31.10.2024

R.I.P. Stadtcafé

Sigi Götz Collectors Item
Meilenstein der Kaffeehaus-Filme: Siggi Götz Collectors Item
(Foto: Axel Recht)

Erinnerungen an den »Cineasten-Stammtisch«: Das Café in der Münchner Innenstadt hat schon vor vielen Jahren damit begonnen, seine Gäste vor die Tür zu setzen. Jetzt ist es dicht

Von Dunja Bialas

Der Kino­be­such im eigent­li­chen Sinne begann früher erst hier: am dunkel­braun gebeizten Tresen des Münchner Stadt­cafés. Wir nahmen auf den Barho­ckern Platz oder standen in erster, zweiter und dritter Reihe, ließen uns das Bier durch­rei­chen. Wir waren gerade aus dem Film­mu­seum gekommen, durstig auf den ersten Schluck und gespannt auf die Gespräche. Jetzt wurde über den Film disku­tiert, Wissen ausge­packt, Bezüge herge­stellt, Inter­pre­ta­tionen gefunden. Man sortierte ein, wie der histo­ri­sche Film auf einen gewirkt hatte. Nicht immer, aber oft waren es Meis­ter­werke. Auf jeden Fall waren wir leiden­schaft­lich bei der Sache, stritten, wenn es sein musste. Immer wusste einer mehr als man selbst, aber die eigene Meinung galt. Die Stadtcafé-Besuche nach dem Kino waren leiden­schaft­li­ches Lernen und cine­as­ti­sche Hori­zont­er­wei­te­rung.

Vergan­gene Woche wurde das Stadtcafé kurzer­hand von Wirt Gerhard Knoller-Weber dicht­ge­macht. Damit wurde zu Ende gebracht, was seit Jahren in Gang war: Das einst so angesagte Café war von seinen Betrei­bern willent­lich zu Grabe getragen worden.

Press­halbe und Groteske

Selbst wenn die Preise durch die Decke gingen (4,20 € für ein Tafel­wasser, 5,30 € für ein Helles), wären wir bereit gewesen, sie zu bezahlen. Wir hätten ja einfach ein Bier weniger trinken können. Allein: Man ließ uns nicht. Mit Öffnungs­zeiten, die inkom­pa­tibel mit den Vorführ­zeiten des Film­mu­seums waren, konnten wir das Stadtcafé nach dem Film schlichtweg nicht mehr ansteuern. Nur mit großem Glück bekam man nach der 21-Uhr-Vorstel­lung noch eine Press­halbe, das ausgie­bgie Reden nach den Filmen entfiel. Außerdem war man zu sehr von der neuen Stil­lo­sig­keit des Cafés abgelenkt. Jetzt wurde kommen­tiert. Vitrinen mit absurden Schau­ge­gen­ständen (histo­ri­sche Schühchen) standen unter Plas­tik­pflanzen. An den Decken baumelten Lampen aus dem Baumarkt. Auf den roten Kunst­le­der­bänken drängten sich Kissen mit Mittel­knick. Die gelben Sech­zi­ger­jahre-Bistro­ti­sche waren durch häss­li­ches Furnier ersetzt worden. Und wo früher das »Handy verboten«-Schild klebte, prangte nun ein »Folgen Sie uns auf Instagram«-Aufkleber. Außerdem ertönte Musik, die höchstens Bayern 1 war.

Genauso stillos, wie sich das Interieur grotesk defor­miert hatte und das Café seit Jahren nicht mehr für, sondern gegen die Gäste geführt wurde, wurde das Stadtcafé final zur Strecke gebracht. Noch nicht einmal die Bier­vor­räte dürfen wir vernichten und uns von unserer alten Heimat verab­schieden. Wusste der Wirt überhaupt, dass das Stadtcafé einmal eine Insti­tu­tion gewesen war?

Ein cine­as­ti­scher Ort

Das Stadtcafé war ein Ort gewesen, an den man voller Ehrfurcht und Vorfreude kam. Es gab keine Musik, dafür eine gut sortierte Auswahl an Zeitungen und groß­zü­gige Schnitt­blumen, die in großen schlichten Vasen auf der geschlän­gelten Bar im Gastraum standen. Es herrschte sach­li­cher Kaffee­haus­stil, mit wech­selnden Foto­aus­stel­lungen an den Wänden. Man traf hier immer Bekannte, eigent­lich musste man sich fürs Stadtcafé nicht verab­reden. Es war auch ein Ort, um zu lesen und zu arbeiten, zahl­reiche Inter­views fanden hier statt, Nach­be­spre­chungen, man hielt Büro oder ging mit den Gästen des Film­mu­seums noch auf eine große Runde nach dem Film.

Das Stadtcafé und das Film­mu­seum waren nicht nur zufällig eine enge Beziehung einge­gangen. Neben der baulichen Moti­viert­heit als Muse­ums­café – anfäng­lich kam man nur mit einem Kino­ti­cket oder der Stadt­mu­seums-Eintritts­karte hinein – war der Ort selbst von cine­as­ti­scher Aura durch­drungen. An der Theke, wo wir über Jahr­zehnte unser Bier bestellten, hatte einst der legendäre Film­mu­se­ums­leiter Enno Patalas sein Büro gehabt. Hinter den Türen, die vom Café weggingen, befindet sich noch heute eine ausla­dende Biblio­thek mit Film­li­te­ratur.

Wir irrlich­terten lange und viel

Frei­tag­abend standen wir nach dem wich­tigsten Retro-Termin der Woche an der Theke und disku­tierten. Ebenso leiden­schaft­lich wie zu den Filmen war für ein paar von uns auch das Verhältnis zu den Bedi­e­nungen. Viele von ihnen studierten an der Kunst­aka­demie, sie wurden Freunde, der Begriff des »Servan­ti­lismus«, die intel­lek­tu­elle Hinwen­dung zum Dienst­per­sonal, machte die Runde. Ulrich Mannes, Heraus­geber des »Sigi Goetz Enter­tain­ment« und Filme­ma­cher groß­ar­tiger Minia­turen, drehte 1998 im Stadtcafé den maßgeb­li­chen Kurzfilm Siggi Götz Coll­ec­tors Item, der unserer Runde ein Denkmal setzte. In ihm spielt Bernd Brehmer, Mitbe­treiber des Münchner Werk­statt­kinos, einen poten­ti­ellen Käufer einschlä­giger Hefterl. Der Dealer ist Ulrich Mannes. Shirin Damerji, damals noch an der Kunst­aka­demie und Karten­ab­reißerin im Film­mu­seum, spielt die Bedienung mit ausla­dendem Dekolleté. Bei ihr bestellen die Herren pennä­ler­haft einen Café Latte, der gerade erst in Mode gekommen war.

Um Hefterl und Hefte ging es viel im Stadtcafé. Klein­film­ver­leiher Armin Schup­pener brachte in seinem Baum­woll­beutel neueste Cineasten-Ware mit und wusste, dass die Anwe­senden kaum wider­stehen konnten, egal was der Preis war. Ulrich Mannes veran­stal­tete im Stadtcafé Release-Abende zu seinem seit 2001 bestehenden Fanzine und ließ die aktuelle Ausgabe zu den Zeitungs­hal­tern hängen. Die »Film­zei­tung 24«, Grün­dungs­jahr 1991, entstand im wesent­li­chen im Stadtcafé am Tresen. Sie war ein schwarz­weiß­ko­piertes Heft, heraus­ge­geben von Bernd Brehmer, Fritz Göttler, Gabriele Jofer, Tom Wimmer und Hans Schif­ferle, in dem sie ihre eigene Vorstel­lung von Film­kritik umsetzten. »Über das Kino zu schreiben kommt einem manchmal vor, wie Irrlich­tern zu folgen«, schreiben sie im Editorial ihrer ersten Ausgabe.

Wir irrlich­terten lange und viel. Und immer zusammen.

Fest dazu gehörte Tom Wimmer, allein schon, weil er im Film­mu­seum arbeitete. Zu seinem Standard-Getränk, einer Leitungs­wasser-Schorle, rauchte er Gitanes und erzählte von den besetzten Häusern der Acht­zi­ger­jahre. Film­kri­tiker Hans Schif­ferle schwärmte von Motor­rä­dern und sprach davon, wie »zerhaut« mal wieder sein Kater von den mehr­tä­gigen Ausflügen zurück­ge­kehrt war. Im Winter beher­bergte er in seiner Küche Igel, von denen er genauso begeis­tert sprach wie von den Filmen, die er in sich einsog. Beide, Tom und Hans, sind tot.

Unser inof­fi­zi­eller Festi­val­treff­punkt

In den sehr leben­digen Zeiten unserer Runde war die Film­fest­zeit in der Ära Ströhl eine der leben­digsten. Die Kölner Gruppe kam angereist, Bernhard Marsch, Rainer Knep­perges, und Filme­ma­cher, die nach Berlin gezogen waren, außerdem Kino­be­treiber, Mitar­beiter des Kultur­re­fe­rats und befreun­dete Festi­val­leiter, alle kamen in den Innenhof des Stadt­cafés zu unserem inof­fi­zi­ellen Festi­val­treff­punkt. Manchmal wucherten die Klapps­tühle um einen einzigen Tisch, die Runde wuchs, es wurde viel Bier getrunken, am Freitag bis eins in der Nacht – wenige Jahre später war das ein unvor­stell­bares Szenario. Wir saßen überhaupt immer nur im Innenhof oder am Tresen, und nicht vor dem Café bei den Touristen oder gar an den Tischen wie andere Gäste. Wir brauchten das Stehen beim Reden, den Wechsel der Gesprächs­partner, das Hinein­lau­schen in neue Gedanken, die sich stets um das eine, das Kino, drehten.

Bis es zu merk­wür­digen Ereig­nissen seitens der Stadtcafé-Beleg­schaft kam, die noch feind­se­liger waren als das Schild »Wir sind keine Oase«, aufge­stellt, um den Gästen klar zu machen, dass es hier kein Leitungs­wasser zum teuren Rotwein gäbe. Unser Kreis bröckelte wegen Vorfällen mit dem Personal – die Kunst­aka­de­mi­ke­rinnen waren schon lange weg, auch die uns wohl­ge­son­nenen Theken­leute –, und eines Tages wurden wir im Innenhof nicht mehr bedient. »Wieso macht ihr diesen Ort kaputt?« erinnere ich mich an ein letztes verbales Aufbäumen in Richtung Beleg­schaft, als wir am Frei­tag­abend um halb elf hinaus­kom­pli­men­tiert wurden. Viele Leute, mit denen man sich fürs Stadtcafé verab­reden wollten, winkten ab. Auch sie waren schlecht behandelt worden.

Ende eines Mythos

Als wir bereits in den Zustand des Mythos über­ge­gangen waren, wurden wir noch einmal verewigt. Wir, bezie­hungs­weise das Häuflein von uns, das geblieben war und sich immer noch beharr­lich im Café einfand, wurde für das Stadt­ma­gazin »Prinz« als einer der wichtigen Stamm­ti­sche der Stadt portrai­tiert. »Letzter Treff­punkt: Stadtcafé. Hier, gleich neben dem Film­mu­seum, treffen sich jeden Freitag Film­freaks, soge­nannte Cineasten«, schreibt der »Prinz« im Jahr 2009. Bernd Brehmer wird so zitiert: »Wir stehen an der Bar und sind eher eine elitäre Klein­ver­an­stal­tung.«

Wir gehen noch immer ins Film­mu­seum. Ins Stadtcafé, und sei unsere Abneigung noch so groß, können wir jetzt nicht mehr. Trauer oder Wehmut sind aber unan­ge­bracht. Die Betreiber hatten schon seit langem genug von uns Cineasten, die nichts aßen, keinen teuren Rotwein tranken, nur Bier. Und wenn es zum Zahlen ging, scherz­haft den Hauspreis verlangten. Oder: Den Hauspreis vom Hauspreis. Den hatte es für einige von uns tatsäch­lich einmal gegeben, aber auch der war natürlich längst abge­schafft, genauso wie der »Freitags-Espresso«, den man am Nach­mittag hinge­stellt bekam. Die Öffnungs­zeiten wurden zu Schließungs­zeiten, die sich immer breiter machten. Bis es keinen Sinn mehr machte, nach der 21-Uhr-Vorstel­lung im Film­mu­seum noch das Stadtcafé ins Auge zu fassen. So wurde aus dem Stadtcafé, unserer Heimat, ein abwei­sender Nicht-Ort, das nur noch als Tagescafé beliebt war, belagert von Kinder­wagen und Einkaufs­ta­schen. Man brauchte und wollte uns nicht mehr.

So hat sich schon vor etlichen Jahren unsere regel­mäßige Frei­tag­abend-Insti­tu­tion in alle Rich­tungen aufgelöst. Einen neuen Treff­punkt haben wir nicht mehr gefunden. Was aus uns wird, wenn das Film­mu­seum 2027 wegen des Stadt­mu­se­ums­um­baus für fünf Jahre schließt, wollen wir uns an dieser Stelle gar nicht ausmalen.