Der Mann, der das Kino liebte |
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Jean Charles Tacchella (1925-1924): Ehrenpräsident des Kinos | ||
(Foto: Cinémathèque française) |
Von Peter Kremski
Wie seine Filmemacher-Kollegen Rohmer, Godard, Truffaut, Chabrol und Rivette begann auch Jean Charles Tacchella seine Filmkarriere als Filmkritiker, aber nicht wie sie in den 1950er Jahren bei den »Cahiers du cinéma«, sondern schon in den 1940er Jahren, gleich nach dem Krieg, bei »L’Écran français«, mit Kritikerkollegen wie André Bazin und Roger Thérond. Ende der 1940er Jahre war er zusammen mit André Bazin, Jacques Doniol-Valcroze, Alexandre Astruc und Jean Cocteau auch Mitbegründer des Avantgarde-Filmclubs Objectif 49, der als Keimzelle der Nouvelle Vague verstanden wird. Als die »Cahiers du cinéma«, gegründet von Bazin und Doniol-Valcroze, 1951 zum ersten Mal erschienen, stand »L’Écran français« schon kurz vor der Einstellung, und so geschah es, dass die eine Filmzeitschrift die andere ablöste.
Zu dieser Zeit, in den frühen 1950er Jahren versuchte Tacchella bereits, den Weg zum Filmemachen zu finden, indem er erst einmal damit begann, Drehbücher für andere Regisseure zu schreiben. Als seine Kritiker-Kollegen von den »Cahiers« dann Ende der 1950er Jahre als Filmregisseure debütierten und damit eine Neue Welle im Französischen Film begründeten, hatte sich Tacchella zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen als Drehbuchautor gemacht. Er hätte gedacht, dass mit der Nouvelle Vague, der er sich nicht nur generationsmäßig zugehörig fühlte, jetzt endlich auch die Zeit für ihn gekommen sei, Regie zu führen. Doch wurde ihm das unter dem Vorwand verwehrt, die Nouvelle Vague sei nur für Newcomer, während er selbst inzwischen ein arrivierter Drehbuchautor sei.
Obwohl er weiterhin Drehbücher schrieb, zog er es wiederholt vor, nicht dafür genannt zu werden, um mit seinem Namen nicht mehr so präsent zu sein. Als es ihm auch dann noch nicht gelang, mit einem Spielfilm zu debütieren, entschied er sich dafür, mit einem Kurzfilm zu beginnnen, um auf diese Weise erstmals auch als Regisseur wahrgenommen zu werden und sich auf diesem Experimentierfeld für den Spielfilm eine Visitenkarte auszustellen. So debütierte er 1969 mit dem Kurzfilm Derniers hivers, der mit dem renommierten Prix Jean Vigo ausgezeichnet wurde. Vier Jahre später und nach einem weiteren Kurzfilm ging mit Reise in die grosse Tartarei sein erster langer Spielfilm in Produktion.
Sein zweiter langer Spielfilm Cousin, Cousine mit Marie-Christine Barrault wurde sein bekanntester, insbesondere im Ausland. Er war auf viele Jahre der erfolgreichste französische Film in den USA und erhielt dort 1977 drei Oscar-Nominierungen. 1987 realisierte Tacchella seinen persönlichsten Film Travelling avant über eine Generation junger Filmbegeisterter Ende der 1940er Jahre, deren Traum es ist, einen eigenen Filmclub zu gründen.
Als sein Film Der kleine Tod der feinen Damen (im Original: Dames Galantes) 1991 in die deutschen Kinos kam, ergab sich für mich die Gelegenheit, eine Dokumentation über ihn fürs WDR-Fernsehen zu realisieren. Bei ihm zu Hause in Versailles führten wir ein vielleicht fünfstündiges Marathon-Gespräch über seine Filme, aber auch über seine Zeit als Filmkritiker und Filmclub-Begeisterter, bis er vorsichtig fragte, wie lange das gefilmte Gespräch wohl noch gehen würde, was ein deutliches Zeichen war, zum Schluss zu kommen. Meine Art, ein Gespräch endlos weiterzuführen, amüsierte ihn, da ihn das daran erinnerte, dass er das als Filmkritiker auch nicht anders gemacht hatte mit William Wyler.
Noch im selben Jahr lud er mich ein zu den Dreharbeiten seines nächsten Films L’homme de ma vie, den er mit Maria de Medeiros in Paris drehte. Ich konnte mit meinem französischen Kamerateam mehrere Tage die Dreharbeiten begleiten, und so entstand eine weitere Dokumentation über ihn fürs deutsche Fernsehen.
Jean Charles hatte mir schon gleich nach unserem Marathon-Gespräch ein wunderschönes Buch geschenkt mit dem Titel »Les années éblouissantes – le cinéma qu'on aime« (»Die glanzvollen Jahre – das Kino, das man liebt«), das er drei Jahre zuvor mit seinem »L’Écran français«-Freund Roger Thérond geschrieben hatte und seine persönliche Hommage an eine bestimmte Periode der Filmgeschichte war, die Jahre 1945 bis 1952, die auch seine Zeit als Filmkritiker und Filmclub-Mitbegründer gewesen waren. Er fügte eine persönliche Widmung hinzu, in der er seinen Wunsch und seine Hoffnung zum Ausdruck brachte, bald mein Spielfilm-Debüt zu sehen. Denn sein Credo war, man könne nicht Filmkritiker bleiben, man müsse Filmemacher werden – die Überzeugung eines Nouvelle-Vague-Auteurs.
Nach meiner Bemerkung, mich lieber erst einmal aufs Drehbuchschreiben zu verlegen, hat er mich gewarnt: »Wenn du ein Drehbuch schreibst und bei der filmischen Umsetzung nicht selbst Regie führst, wirst du nie zufrieden sein mit dem, was der Regisseur daraus macht.« Er selbst hatte ja Drehbücher genug geschrieben, darauf wartend, endlich Regie führen zu können, und deshalb wenig Verständnis für jemand, der darüber nachdachte, erst einmal lieber Drehbücher zu schreiben.
Jean Charles war der Mann, der das Kino liebte. Auch dass er als etablierter Filmregisseur noch einmal mit einem Buch zu seinen Jahren als Filmkritiker und der Zeit seiner cinephilen Kinosozialisation zurückkehrte, war ein nachgereichter Beleg dafür. So war es bei seinem umfassenden filmhistorischen Wissen nur folgerichtig, dass er später in seiner Karriere Präsident und anschließend Ehren-Präsident der Cinémathèque française wurde. Ende August ist er von uns gegangen, kurz vor seinem 99. Geburtstag und unbemerkt in Deutschland, wo es bis dato keinen einzigen Nachruf gegeben hat.