21.11.2024

Verwegen echt

Landschaft und Wahn von Nicole Vögele
Einer der spannendsten Filme dieses Jahr: Landschaft und Wahn von Nicole Vögele
(Foto: 48. Duisburger Filwoche)

Im „verwegenen Ambiente“ von Duisburg haben sich auch dieses Jahr wieder mehrere Orte für vertiefende Diskussionen rund um den Dokumentarfilm geöffnet: Das Kino, der Diskussionsraum, die Protokolle und die Kneipe um die Ecke.

Von Nora Moschuering

Vom „verwe­genen Ambiente in Duisburg“ hat Sebastian Höglinger (Jury 3sat-Doku­men­tar­film­preis, ehema­liger Leiter der Diagonale Graz) bei der Preis­ver­lei­hung gespro­chen und damit einen Slogan gefunden, den die Marke­ting­ab­tei­lung der Stadt Duisburg aufnehmen könnte, auch wenn „Duisburg ist echt“, womit momentan geworben wird, doch auffal­lend gut zur Duis­burger Filmwoche passt.

„Verwegen echt“, wer weiß, also viel­leicht im nächsten Jahr als Motto, dieses Mal war es: „Entferntes Sortieren“. Festi­val­leiter Alexander Scholz erklärt es als ein „Aus der Ferne sortieren“ oder auch damit, dass man die Sortie­rung entfernen sollte. »Auf unseren heim­li­chen Watch­lists begegnet uns das Doku­men­ta­ri­sche aller­dings auch in seiner konven­tio­nellen, mithin kommo­di­fi­zierten, Form:« Dokus bieten uns die Welt als Produkt an, holen die Wirk­lich­keit griff­be­reit und mund­ge­recht in unsere Nähe: vorpor­tio­niert und vorsor­tiert. Derart Forma­tiertes mag unter­halten, oft lässt es uns aber schwei­gend zurück. Wenn Filme schon alles wissen, gibt es nichts mehr zu sagen. Wenn man Leute schon einsor­tiert hat, hört man nicht mehr hin, was sie nach dem Film zu sagen haben. (https://protokult.de/blog/entferntes-sortieren/). Duisburg sucht also nach Filmen, die nicht alles vorgeben oder wissen, Filme mit Lücken, die von den Zuschau­enden gefüllt werden, Filmen mit Offenheit.

Spannend ist es auch, an allen Tagen dabei zu sein, Bezüge und Verweise zu sehen, Themen fallen zu lassen und sie wieder aufzu­nehmen, es passiert nämlich ganz schön viel. Damit sind wir auch bei einem Problem dieses Textes, auch für ihn ist nämlich eine Sortie­rung hilfreich – an der sich dann gerne jeder, der mag, abar­beiten kann. Dieser Text sortiert die Filme in zwei Themen­felder und kann demnach nur eine extrem, grobe Sortie­rung sein.

1. Privat­be­reiche, speziell: Familien und Großel­tern

Es gibt eine Tendenz des Rückzugs, in Räume, die durch ihre Abge­schlos­sen­heit kontrol­lierbar sind, oder es zumindest erscheinen. Aber natürlich sind es dennoch Räume, die politisch sind, und in denen man dem Außen nicht entkommt. So sind diese Räume auch immer fragil und man spürt in jedem Moment, dass sie sich auflösen können.

Sehr offen­sicht­lich wird das in zwei Filmen aus dem Iran, deren Regisseur*innen mitt­ler­weile in Hamburg und Berlin leben.

My Stolen Planet von Farahnaz Sharifi
Sharifi erzählt von den zwei Planeten auf denen sie zu Hause ist: Auf dem einen sieht man die Bilder eines Mädchens mit Kopftuch, das von Jahr zu Jahr darunter älter wird. Auf dem anderen, das gleiche Mädchen im Hof des Hauses, das Kopftuch hat sie abgenommen. Ein Planet für draußen, auf dem man mit dem Kopftuch altert, eine Brille bekommt, sie wechselt, ein Planet für innen: Hier wird getanzt, gemeinsam das offene Haar geschnitten und dabei gefilmt.
Sharifi sammelt Filmmaterial, Super8 Material von vor der Revolution, digitalisiert es und fragt sich, wo diese Menschen jetzt sind. Sie selbst ist 1979 geboren und filmt ihr eigenes Archiv, eine Art Tagebuch, aber auch 40 Jahre iranische Geschichte.
Besonders das Tanzen wird dabei zu einem Ausbruch der Freiheit, des Widerstandes. Freundschaft und Familie, die eigenen vier Wände zur einzigen Möglichkeit, sich auszuleben, auszudrücken.
Der Film endet mit einer Kreisbewegung, denn vielleicht wiederholt sich die Geschichte: Sharifi geht ins Exil und ihr Archiv wird beschlagnahmt, so gehen auch ihre Filme in ein kollektives Gedächtnis über, Material das vielleicht von jemand anderem gefunden und neu sortiert wird.

Was hast du gestern geträumt, Parajanov? von Faraz Fesharaki (3sat-Doku­men­tar­film­preis)
Auch dieser Film beschäf­tigt sich viel mit Innen­räumen/privaten Räumen, aber dieses Mal auch noch mit der Inner­lich­keit von digitalen Bildern. Fesharaki beginnt mit Online-Treffen: verpi­xelte Bilder von digitalen Gesprächen, die manchmal stoppen, in der Zeit springen, Menschen verschwinden, treten ein, werden im Hinter­grund erkannt und vor die Kamera geholt. Die Eltern sind in Isfahan, der Sohn in Berlin und der Cousin in Wien. Distanz wird so gut wie möglich über­brückt, um am Leben der Anderen teil­zu­haben.
Aber der Regisseur hat sich auch ein bisschen seine Familie erschaffen, sie sich im Schnitt erträumt (Geständ­nisse eines Filme­ma­chers auf dem Podium), mit dem Material gespielt und es sortiert. Es ist eine Menge, was man über 10 Jahre sammeln kann. Dabei ist Alltäg­li­ches: Was hat man gegessen, aber auch Gespräche mit der Mutter über ihre Inhaf­tie­rung. Den Film durch­ziehen stark struk­tu­rie­rende Elemente: Kapitel, Musik, Titel, sich wieder­ho­lende Klänge. Es gibt auto­ma­ti­sche Aufnahmen, zufäl­liges Material und immer wieder Poeti­sches, indem er im Nach­hinein die Mutter in den Fokus nimmt, die im Hinter­grund ist, sie einfängt und ihr so über den Film sagt, wie wichtig sie ihm ist.
Irgend­wann geht es auch raus aus dem digitalen Raum (den wir natürlich nie verlassen), die Eltern besuchen den Sohn in Berlin und sitzen schließ­lich an einem eigent­lich ausge­trock­neten Fluss, der ausnahms­weise wieder Wasser führt und sprechen über ihre Liebe.

Das sind zwei ziemlich schöne und ziemlich intime Einblicke in private Leben, die gar nicht unpo­li­tisch gedacht werden können.
In den folgenden zwei Filmen geht es um Sprache und die eigene Stimme und die Kommu­ni­ka­tion innerhalb von Familien:

Ó mǎ von Mengzhu Xue
Die Enkelin will ihrer Oma ein Geheimnis erzählen, kann es aber nicht, sie kodiert es doppelt und versinkt mit ihrer Oma in einem klugen Über­set­zungs­pro­zess, der einen etwas hilflos aber trotzdem auch getröstet zurück­lässt. Ihre Oma liest einen von ihr geschrie­benen Text auf Chine­sisch vor, der auf Chine­sisch keinen Sinn ergibt, in dem man aber durch die Aussprache den Inhalt auf Englisch versteht. Da die Groß­mutter aber kein Englisch versteht, verstehen nur wir und die Enkelin, worum es geht. Die macht es aber auch uns nicht einfach, denn auch die Unter­titel sind eher laut­ma­le­risch.
Ó mǎ ist dabei ein sehr visueller Film, er gleitet von unspek­ta­kulären Bildern vom Balkon rüber in Traum­se­quenzen, eine Spinne und ein Woll­knäuel sind zu sehen und ein Aquarium, das sich umdreht. So ist der Film irgendwie ein Expe­ri­ment und irgendwie ein Gedicht und zusammen mit „Die Stimme des Inge­nieurs“ einer der wenigen Filme, die ich sowohl was Inhalt, als auch was Form angeht, am offensten und expe­ri­men­tellsten (im besten Sinn) empfunden habe.

Die Stimme des Inge­nieurs von André Siegers (Preis der Stadt Duisburg)
Der Vater, Konrad Siegers, hat ALS, was in seinem Fall zu einem Stimm­ver­lust führen wird. Für den Vater ist die Stimme ein Teil der Persön­lich­keit, so arbeitet er an der Stimme, macht Sprechü­bungen, möchte aber seine Stimme auch bewahren. Er ist Ingenieur, hat einen Rasen­mäher-Roboter im Garten und einen Staub­sauger-Roboter im Haus und versucht, mit Hilfe eines indi­vi­dua­li­sierten Sprech­com­pu­ters seine Stimme zu bewahren, einer­seits um sich damit weiterhin mitteilen zu können, viel­leicht aber auch, damit man sie nach seinem Tod hörbar machen kann. Er spricht immer mehr Sätze in den Computer ein. Siegers nähert sich dem häus­li­chen Umfeld und der Begriffe, findet Bilder für Worte, die er versteht, Unver­s­tänd­li­ches dagegen führt auch zu keinem Bild.
Mit einer ähnlichen Faszi­na­tion wie der Ingenieur hebt auch er irgend­wann ab: Findet Bilder für den Mond, die Planeten, das Weltall, die Raumsonde, in der Laterne, in Lichtern im Garten, hebt ab, mit einer Drohne, über die Vorort-Häuser und stellt irgend­wann die Welt auf den Kopf und zeigt damit die Größe von allem.

Als Kontrast zu diesen beiden auch sehr persön­li­chen Filmen, die aber allein in ihrer Form schon darüber hinaus­rei­chen, kurz zu Ernte von Sebastian Schönfeld & Pauline Cemeris und Da haben wir getanzt von Andreas Boschmann. In Ernte sieht man Opa Alexander in einem Garten beim Ernten und dabei er erzählt von der Depor­ta­tion seiner Familie aus der wolga­deut­schen Republik, vom Säen und Vorräte anlegen. Neben relativ konser­va­tive Leben­s­ein­stel­lungen und Wert­vor­stel­lungen ist auch die Paral­le­lität von Bildern und Geschichte so offen­sicht­lich wie lang­weilig. Auch in Da haben wir getanzt beob­achtet der Enkelsohn seine Großel­tern, hier besonders seine Oma. Sie kümmert sich um den Großvater, setzt seine Zähne ein, füttert ihn, dann kommt der Enkel und sagt von hinter der Kamera: „Lass ihn doch selber essen!“ Das ist unan­ge­nehm und man weiß nicht so recht, wo das hinführt, geht das um Pflege, um eine Ehe, um familiäre Bezie­hungen? Boschmann hat schon drei Filme über seine Familie gedreht. »Das Gefühl, mit der Kamera in einer fremden Umgebung zu sein, kommt Boschmann einfach nicht richtig vor«, sagt er im Protokoll. Gute Frage, ob man mit seiner Familie eigent­lich immer alles machen darf.

Das zweite Themen­feld ist „Land­schaft und Krieg“, wenn man so will, die nach „Außen-Bewegung“ der Filme des ersten Blocks.

2. Land­schaft und Krieg

Land­schaft und Wahn von Nicole Vögele
Der Film ist eine Art Namens­geber für diesen Block und einer der span­nendsten Filme dieses Jahr. Beob­achtet werden Flücht­lings­be­we­gungen an der Grenze von Bosnien nach Kroatien, einer Gegend, in der Menschen leben, die den Jugo­sla­wi­en­krieg mittelbar oder unmit­telbar miterlebt haben. (Tipp: Ein weiterer Film, der sich mit der Gegend beschäf­tigt und eine ähnliche Bewegung macht, aber doch ganz anders ist, ist Lara Milena Broses Echoes from Border­land).
Es geht um Menschen, die sich durch diese sehr schöne, aber auch gezeich­nete Grenz­land­schaft bewegen, die auf der Flucht vor einem Krieg sind und die Hoffnung haben, irgend­wann irgendwo anzu­kommen und ein Leben leben zu können. Sie gehen immer wieder los, „Game“ nennen sie das, den Versuch, über die Grenze zu kommen. Oft gelingt es ihnen nicht, wegen der soge­nannten „Pushbacks“, dann landen sie wieder dort, wo sie gestartet sind, z.B. in einer alten Schule, in der sie kurz zur Ruhe kommen können, essen, waschen, atmen.
Daneben gibt es die Kriegs­ve­te­ranen, die die Orte der Kämpfe aufsuchen. Dort gibt es immer noch vermintes Gebiet, das man nicht betreten soll. Man sieht die Land­schaft und wie sie sich durch die Gespräche verändert, durch das Wissen, das wir bekommen, wenn Menschen von ihr erzählen oder durch sie hindurch­laufen.
Zuge­ge­be­ner­maßen war ich zu Beginn etwas ermüdet von den langen Einstel­lungen einer Land­schaft, in der man Gestalten eher erahnt als wirklich sieht, aber je näher sich Vögele auf sie zubewegt, je näher sie ihnen kommt, und das passiert gar nicht so früh, desto mehr schafft sie es auch, dass man die gesehenen Bilder neu „sieht“, neu einordnet.
Vögeles Weise Filme zu machen, so erzählt sie im Gespräch, ist aber auch einer Art Wider­stand, Kontrast oder eben künst­le­ri­sche Form, gegenüber ihrer eigenen Arbeit beim Fernsehen, wo sie, vor ihrem Studium an der Film­aka­demie Baden-Würt­tem­berg, gear­beitet hat und immer noch arbeitet. Sie wollte sich eben genau davon ansetzen. Pro Tag hat sie sich eine 16mm-Rolle erlaubt, auch das, um zu mehr Konzen­tra­tion im Bilder­ma­chen zu kommen.

Dear Beautiful Beloved (Publi­kums­preis der Rhei­ni­schen Post) von Juri Rechinsky
Dear beautiful beloved ist wahr­schein­lich der heftigste Film der dies­jäh­rigen Filmwoche, denn was schon auffällt, ist, dass sich einige Filme um Geschehen herum bewegen und sich scheuen mitten hinein­zu­gehen und es manchmal dazu kommt, dass eine hohe Sensi­bi­lität z.B. für oder eben gegen das Zeigen von alten und kranken Menschen besteht – siehe: „Da haben wir getanzt“ – was aber auch dazu führen kann, dass man sich hinter seinen eigenen Befind­lich­keiten versteckt und das Leben, das aber einfach zuschlagen kann, damit ausklam­mert und scheinbar beschwich­tigt.
Der Film erzählt von der Evaku­ie­rung von alten und kranken Menschen, aus ihren Wohnungen und Häusern nahe der Front­linie in der Ukraine. Oft sind es Menschen, die keine Angehö­rigen mehr haben oder deren Angehö­rige sich im Krieg befinden. Gerahmt werden diese Menschen von Frauen und Kindern, die aus dem Land flüchten. Viel wird gewartet in über­füllten Tran­sit­un­ter­künften, Tee und Unsi­cher­heiten geteilt, nach dem Hab und Gut gefragt und Verwandte angerufen. Sie suchen nach einem sicheren Ort, an dem sie aller­dings, zumindest im Film, nie ankommen.
Außerdem begleitet man Foren­siker und Militärs an der Front dabei, die toten Soldaten iden­ti­fi­zieren und bergen und sie schließ­lich zu ihren Angehö­rigen bringen. Hier bleibt der Film auf Distanz, geht aber später näher z.B. zu einer jungen Frau und einem alten Mann, der sich immer wieder an seine linke Brust greift, die die Gefun­denen an die Angehö­rigen übergeben.
Es gibt durchaus Momente, an denen der Film diese schmale Grenze aus dem: »So hart und grausam es ist, man muss es gerade deshalb zeigen« und: »das geht einen Schritt zu weit, verletzt den Gezeigten und über­for­dert den, der es sieht maßlos«, übertritt. Aller­dings ist diese Grenze natürlich immer eine, die sehr indi­vi­duell austa­riert werden muss. Die iranische Künst­lerin und Medi­en­wis­sen­schaft­lerin Sarah Savalan­pour, die aufgrund der krank­heits­be­dingten Abwe­sen­heit von Farahnaz Sharifi (My Stolen Planet), zum Gespräch zuge­schaltet war, sagte zu einem ähnlichen Fall: »Es ist ein Privileg, sich diesen Bildern entziehen zu können. Betrof­fene seien dem schon seit Jahr­zehnten ausge­setzt«. Das unbedingt empfeh­lens­werte Protokoll dieses Gesprächs gibt es hier.

Dom von Svetlana Rodina & Laurent Stoop
Dass ein Gespräch auch nicht so konstruktiv sein kann, weil es sehr individuell ums Ich und die eigene Intuition geht, zeigt das Protokoll von Dom, der als Eröffnungsfilm lief. Der Film an sich zeigt eine andere Seite des Krieges, es geht um russische Journalist*innen die das Land verlassen und für eine Zeit Unterschlupf in Tiflis finden. Damit zieht der Film sich doch auch wieder in den Privatbereich zurück, einmal in den Raum des Hauses, aber auch sehr stark in die Gesichter der Protagonist*innen, in denen sich Unsicherheit, Angst und Entfremdung spiegeln, was auch im Sounddesign suggeriert wird, die aber auch, durch ihre Jugendlichkeit, fast was Ikonenhaftes bekommen. Nichtsdestotrotz sieht man, wie sich Gruppen und Gemeinschaften finden und wie diese auf die Nachrichten aus Russland reagieren oder auf einen Besuch der Großmutter, die eindeutig von russischer Propaganda infiltriert ist, und wie sie versuchen weiterzumachen und sich dagegen zu wehren. (Tipp: „Of caravan and the dog“ von Askold Kurov und Anonymous1, ist auch ein gutes Beispiel dieser russischen Exilant*innen-Perspektive, die noch vor dem russischen Angriffskrieg einsetzt und über Zensur und Kontrolle russischer Medien berichtet, das alles aber in einem weniger „homogenen“ Umfeld).

Noch mal zum Begriff der Lücke, zwei Filme, über die ich mir viele Gedanken gemacht habe, gerade weil ich sie erst einmal nicht richtig gelungen finde, haben es aber geschafft, weiter in mir zu arbeiten.

Avec la 4e Division Marocaine de Montagne von Stefania Smolkina beschäftigt sich mit einem Artefakt in einem Felsen, ein sogenannter Marokkanerstern, ein rotes Pentagramm, den marokkanische Soldaten am Ende des 2. Weltkrieges in den Stein gehauen haben. Sie haben die Brücke errichtet und so geht es in dem Film um Erinnerungspolitik, speziell im Vorarlberg, aber auch überall. Verschiedenes Material wird zusammengetragen, besonders ein Album von 1945, die Publikation der französischen Armee, aber auch andere Texte, Karten und Tagebucheintragungen, bei denen der Zusammenhang manchmal auch recht unklar ist. Man bekommt deshalb das Gefühl, dass man etwas folgt, dem aber nicht näher kommt, etwas beleuchtet wird, das aber gleich danach wieder im Dunkel verschwindet. Im Gespräch hieß es, dass er im Ausstellungskontext entstanden ist und in eine Ausstellung passt er auch in seiner Fragmenthaftigkeit, in einen Raum, mit verschiedenen Exponaten, so dass der Film auch noch mal mit ihnen interagiert.

Durch­gangs­land von Daniel Fill (ARTE-Doku­men­tar­film­preis)
Ähnlich ging es mir bei Durch­gangs­land, auch eher ein etwas desolates Konglo­merat an Zusam­men­stel­lungen, die irgendwie kein richtiges Bild von Fortezza/Fran­zens­feste, einem Grenz- und Logistik-Ort zwischen Öster­reich und Italien, ergeben. Mal gesetzte Inter­views, dann eine Art Straßen­um­frage, Bauar­beiter beim Tunnelbau, ein Eisschwimmer, ein paar Mal ein Kreis­ver­kehr, der trotz seiner Schlam­pig­keit ein bisschen wie der verzwei­felte Versuch wirkt, etwas zusam­men­zu­halten oder eben, logisch, Wieder­ho­lung zu sugge­rieren und dann noch die sehr seltsame Auswahl der Musik (Schubert ist natürlich ein Garant an Tiefsinn und erst recht an einem vereisten See, aber das kann auch gewollt wirken, genauso wie das Klavier­kon­zert in der Tunnel­bau­stelle). Außerdem gab es Unsau­ber­keiten im Schnitt, im Rhythmus, und auch in den Unter­ti­teln.
Richtig zusammen ist das Material nicht, aber so richtig getrennt, quasi ein frei zusam­men­setz­barer Mate­ri­al­haufen, ist es eben auch nicht.
Auf der anderen Seite: Viel­leicht ist es da eben genau so? Viel­leicht ist der Ort zerstü­ckelt, viel­leicht gibt es da keine Dorf­ge­mein­schaft, viel­leicht kann man die alte Feste, die Baustelle und den Staudamm in der Nähe nicht verbinden. Viel­leicht ist er auch eine Art Ausstel­lungs­film oder doch viel mehr das Resultat von künst­le­ri­scher Forschung oder eben wie „Avec la 4e Division Marocaine de Montagne“ auch die Infra­ge­stel­lung von „normierter“ Wissens­ge­ne­rie­rung?

Keine Ahnung, kann man aber gut darüber nach­denken. Nach­denken konnte man auch gut über »In/direct Cinema: Posi­tionen des beob­ach­tenden Doku­men­tar­films«. Offenbar gibt es die These, dass es immer weniger rein beob­ach­tende Doku­men­tar­filme gibt. Gisela Tuch­ten­hagen und Jan Soldat haben sich darüber auf einem Panel unter­halten und besonders Soldat schien erst mal nicht so recht zu wissen, warum er da saß. Dabei war es eine groß­ar­tige Besetzung, denn die beiden könnten nicht unter­schied­li­cher sein, aber genau das kann zu einer frucht­baren Diskus­sion führen, besonders, wenn man sich auf der mensch­li­chen Ebene versteht.
Andockend an die Diskus­sionen, die schon seit den 1960er Jahre statt­finden, Stich­worte: Direct Cinema und Cinéma vérité oder die Kreimaier-Wildenhan-Debatte in den 80ern, ging es wieder mal um nichts weniger als die Wirk­lich­keit. Aber erst einmal stand die Suche nach der Form im Vorder­grund. Tuch­ten­hagen, die als Kame­ra­frau auch mit Wilden­hahn gedreht hat und Soldat, der sich alleine mit DV-Kamera auf den Weg macht, bildeten schon beim Ansehen der ersten Film­bei­spiele einen Kontrast. So lief ein Ausschnitt von Tuch­ten­ha­gens Was ich von Maria weiß (1972 Regie, Kamera, Schnitt), in dem zwei junge Mädchen auf einer gemein­samen Reise begleitet werden. Im Off werden dabei u.a. ihre ökono­mi­schen Verhält­nisse bespro­chen. Der zurück­hal­tenden Kamera von Tuch­ten­hagen folgt ein Ausschnitt von Soldats Ein Wochen­ende in Deutsch­land (2013), zu sehen sind Manfred und Jürgen beim Sex, sich gegen­seitig versohlen und im Internet nach einem „Spiel­ge­fährten“ suchend. Tuch­ten­hagen ganz ehrlich und direkt danach: „Oh Mann, was denke ich jetzt darüber?“ Aber wenn einem nicht alles klar ist, kommt man zu Fragen.
Das Gespräch drehte sich viel um Augenhöhe, Hier­ar­chie, Distanz, aber auch um das Thema Recherche – Tuch­ten­hagen recher­chiert und diese Recherche fließt dann voll mit rein, Soldat recher­chiert nicht, sondern wirft sich gleich selbst voll mit der Kamera rein. Einig ist man sich, dass Beob­ach­tung eine Haltung ist, die aber natürlich oft durch struk­tu­relle Bedin­gungen, z.B. im TV, unmöglich gemacht wird.

Ein bisschen mehr dieser schein­baren „Konfron­ta­tionen“, „Kontraste“ oder „Wider­sprüche“ hätten auch der Film­aus­wahl der Duis­burger Filmwoche gutgetan, die doch ein bisschen homogen erschien dieses Jahr, viel Beob­ach­tung, Ruhe, Sensi­bi­lität, Vers­tändnis, viel­leicht auch nichts falsch machen wollen und deshalb auch wenig auspro­bieren oder ein (formales) Risiko eingehen (Ausnahmen habe ich beschrieben). Aber Duisburg hat es wieder geschafft, einen oder mehrere offene Diskus­si­ons­räume zu schaffen, und einer ist immer noch offen.