht er vor ihrer Tür und möchte sich um sie kümmern, was diese ihm nicht abnimmt. Da sie aber davon träumt, den mit einem hohen Preisgeld bedachten Beweis für die Existenz des schwarzen Canterbury-Panthers erbringen zu können, um die Schulden der Mutter zu tilgen, überredet sie den fremden Vater zu einem Campingausflug in die Berge. Der willigt
leichtfertig ein und muss schnell feststellen, dass ihm die Tochter zumindest an angelesener Erfahrung weit überlegen ist. Die vorsichtige Annäherung zwischen Vater und Tochter findet ein vorläufiges Ende durch die Begegnung mit bösen Menschen, wobei sich der Vater als Hasenfuß erweist. Aber das ist zum Glück nicht das Ende dieser etwas unglaubwürdigen und dennoch sehr berührenden und faszinierenden Geschichte.
An den krachenden grellen Humor von Superkrachten
Voor Je Hoofd / Superkräfte Mit Köpfchen (Niederlande, R: Dylan Haegens) muss man sich vielleicht erst gewöhnen. Der nach einem missglückten Sprung gehbehinderte Lev möchte bei einer Superhelden-Messe endlich sein Idol Helix kennenlernen, der die Menschen von ihren Krankheiten heilen kann. Die über-fürsorglichen Eltern sind strikt dagegen, die rebellische Großmutter dagegen unterstützt ihren Enkel nach Kräften, die sich jedoch als sehr begrenzt erweisen. Das
überzogene Vexierspiel um echte und vermeintliche Superkräfte kann der Realität am Ende nicht standhalten und am Ende muss sich Lev entscheiden, ob er lieber weiter in einer Traumwelt leben möchte oder bereit ist, sich seinen Ängsten zu stellen.
Miss Boots / Miss Pantoffel (Kanada, R: Jan Lanuette Turgeon) beruht auf dem Filmklassiker BACH UND BROCCOLI
von André Melançon und dem legendären Kinderfilmproduzenten Rock Demers aus dem Jahr 1986. Daher ist diese Geschichte über ein tierliebendes Waisenmädchen, das ein Stinktier zum besten Freund hat und von der Fürsorge vorübergehend bei ihrem davon wenig erfreuten Onkel untergebracht wird, nicht neu und zum Teil vorhersehbar. Was den Film dennoch sehenswert macht, sind die kleine resolute Hauptdarstellerin Marguerite Laurence, die mit dem Preis als beste Kinderdarstellerin
ausgezeichnet wurde, sowie die Figurenzeichnung des Onkels, in diesem Fall einem Komponisten für Opern, der nach einem Schicksalsschlag schwer an sozialer Phobie erkrankt ist und sich kaum noch aus dem Haus traut.
An ein filmisches Vorbild erinnert auch Yasmeen‘S Element / Yasmins Element (Pakistan, USA, R: Amman Abbasi), selbst falls das nicht beabsichtigt gewesen sein sollte. Ähnlich wie in dem Filmklassiker Wo ist das Haus meines Freundes? (Iran 1987, R: Abbas Kiarostami) versucht sich die zwölfjährige Yasmin gegenüber einer abweisenden Männer-Welt zu behaupten. Sie geht in Pakistan in eine Schule ausschließlich für Mädchen. Weil sie vergessen hat, auf welches Element im Periodensystem sie sich auf eine Prüfung am kommenden Tag vorbereiten soll, macht sie sich auf den beschwerlichen Weg, um ihren
Lehrer zu finden. Im Unterschied zum iranischen Film wirken die Männer nicht ganz so abweisend. Sie verhalten sich freundlich und zuvorkommend, sind am Ende jedoch ausschließlich auf ihren Vorteil bedacht und denken nicht wirklich daran, Yasmin zu helfen. Am Ende eines langen Tages findet sie endlich den Lehrer, der sich ihrer annimmt, obwohl er gezwungen wurde, seine Wohnung am Folgetag zu räumen, ihr aber eine wesentliche Information vorenthält. Denn am nächsten Morgen wird die
Mädchenschule von radikal-islamischen Wachmännern auf Dauer geschlossen. Warum genau, ist im Film nicht zu erfahren. Für Kinder mag das unbefriedigend sein, aber vielleicht haben sie wenigstens schon mal davon gehört, wie es derzeit Mädchen und Frauen in Afghanistan ergeht.
Ob diese ungewöhnlichen Filme auch beim jungen Publikum gut ankommen, steht auf einem anderen Blatt. Sowohl die deutsche Kinderjury als auch die Europäische Kinderjury hat sich bei ihren Preisen für den
polnischen Film Lampo, the traveling dog / lampo – ein vierbeiner auf reisen von Magdalena Nieć entschieden. Darin geht es um ein herzkrankes Mädchen, das dringend eine für die Eltern unbezahlbare Operation in den USA benötigt, und ihrer Freundschaft zu einem weißen Schäferhund. Dramatisches Herzklopfen gepaart mit der Treue eines klugen Hundes war schon zu LASSIES Zeiten äußerst populär. Neu ist immerhin, dass der in einem Zug geborene Hund inzwischen gelernt hat, große Entfernungen pünktlich mit einem natürlich polnischen (und nicht etwa deutschen) Zug hinter sich zu bringen.
Zwei Filme in dieser Sektion fangen zwar konventionell an, führen dann aber zu überraschenden Wendungen und Perspektiven. Nicht zuletzt dank der Auszeichnungen für beide Filme rückt eine spätere Kinoauswertung in Deutschland durchaus in den Bereich des Möglichen.
Hajjan (Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien, R: Abu Bakr Shawky) beschwört zu Beginn eine von Männern dominierte Gesellschaft, in der Kamele und Kamel-Wettrennen den Wert und das Ansehen eines
Mannes hervorheben. Frauen scheinen nur eine untergeordnete Rolle zu spielen, was aus westeuropäischer Sicht ziemlich langweilig und überholt wirkt. Im Mittelpunkt steht der junge Mattar, der mit seinem Kamel Hofira als Jockey zwar gerne an solchen Kamelrennen teilnehmen würde, aber weiß, dass er gegen die Besitzer der großen Gestüte kaum eine Chance hat. Insbesondere nicht gegen den gierigen Gestütsleiter Jasser, der für den Tod von Mattars älterem Bruder Ghanim bei einem Rennen
verantwortlich ist, der mit Kamelen nur wenig am Hut hat und nur auf seinen eigenen Ruhm bedacht ist. Über mehrere retardierende Momente hinweg muss Mattar sich bewähren, wobei ihm von weiblicher Seite unerwartete Hilfe zukommt, die aus dem spannenden Film für ein männliches Publikum fast schon ein unterhaltsames feministisches Manifest werden lässt.
Auch Robin And The Hoods (Großbritannien, R: Phil Hawkins) führt das Publikum zunächst ganz bewusst
in die Irre. Kinder mit Ritterrüstung auf Pferden oder mit Schwertern bewaffnet, kämpfen nach dem filmischen Vorbild Robin Hood um die Vorherrschaft inmitten eines Waldgebietes. Erst nach einigen Minuten entpuppt sich die gleiche Szene als Rollenspiel von ganz normal angezogenen Kindern, in deren Fantasie die mittelalterliche Vergangenheit lediglich beschworen wird, die Pferde sich zurückverwandeln in Fahrräder und die Schwerter in Pfeile mit Gumminäpfchen und Bogen.
Angeführt werden die Hoods von der elfjährigen Robin, die ganz in ihrer Fantasiewelt verhaftet ist. Kaum zu Hause, schlägt die Realität unerbittlich zu. Denn der Wald am Ende der Straße soll einem völlig überzogenen Bauprojekt weichen und eine skrupellose Maklerin setzt alles daran, um den Eigentümern Honig ums Maul zu schmieren. Um ihren Wald und den Spielplatz zu retten, der auch ein Rückzugsgebiet für seltene Arten ist, setzen die Hoods unter Robins Führung alles aufs Spiel
und sind sogar dazu bereit, sich mit den gegnerischen „Rittern“ und einer im Wald lebenden „Hexe“ zu verbünden. Schnell wird aus dem unschuldigen Ritterspiel ein ökologischer Thriller, der gekonnt weiterhin zwischen Realität und Fiktion oszilliert, was den besonderen Reiz dieses Abenteuerfilms ausmacht.
Der Film Uproar (Neuseeland, R: Paul Middleditch, Hamish Bennett) blendet zurück in das Jahr 1981, als Neuseeland wegen der Tour der südafrikanischen Rugby-Nationalmannschaft Springboks in Aufruhr geriet und große Teile der Bevölkerung auf die Straße gingen, um gegen die rassistische Apartheidpolitik in Südafrika zu protestieren. Der 17-jährige Außenseiter Josh, der mit seiner aus England stammenden Mutter und dem älteren, nach einem Unfall
gehandicapten Bruder zusammenlebt, möchte dagegen um keinen Preis auffallen. Eher widerwillig spielt er auf Betreiben der Mutter trotz seiner Kurzsichtigkeit und Körperfülle in der angesehenen Rugby-Mannschaft der Schule mit. Diese ist ganz auf britische Traditionen bedacht. Sie duldet in ihren Mauern keinerlei Aufruhr und beachtet die ethnische Minderheit im Land kaum. Das zurückgezogene Leben für Josh ändert sich, als er plötzlich seine Leidenschaft für die Schauspielerei
entdeckt. Er beginnt, sich gegen die Ungerechtigkeiten und rassistischen Vorurteile in seinem Lebensumfeld zu wehren und dokumentiert mit einer Kamera die Demonstrationen und das harte Vorgehen der Polizei. Zugleich begibt er sich auf die Suche nach seinen Wurzeln als Māori und seiner Identität. Geschickt verbindet der Film eine Coming-of-Age-Geschichte mit den gesellschaftlichen Ereignissen jener Zeit, die hierzulande zwar kaum bekannt sein dürften, gleichwohl eine
Brücke in die politische Gegenwart schlagen können.
Die 17-jährige Simone leidet schwer unter ihrer Körperfülle und ihrem Selbstwertgefühl. Sie fühlt sich ungeliebt und kaum beachtet. Das ändert sich schlagartig, als sie über Instagram einen afrikanischen Buchhalter aus Ghana kennenlernt. Sie lädt den jungen Mann, dessen wahre Absichten nicht wirklich klar werden, gegen den Widerstand ihrer Eltern ein. Eine kleine Erpressung kommt ihr dabei zu Hilfe. Zum ersten Mal in ihrem
Leben fühlt sie sich so akzeptiert wie sie ist und sogar geliebt. Mr. Freeman (Dänemark, R: Mads Matthiesen) gelingt es, diese Ambivalenz zwischen Anziehung und Ausnutzung, echter und vorgetäuschter Liebe nachvollziehbar zu machen und zur Diskussion zu stellen, ohne in billige Vorurteile abzugleiten.
Während dieser Film noch vergleichsweise positiv ausgeht, gibt es bei #Annaismissing (Tschechische Republik, Slowakei, R: Pavel
Soukup) nur noch Verlierer, denn aus Opfern können Täter werden und am Ende der Geschichte sind mindestens zwei Familien zerstört. Dieser Film lief zwar in der Sektion Panorama, darf an dieser Stelle aber nicht unerwähnt bleiben zumal er sich wie der dänische Film ebenfalls kritisch mit den Chancen und Gefahren der Social Media auseinandersetzt. Als die 15-jährige Nina auf dem Handy ihres geliebten Vaters, einem angesehenen Anwalt, freizügige Fotos einer Minderjährigen entdeckt, ist
sie geschockt. Sie recherchiert und findet heraus, dass die Fotos von der Influencerin Anna in ihrem Alter stammen, die sich im Internet in verfänglichen Posen präsentierte und zugleich Anzeige erstattete gegen die Männer, die diese Fotos heruntergeladen haben. Seit einigen Tagen ist Anna spurlos verschwunden. Nina gelingt es, den letzten Aufenthaltsort von Anna in Erfahrung zu bringen, an dem auch ihr Vater gewesen sein muss. Die ganze Wahrheit in ihren vielschichtigen Facetten
wird allerdings erst später im Film sichtbar. Ein zutiefst verstörender Film, der versucht, alle Sichtweisen und Perspektiven der beteiligten Personen zu berücksichtigen. Und obwohl bis zuletzt Nina und andere Frauen die Hauptfiguren und Leidtragenden sind, bleibt die Perspektive der Männer nicht unberücksichtigt, wobei sie dabei vielleicht etwas zu gut davonkommen.