21.10.2024

Der Mann, der das Kino liebte

Jean Charles Tacchella
Jean Charles Tacchella (1925-1924): Ehrenpräsident des Kinos
(Foto: Cinémathèque française)

Persönliche Erinnerungen an Jean Charles Tacchella, den französischen Filmregisseur, Filmkritiker und späteren Präsidenten der Cinémathèque française, der Ende August verstorben ist

Von Peter Kremski

Wie seine Filme­ma­cher-Kollegen Rohmer, Godard, Truffaut, Chabrol und Rivette begann auch Jean Charles Tacchella seine Film­kar­riere als Film­kri­tiker, aber nicht wie sie in den 1950er Jahren bei den »Cahiers du cinéma«, sondern schon in den 1940er Jahren, gleich nach dem Krieg, bei »L’Écran français«, mit Kriti­ker­kol­legen wie André Bazin und Roger Thérond. Ende der 1940er Jahre war er zusammen mit André Bazin, Jacques Doniol-Valcroze, Alexandre Astruc und Jean Cocteau auch Mitbe­gründer des Avant­garde-Filmclubs Objectif 49, der als Keimzelle der Nouvelle Vague verstanden wird. Als die »Cahiers du cinéma«, gegründet von Bazin und Doniol-Valcroze, 1951 zum ersten Mal erschienen, stand »L’Écran français« schon kurz vor der Einstel­lung, und so geschah es, dass die eine Film­zeit­schrift die andere ablöste.

Zu dieser Zeit, in den frühen 1950er Jahren versuchte Tacchella bereits, den Weg zum Filme­ma­chen zu finden, indem er erst einmal damit begann, Dreh­bücher für andere Regis­seure zu schreiben. Als seine Kritiker-Kollegen von den »Cahiers« dann Ende der 1950er Jahre als Film­re­gis­seure debü­tierten und damit eine Neue Welle im Fran­zö­si­schen Film begrün­deten, hatte sich Tacchella zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen als Dreh­buch­autor gemacht. Er hätte gedacht, dass mit der Nouvelle Vague, der er sich nicht nur gene­ra­ti­ons­mäßig zugehörig fühlte, jetzt endlich auch die Zeit für ihn gekommen sei, Regie zu führen. Doch wurde ihm das unter dem Vorwand verwehrt, die Nouvelle Vague sei nur für Newcomer, während er selbst inzwi­schen ein arri­vierter Dreh­buch­autor sei.

Obwohl er weiterhin Dreh­bücher schrieb, zog er es wieder­holt vor, nicht dafür genannt zu werden, um mit seinem Namen nicht mehr so präsent zu sein. Als es ihm auch dann noch nicht gelang, mit einem Spielfilm zu debü­tieren, entschied er sich dafür, mit einem Kurzfilm zu beginnnen, um auf diese Weise erstmals auch als Regisseur wahr­ge­nommen zu werden und sich auf diesem Expe­ri­men­tier­feld für den Spielfilm eine Visi­ten­karte auszu­stellen. So debü­tierte er 1969 mit dem Kurzfilm Derniers hivers, der mit dem renom­mierten Prix Jean Vigo ausge­zeichnet wurde. Vier Jahre später und nach einem weiteren Kurzfilm ging mit Reise in die grosse Tartarei sein erster langer Spielfilm in Produk­tion.

Sein zweiter langer Spielfilm Cousin, Cousine mit Marie-Christine Barrault wurde sein bekann­tester, insbe­son­dere im Ausland. Er war auf viele Jahre der erfolg­reichste fran­zö­si­sche Film in den USA und erhielt dort 1977 drei Oscar-Nomi­nie­rungen. 1987 reali­sierte Tacchella seinen persön­lichsten Film Travel­ling avant über eine Gene­ra­tion junger Film­be­geis­terter Ende der 1940er Jahre, deren Traum es ist, einen eigenen Filmclub zu gründen.

Als sein Film Der kleine Tod der feinen Damen (im Original: Dames Galantes) 1991 in die deutschen Kinos kam, ergab sich für mich die Gele­gen­heit, eine Doku­men­ta­tion über ihn fürs WDR-Fernsehen zu reali­sieren. Bei ihm zu Hause in Versailles führten wir ein viel­leicht fünf­stün­diges Marathon-Gespräch über seine Filme, aber auch über seine Zeit als Film­kri­tiker und Filmclub-Begeis­terter, bis er vorsichtig fragte, wie lange das gefilmte Gespräch wohl noch gehen würde, was ein deut­li­ches Zeichen war, zum Schluss zu kommen. Meine Art, ein Gespräch endlos weiter­zu­führen, amüsierte ihn, da ihn das daran erinnerte, dass er das als Film­kri­tiker auch nicht anders gemacht hatte mit William Wyler.

Noch im selben Jahr lud er mich ein zu den Dreh­ar­beiten seines nächsten Films L’homme de ma vie, den er mit Maria de Medeiros in Paris drehte. Ich konnte mit meinem fran­zö­si­schen Kame­ra­team mehrere Tage die Dreh­ar­beiten begleiten, und so entstand eine weitere Doku­men­ta­tion über ihn fürs deutsche Fernsehen.

Jean Charles hatte mir schon gleich nach unserem Marathon-Gespräch ein wunder­schönes Buch geschenkt mit dem Titel »Les années éblouis­santes – le cinéma qu'on aime« (»Die glanz­vollen Jahre – das Kino, das man liebt«), das er drei Jahre zuvor mit seinem »L’Écran français«-Freund Roger Thérond geschrieben hatte und seine persön­liche Hommage an eine bestimmte Periode der Film­ge­schichte war, die Jahre 1945 bis 1952, die auch seine Zeit als Film­kri­tiker und Filmclub-Mitbe­gründer gewesen waren. Er fügte eine persön­liche Widmung hinzu, in der er seinen Wunsch und seine Hoffnung zum Ausdruck brachte, bald mein Spielfilm-Debüt zu sehen. Denn sein Credo war, man könne nicht Film­kri­tiker bleiben, man müsse Filme­ma­cher werden – die Über­zeu­gung eines Nouvelle-Vague-Auteurs.

Nach meiner Bemerkung, mich lieber erst einmal aufs Dreh­buch­schreiben zu verlegen, hat er mich gewarnt: »Wenn du ein Drehbuch schreibst und bei der filmi­schen Umsetzung nicht selbst Regie führst, wirst du nie zufrieden sein mit dem, was der Regisseur daraus macht.« Er selbst hatte ja Dreh­bücher genug geschrieben, darauf wartend, endlich Regie führen zu können, und deshalb wenig Vers­tändnis für jemand, der darüber nach­dachte, erst einmal lieber Dreh­bücher zu schreiben.

Jean Charles war der Mann, der das Kino liebte. Auch dass er als etablierter Film­re­gis­seur noch einmal mit einem Buch zu seinen Jahren als Film­kri­tiker und der Zeit seiner cine­philen Kino­so­zia­li­sa­tion zurück­kehrte, war ein nach­ge­reichter Beleg dafür. So war es bei seinem umfas­senden film­his­to­ri­schen Wissen nur folge­richtig, dass er später in seiner Karriere Präsident und anschließend Ehren-Präsident der Ciné­ma­thèque française wurde. Ende August ist er von uns gegangen, kurz vor seinem 99. Geburtstag und unbemerkt in Deutsch­land, wo es bis dato keinen einzigen Nachruf gegeben hat.