R.I.P. Stadtcafé |
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Meilenstein der Kaffeehaus-Filme: Siggi Götz Collectors Item | ||
(Foto: Axel Recht) |
Von Dunja Bialas
Der Kinobesuch im eigentlichen Sinne begann früher erst hier: am dunkelbraun gebeizten Tresen des Münchner Stadtcafés. Wir nahmen auf den Barhockern Platz oder standen in erster, zweiter und dritter Reihe, ließen uns das Bier durchreichen. Wir waren gerade aus dem Filmmuseum gekommen, durstig auf den ersten Schluck und gespannt auf die Gespräche. Jetzt wurde über den Film diskutiert, Wissen ausgepackt, Bezüge hergestellt, Interpretationen gefunden. Man sortierte ein, wie der historische Film auf einen gewirkt hatte. Nicht immer, aber oft waren es Meisterwerke. Auf jeden Fall waren wir leidenschaftlich bei der Sache, stritten, wenn es sein musste. Immer wusste einer mehr als man selbst, aber die eigene Meinung galt. Die Stadtcafé-Besuche nach dem Kino waren leidenschaftliches Lernen und cineastische Horizonterweiterung.
Vergangene Woche wurde das Stadtcafé kurzerhand von Wirt Gerhard Knoller-Weber dichtgemacht. Damit wurde zu Ende gebracht, was seit Jahren in Gang war: Das einst so angesagte Café war von seinen Betreibern willentlich zu Grabe getragen worden.
Selbst wenn die Preise durch die Decke gingen (4,20 € für ein Tafelwasser, 5,30 € für ein Helles), wären wir bereit gewesen, sie zu bezahlen. Wir hätten ja einfach ein Bier weniger trinken können. Allein: Man ließ uns nicht. Mit Öffnungszeiten, die inkompatibel mit den Vorführzeiten des Filmmuseums waren, konnten wir das Stadtcafé nach dem Film schlichtweg nicht mehr ansteuern. Nur mit großem Glück bekam man nach der 21-Uhr-Vorstellung noch eine Presshalbe, das ausgiebgie Reden nach den Filmen entfiel. Außerdem war man zu sehr von der neuen Stillosigkeit des Cafés abgelenkt. Jetzt wurde kommentiert. Vitrinen mit absurden Schaugegenständen (historische Schühchen) standen unter Plastikpflanzen. An den Decken baumelten Lampen aus dem Baumarkt. Auf den roten Kunstlederbänken drängten sich Kissen mit Mittelknick. Die gelben Sechzigerjahre-Bistrotische waren durch hässliches Furnier ersetzt worden. Und wo früher das »Handy verboten«-Schild klebte, prangte nun ein »Folgen Sie uns auf Instagram«-Aufkleber. Außerdem ertönte Musik, die höchstens Bayern 1 war.
Genauso stillos, wie sich das Interieur grotesk deformiert hatte und das Café seit Jahren nicht mehr für, sondern gegen die Gäste geführt wurde, wurde das Stadtcafé final zur Strecke gebracht. Noch nicht einmal die Biervorräte dürfen wir vernichten und uns von unserer alten Heimat verabschieden. Wusste der Wirt überhaupt, dass das Stadtcafé einmal eine Institution gewesen war?
Das Stadtcafé war ein Ort gewesen, an den man voller Ehrfurcht und Vorfreude kam. Es gab keine Musik, dafür eine gut sortierte Auswahl an Zeitungen und großzügige Schnittblumen, die in großen schlichten Vasen auf der geschlängelten Bar im Gastraum standen. Es herrschte sachlicher Kaffeehausstil, mit wechselnden Fotoausstellungen an den Wänden. Man traf hier immer Bekannte, eigentlich musste man sich fürs Stadtcafé nicht verabreden. Es war auch ein Ort, um zu lesen und zu arbeiten, zahlreiche Interviews fanden hier statt, Nachbesprechungen, man hielt Büro oder ging mit den Gästen des Filmmuseums noch auf eine große Runde nach dem Film.
Das Stadtcafé und das Filmmuseum waren nicht nur zufällig eine enge Beziehung eingegangen. Neben der baulichen Motiviertheit als Museumscafé – anfänglich kam man nur mit einem Kinoticket oder der Stadtmuseums-Eintrittskarte hinein – war der Ort selbst von cineastischer Aura durchdrungen. An der Theke, wo wir über Jahrzehnte unser Bier bestellten, hatte einst der legendäre Filmmuseumsleiter Enno Patalas sein Büro gehabt. Hinter den Türen, die vom Café weggingen, befindet sich noch heute eine ausladende Bibliothek mit Filmliteratur.
Freitagabend standen wir nach dem wichtigsten Retro-Termin der Woche an der Theke und diskutierten. Ebenso leidenschaftlich wie zu den Filmen war für ein paar von uns auch das Verhältnis zu den Bedienungen. Viele von ihnen studierten an der Kunstakademie, sie wurden Freunde, der Begriff des »Servantilismus«, die intellektuelle Hinwendung zum Dienstpersonal, machte die Runde. Ulrich Mannes, Herausgeber des »Sigi Goetz Entertainment« und Filmemacher großartiger Miniaturen, drehte 1998 im Stadtcafé den maßgeblichen Kurzfilm Siggi Götz Collectors Item, der unserer Runde ein Denkmal setzte. In ihm spielt Bernd Brehmer, Mitbetreiber des Münchner Werkstattkinos, einen potentiellen Käufer einschlägiger Hefterl. Der Dealer ist Ulrich Mannes. Shirin Damerji, damals noch an der Kunstakademie und Kartenabreißerin im Filmmuseum, spielt die Bedienung mit ausladendem Dekolleté. Bei ihr bestellen die Herren pennälerhaft einen Café Latte, der gerade erst in Mode gekommen war.
Um Hefterl und Hefte ging es viel im Stadtcafé. Kleinfilmverleiher Armin Schuppener brachte in seinem Baumwollbeutel neueste Cineasten-Ware mit und wusste, dass die Anwesenden kaum widerstehen konnten, egal was der Preis war. Ulrich Mannes veranstaltete im Stadtcafé Release-Abende zu seinem seit 2001 bestehenden Fanzine und ließ die aktuelle Ausgabe zu den Zeitungshaltern hängen. Die »Filmzeitung 24«, Gründungsjahr 1991, entstand im wesentlichen im Stadtcafé am Tresen. Sie war ein schwarzweißkopiertes Heft, herausgegeben von Bernd Brehmer, Fritz Göttler, Gabriele Jofer, Tom Wimmer und Hans Schifferle, in dem sie ihre eigene Vorstellung von Filmkritik umsetzten. »Über das Kino zu schreiben kommt einem manchmal vor, wie Irrlichtern zu folgen«, schreiben sie im Editorial ihrer ersten Ausgabe.
Wir irrlichterten lange und viel. Und immer zusammen.
Fest dazu gehörte Tom Wimmer, allein schon, weil er im Filmmuseum arbeitete. Zu seinem Standard-Getränk, einer Leitungswasser-Schorle, rauchte er Gitanes und erzählte von den besetzten Häusern der Achtzigerjahre. Filmkritiker Hans Schifferle schwärmte von Motorrädern und sprach davon, wie »zerhaut« mal wieder sein Kater von den mehrtägigen Ausflügen zurückgekehrt war. Im Winter beherbergte er in seiner Küche Igel, von denen er genauso begeistert sprach wie von den Filmen, die er in sich einsog. Beide, Tom und Hans, sind tot.
In den sehr lebendigen Zeiten unserer Runde war die Filmfestzeit in der Ära Ströhl eine der lebendigsten. Die Kölner Gruppe kam angereist, Bernhard Marsch, Rainer Knepperges, und Filmemacher, die nach Berlin gezogen waren, außerdem Kinobetreiber, Mitarbeiter des Kulturreferats und befreundete Festivalleiter, alle kamen in den Innenhof des Stadtcafés zu unserem inoffiziellen Festivaltreffpunkt. Manchmal wucherten die Klappstühle um einen einzigen Tisch, die Runde wuchs, es wurde viel Bier getrunken, am Freitag bis eins in der Nacht – wenige Jahre später war das ein unvorstellbares Szenario. Wir saßen überhaupt immer nur im Innenhof oder am Tresen, und nicht vor dem Café bei den Touristen oder gar an den Tischen wie andere Gäste. Wir brauchten das Stehen beim Reden, den Wechsel der Gesprächspartner, das Hineinlauschen in neue Gedanken, die sich stets um das eine, das Kino, drehten.
Bis es zu merkwürdigen Ereignissen seitens der Stadtcafé-Belegschaft kam, die noch feindseliger waren als das Schild »Wir sind keine Oase«, aufgestellt, um den Gästen klar zu machen, dass es hier kein Leitungswasser zum teuren Rotwein gäbe. Unser Kreis bröckelte wegen Vorfällen mit dem Personal – die Kunstakademikerinnen waren schon lange weg, auch die uns wohlgesonnenen Thekenleute –, und eines Tages wurden wir im Innenhof nicht mehr bedient. »Wieso macht ihr diesen Ort kaputt?« erinnere ich mich an ein letztes verbales Aufbäumen in Richtung Belegschaft, als wir am Freitagabend um halb elf hinauskomplimentiert wurden. Viele Leute, mit denen man sich fürs Stadtcafé verabreden wollten, winkten ab. Auch sie waren schlecht behandelt worden.
Als wir bereits in den Zustand des Mythos übergegangen waren, wurden wir noch einmal verewigt. Wir, beziehungsweise das Häuflein von uns, das geblieben war und sich immer noch beharrlich im Café einfand, wurde für das Stadtmagazin »Prinz« als einer der wichtigen Stammtische der Stadt portraitiert. »Letzter Treffpunkt: Stadtcafé. Hier, gleich neben dem Filmmuseum, treffen sich jeden Freitag Filmfreaks, sogenannte Cineasten«, schreibt der »Prinz« im Jahr 2009. Bernd Brehmer wird so zitiert: »Wir stehen an der Bar und sind eher eine elitäre Kleinveranstaltung.«
Wir gehen noch immer ins Filmmuseum. Ins Stadtcafé, und sei unsere Abneigung noch so groß, können wir jetzt nicht mehr. Trauer oder Wehmut sind aber unangebracht. Die Betreiber hatten schon seit langem genug von uns Cineasten, die nichts aßen, keinen teuren Rotwein tranken, nur Bier. Und wenn es zum Zahlen ging, scherzhaft den Hauspreis verlangten. Oder: Den Hauspreis vom Hauspreis. Den hatte es für einige von uns tatsächlich einmal gegeben, aber auch der war natürlich längst abgeschafft, genauso wie der »Freitags-Espresso«, den man am Nachmittag hingestellt bekam. Die Öffnungszeiten wurden zu Schließungszeiten, die sich immer breiter machten. Bis es keinen Sinn mehr machte, nach der 21-Uhr-Vorstellung im Filmmuseum noch das Stadtcafé ins Auge zu fassen. So wurde aus dem Stadtcafé, unserer Heimat, ein abweisender Nicht-Ort, das nur noch als Tagescafé beliebt war, belagert von Kinderwagen und Einkaufstaschen. Man brauchte und wollte uns nicht mehr.
So hat sich schon vor etlichen Jahren unsere regelmäßige Freitagabend-Institution in alle Richtungen aufgelöst. Einen neuen Treffpunkt haben wir nicht mehr gefunden. Was aus uns wird, wenn das Filmmuseum 2027 wegen des Stadtmuseumsumbaus für fünf Jahre schließt, wollen wir uns an dieser Stelle gar nicht ausmalen.