Verwegen echt |
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Einer der spannendsten Filme dieses Jahr: Landschaft und Wahn von Nicole Vögele | ||
(Foto: 48. Duisburger Filwoche) |
Von Nora Moschuering
Vom „verwegenen Ambiente in Duisburg“ hat Sebastian Höglinger (Jury 3sat-Dokumentarfilmpreis, ehemaliger Leiter der Diagonale Graz) bei der Preisverleihung gesprochen und damit einen Slogan gefunden, den die Marketingabteilung der Stadt Duisburg aufnehmen könnte, auch wenn „Duisburg ist echt“, womit momentan geworben wird, doch auffallend gut zur Duisburger Filmwoche passt.
„Verwegen echt“, wer weiß, also vielleicht im nächsten Jahr als Motto, dieses Mal war es: „Entferntes Sortieren“. Festivalleiter Alexander Scholz erklärt es als ein „Aus der Ferne sortieren“ oder auch damit, dass man die Sortierung entfernen sollte. »Auf unseren heimlichen Watchlists begegnet uns das Dokumentarische allerdings auch in seiner konventionellen, mithin kommodifizierten, Form:« Dokus bieten uns die Welt als Produkt an, holen die Wirklichkeit griffbereit und mundgerecht in unsere Nähe: vorportioniert und vorsortiert. Derart Formatiertes mag unterhalten, oft lässt es uns aber schweigend zurück. Wenn Filme schon alles wissen, gibt es nichts mehr zu sagen. Wenn man Leute schon einsortiert hat, hört man nicht mehr hin, was sie nach dem Film zu sagen haben. (https://protokult.de/blog/entferntes-sortieren/). Duisburg sucht also nach Filmen, die nicht alles vorgeben oder wissen, Filme mit Lücken, die von den Zuschauenden gefüllt werden, Filmen mit Offenheit.
Spannend ist es auch, an allen Tagen dabei zu sein, Bezüge und Verweise zu sehen, Themen fallen zu lassen und sie wieder aufzunehmen, es passiert nämlich ganz schön viel. Damit sind wir auch bei einem Problem dieses Textes, auch für ihn ist nämlich eine Sortierung hilfreich – an der sich dann gerne jeder, der mag, abarbeiten kann. Dieser Text sortiert die Filme in zwei Themenfelder und kann demnach nur eine extrem, grobe Sortierung sein.
Es gibt eine Tendenz des Rückzugs, in Räume, die durch ihre Abgeschlossenheit kontrollierbar sind, oder es zumindest erscheinen. Aber natürlich sind es dennoch Räume, die politisch sind, und in denen man dem Außen nicht entkommt. So sind diese Räume auch immer fragil und man spürt in jedem Moment, dass sie sich auflösen können.
Sehr offensichtlich wird das in zwei Filmen aus dem Iran, deren Regisseur*innen mittlerweile in Hamburg und Berlin leben.
My Stolen Planet von Farahnaz Sharifi
Sharifi erzählt von den zwei Planeten auf denen sie zu Hause ist: Auf dem einen sieht man die Bilder eines Mädchens mit Kopftuch, das von Jahr zu Jahr darunter älter wird. Auf dem anderen, das gleiche Mädchen im Hof des Hauses, das Kopftuch hat sie abgenommen. Ein Planet für draußen, auf dem man mit dem Kopftuch altert, eine Brille bekommt, sie
wechselt, ein Planet für innen: Hier wird getanzt, gemeinsam das offene Haar geschnitten und dabei gefilmt.
Sharifi sammelt Filmmaterial, Super8 Material von vor der Revolution, digitalisiert es und fragt sich, wo diese Menschen jetzt sind. Sie selbst ist 1979 geboren und filmt ihr eigenes Archiv, eine Art Tagebuch, aber auch 40 Jahre iranische Geschichte.
Besonders das Tanzen wird dabei zu einem Ausbruch der Freiheit, des Widerstandes. Freundschaft und Familie, die eigenen vier Wände zur
einzigen Möglichkeit, sich auszuleben, auszudrücken.
Der Film endet mit einer Kreisbewegung, denn vielleicht wiederholt sich die Geschichte: Sharifi geht ins Exil und ihr Archiv wird beschlagnahmt, so gehen auch ihre Filme in ein kollektives Gedächtnis über, Material das vielleicht von jemand anderem gefunden und neu sortiert wird.
Was hast du gestern geträumt, Parajanov? von Faraz Fesharaki (3sat-Dokumentarfilmpreis)
Auch dieser Film beschäftigt sich viel mit Innenräumen/privaten Räumen, aber dieses Mal auch noch mit der Innerlichkeit von digitalen Bildern. Fesharaki beginnt mit Online-Treffen: verpixelte Bilder von digitalen Gesprächen, die manchmal stoppen, in der Zeit springen, Menschen verschwinden, treten ein, werden im Hintergrund erkannt und vor die Kamera geholt. Die
Eltern sind in Isfahan, der Sohn in Berlin und der Cousin in Wien. Distanz wird so gut wie möglich überbrückt, um am Leben der Anderen teilzuhaben.
Aber der Regisseur hat sich auch ein bisschen seine Familie erschaffen, sie sich im Schnitt erträumt (Geständnisse eines Filmemachers auf dem Podium), mit dem Material gespielt und es sortiert. Es ist eine Menge, was man über 10 Jahre sammeln kann. Dabei ist Alltägliches: Was hat man gegessen, aber auch Gespräche mit der Mutter über ihre
Inhaftierung. Den Film durchziehen stark strukturierende Elemente: Kapitel, Musik, Titel, sich wiederholende Klänge. Es gibt automatische Aufnahmen, zufälliges Material und immer wieder Poetisches, indem er im Nachhinein die Mutter in den Fokus nimmt, die im Hintergrund ist, sie einfängt und ihr so über den Film sagt, wie wichtig sie ihm ist.
Irgendwann geht es auch raus aus dem digitalen Raum (den wir natürlich nie verlassen), die Eltern besuchen den Sohn in Berlin und
sitzen schließlich an einem eigentlich ausgetrockneten Fluss, der ausnahmsweise wieder Wasser führt und sprechen über ihre Liebe.
Das sind zwei ziemlich schöne und ziemlich intime Einblicke in private Leben, die gar nicht unpolitisch gedacht werden können.
In den folgenden zwei Filmen geht es um Sprache und die eigene Stimme und die Kommunikation innerhalb von Familien:
Ó mǎ von Mengzhu Xue
Die Enkelin will ihrer Oma ein Geheimnis erzählen, kann es aber nicht, sie kodiert es doppelt und versinkt mit ihrer Oma in einem klugen Übersetzungsprozess, der einen
etwas hilflos aber trotzdem auch getröstet zurücklässt. Ihre Oma liest einen von ihr geschriebenen Text auf Chinesisch vor, der auf Chinesisch keinen Sinn ergibt, in dem man aber durch die Aussprache den Inhalt auf Englisch versteht. Da die Großmutter aber kein Englisch versteht, verstehen nur wir und die Enkelin, worum es geht. Die macht es aber auch uns nicht einfach, denn auch die Untertitel sind eher lautmalerisch.
Ó mǎ ist dabei ein sehr
visueller Film, er gleitet von unspektakulären Bildern vom Balkon rüber in Traumsequenzen, eine Spinne und ein Wollknäuel sind zu sehen und ein Aquarium, das sich umdreht. So ist der Film irgendwie ein Experiment und irgendwie ein Gedicht und zusammen mit „Die Stimme des Ingenieurs“ einer der wenigen Filme, die ich sowohl was Inhalt, als auch was Form angeht, am offensten und experimentellsten (im besten Sinn) empfunden habe.
Die Stimme des Ingenieurs von André Siegers (Preis der Stadt Duisburg)
Der Vater, Konrad Siegers, hat ALS, was in seinem Fall zu einem Stimmverlust führen wird. Für den Vater ist die Stimme ein Teil der Persönlichkeit, so arbeitet er an der Stimme, macht Sprechübungen, möchte aber seine Stimme auch bewahren. Er ist Ingenieur, hat einen Rasenmäher-Roboter im Garten und einen Staubsauger-Roboter im Haus und versucht, mit Hilfe eines
individualisierten Sprechcomputers seine Stimme zu bewahren, einerseits um sich damit weiterhin mitteilen zu können, vielleicht aber auch, damit man sie nach seinem Tod hörbar machen kann. Er spricht immer mehr Sätze in den Computer ein. Siegers nähert sich dem häuslichen Umfeld und der Begriffe, findet Bilder für Worte, die er versteht, Unverständliches dagegen führt auch zu keinem Bild.
Mit einer ähnlichen Faszination wie der Ingenieur hebt auch er irgendwann ab: Findet
Bilder für den Mond, die Planeten, das Weltall, die Raumsonde, in der Laterne, in Lichtern im Garten, hebt ab, mit einer Drohne, über die Vorort-Häuser und stellt irgendwann die Welt auf den Kopf und zeigt damit die Größe von allem.
Als Kontrast zu diesen beiden auch sehr persönlichen Filmen, die aber allein in ihrer Form schon darüber hinausreichen, kurz zu Ernte von Sebastian Schönfeld & Pauline Cemeris und Da haben wir getanzt von Andreas Boschmann. In Ernte sieht man Opa Alexander in einem Garten beim Ernten und dabei er erzählt von der Deportation seiner Familie aus der wolgadeutschen Republik, vom Säen und Vorräte anlegen. Neben relativ konservative Lebenseinstellungen und Wertvorstellungen ist auch die Parallelität von Bildern und Geschichte so offensichtlich wie langweilig. Auch in Da haben wir getanzt beobachtet der Enkelsohn seine Großeltern, hier besonders seine Oma. Sie kümmert sich um den Großvater, setzt seine Zähne ein, füttert ihn, dann kommt der Enkel und sagt von hinter der Kamera: „Lass ihn doch selber essen!“ Das ist unangenehm und man weiß nicht so recht, wo das hinführt, geht das um Pflege, um eine Ehe, um familiäre Beziehungen? Boschmann hat schon drei Filme über seine Familie gedreht. »Das Gefühl, mit der Kamera in einer fremden Umgebung zu sein, kommt Boschmann einfach nicht richtig vor«, sagt er im Protokoll. Gute Frage, ob man mit seiner Familie eigentlich immer alles machen darf.
Das zweite Themenfeld ist „Landschaft und Krieg“, wenn man so will, die nach „Außen-Bewegung“ der Filme des ersten Blocks.
Landschaft und Wahn von Nicole Vögele
Der Film ist eine Art Namensgeber für diesen Block und einer der spannendsten Filme dieses Jahr. Beobachtet werden Flüchtlingsbewegungen an der Grenze von Bosnien nach Kroatien, einer Gegend, in der Menschen leben, die den Jugoslawienkrieg mittelbar oder unmittelbar miterlebt haben. (Tipp: Ein weiterer Film, der sich mit der Gegend beschäftigt und eine ähnliche Bewegung macht, aber doch ganz anders
ist, ist Lara Milena Broses Echoes from Borderland).
Es geht um Menschen, die sich durch diese sehr schöne, aber auch gezeichnete Grenzlandschaft bewegen, die auf der Flucht vor einem Krieg sind und die Hoffnung haben, irgendwann irgendwo anzukommen und ein Leben leben zu können. Sie gehen immer wieder los, „Game“ nennen sie das, den Versuch, über die Grenze zu kommen. Oft gelingt es ihnen nicht, wegen der sogenannten „Pushbacks“, dann
landen sie wieder dort, wo sie gestartet sind, z.B. in einer alten Schule, in der sie kurz zur Ruhe kommen können, essen, waschen, atmen.
Daneben gibt es die Kriegsveteranen, die die Orte der Kämpfe aufsuchen. Dort gibt es immer noch vermintes Gebiet, das man nicht betreten soll. Man sieht die Landschaft und wie sie sich durch die Gespräche verändert, durch das Wissen, das wir bekommen, wenn Menschen von ihr erzählen oder durch sie hindurchlaufen.
Zugegebenermaßen war ich zu
Beginn etwas ermüdet von den langen Einstellungen einer Landschaft, in der man Gestalten eher erahnt als wirklich sieht, aber je näher sich Vögele auf sie zubewegt, je näher sie ihnen kommt, und das passiert gar nicht so früh, desto mehr schafft sie es auch, dass man die gesehenen Bilder neu „sieht“, neu einordnet.
Vögeles Weise Filme zu machen, so erzählt sie im Gespräch,
ist aber auch einer Art Widerstand, Kontrast oder eben künstlerische Form, gegenüber ihrer eigenen Arbeit beim Fernsehen, wo sie, vor ihrem Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg, gearbeitet hat und immer noch arbeitet. Sie wollte sich eben genau davon ansetzen. Pro Tag hat sie sich eine 16mm-Rolle erlaubt, auch das, um zu mehr Konzentration im Bildermachen zu kommen.
Dear Beautiful Beloved (Publikumspreis der Rheinischen Post) von Juri Rechinsky
Dear beautiful beloved ist wahrscheinlich der heftigste Film der diesjährigen Filmwoche, denn was schon auffällt, ist, dass sich einige Filme um Geschehen herum bewegen und sich scheuen mitten hineinzugehen und es manchmal dazu kommt, dass eine hohe Sensibilität z.B. für oder eben gegen das Zeigen von alten und kranken Menschen
besteht – siehe: „Da haben wir getanzt“ – was aber auch dazu führen kann, dass man sich hinter seinen eigenen Befindlichkeiten versteckt und das Leben, das aber einfach zuschlagen kann, damit ausklammert und scheinbar beschwichtigt.
Der Film erzählt von der Evakuierung von alten und kranken Menschen, aus ihren Wohnungen und Häusern nahe der Frontlinie in der Ukraine. Oft sind es Menschen, die keine Angehörigen mehr haben oder deren Angehörige sich im Krieg
befinden. Gerahmt werden diese Menschen von Frauen und Kindern, die aus dem Land flüchten. Viel wird gewartet in überfüllten Transitunterkünften, Tee und Unsicherheiten geteilt, nach dem Hab und Gut gefragt und Verwandte angerufen. Sie suchen nach einem sicheren Ort, an dem sie allerdings, zumindest im Film, nie ankommen.
Außerdem begleitet man Forensiker und Militärs an der Front dabei, die toten Soldaten identifizieren und bergen und sie schließlich zu ihren Angehörigen
bringen. Hier bleibt der Film auf Distanz, geht aber später näher z.B. zu einer jungen Frau und einem alten Mann, der sich immer wieder an seine linke Brust greift, die die Gefundenen an die Angehörigen übergeben.
Es gibt durchaus Momente, an denen der Film diese schmale Grenze aus dem: »So hart und grausam es ist, man muss es gerade deshalb zeigen« und: »das geht einen Schritt zu weit, verletzt den Gezeigten und überfordert den, der es sieht maßlos«, übertritt. Allerdings ist diese
Grenze natürlich immer eine, die sehr individuell austariert werden muss. Die iranische Künstlerin und Medienwissenschaftlerin Sarah Savalanpour, die aufgrund der krankheitsbedingten Abwesenheit von Farahnaz Sharifi (My Stolen Planet), zum Gespräch zugeschaltet war, sagte zu einem ähnlichen Fall: »Es ist ein Privileg, sich diesen Bildern entziehen zu können. Betroffene seien dem schon
seit Jahrzehnten ausgesetzt«. Das unbedingt empfehlenswerte Protokoll dieses Gesprächs gibt es hier.
Dom von Svetlana Rodina & Laurent Stoop
Dass ein Gespräch auch nicht so konstruktiv sein kann, weil es sehr individuell ums Ich und die eigene Intuition geht, zeigt das Protokoll von Dom, der als Eröffnungsfilm lief. Der Film an sich zeigt eine andere Seite des Krieges, es geht um russische Journalist*innen die das Land verlassen und für
eine Zeit Unterschlupf in Tiflis finden. Damit zieht der Film sich doch auch wieder in den Privatbereich zurück, einmal in den Raum des Hauses, aber auch sehr stark in die Gesichter der Protagonist*innen, in denen sich Unsicherheit, Angst und Entfremdung spiegeln, was auch im Sounddesign suggeriert wird, die aber auch, durch ihre Jugendlichkeit, fast was Ikonenhaftes bekommen. Nichtsdestotrotz sieht man, wie sich Gruppen und Gemeinschaften finden und wie diese auf die Nachrichten aus Russland
reagieren oder auf einen Besuch der Großmutter, die eindeutig von russischer Propaganda infiltriert ist, und wie sie versuchen weiterzumachen und sich dagegen zu wehren. (Tipp: „Of caravan and the dog“ von Askold Kurov und Anonymous1, ist auch ein gutes Beispiel dieser russischen Exilant*innen-Perspektive, die noch vor dem russischen Angriffskrieg einsetzt und über Zensur und Kontrolle russischer Medien berichtet, das alles aber in einem weniger „homogenen“ Umfeld).
Noch mal zum Begriff der Lücke, zwei Filme, über die ich mir viele Gedanken gemacht habe, gerade weil ich sie erst einmal nicht richtig gelungen finde, haben es aber geschafft, weiter in mir zu arbeiten.
Avec la 4e Division Marocaine de Montagne von Stefania Smolkina beschäftigt sich mit einem Artefakt in einem Felsen, ein sogenannter Marokkanerstern, ein rotes Pentagramm, den marokkanische Soldaten am Ende des 2. Weltkrieges in den Stein gehauen haben. Sie haben die Brücke errichtet und so geht es in dem Film um Erinnerungspolitik, speziell im Vorarlberg, aber auch überall. Verschiedenes Material wird zusammengetragen, besonders ein Album von 1945, die Publikation der französischen Armee, aber auch andere Texte, Karten und Tagebucheintragungen, bei denen der Zusammenhang manchmal auch recht unklar ist. Man bekommt deshalb das Gefühl, dass man etwas folgt, dem aber nicht näher kommt, etwas beleuchtet wird, das aber gleich danach wieder im Dunkel verschwindet. Im Gespräch hieß es, dass er im Ausstellungskontext entstanden ist und in eine Ausstellung passt er auch in seiner Fragmenthaftigkeit, in einen Raum, mit verschiedenen Exponaten, so dass der Film auch noch mal mit ihnen interagiert.
Durchgangsland von Daniel Fill (ARTE-Dokumentarfilmpreis)
Ähnlich ging es mir bei Durchgangsland, auch eher ein etwas desolates Konglomerat an Zusammenstellungen, die irgendwie kein richtiges Bild von Fortezza/Franzensfeste, einem Grenz- und Logistik-Ort zwischen Österreich und Italien, ergeben. Mal gesetzte Interviews, dann eine Art Straßenumfrage, Bauarbeiter beim Tunnelbau, ein Eisschwimmer, ein paar Mal ein
Kreisverkehr, der trotz seiner Schlampigkeit ein bisschen wie der verzweifelte Versuch wirkt, etwas zusammenzuhalten oder eben, logisch, Wiederholung zu suggerieren und dann noch die sehr seltsame Auswahl der Musik (Schubert ist natürlich ein Garant an Tiefsinn und erst recht an einem vereisten See, aber das kann auch gewollt wirken, genauso wie das Klavierkonzert in der Tunnelbaustelle). Außerdem gab es Unsauberkeiten im Schnitt, im Rhythmus, und auch in den
Untertiteln.
Richtig zusammen ist das Material nicht, aber so richtig getrennt, quasi ein frei zusammensetzbarer Materialhaufen, ist es eben auch nicht.
Auf der anderen Seite: Vielleicht ist es da eben genau so? Vielleicht ist der Ort zerstückelt, vielleicht gibt es da keine Dorfgemeinschaft, vielleicht kann man die alte Feste, die Baustelle und den Staudamm in der Nähe nicht verbinden. Vielleicht ist er auch eine Art Ausstellungsfilm oder doch viel mehr das Resultat
von künstlerischer Forschung oder eben wie „Avec la 4e Division Marocaine de Montagne“ auch die Infragestellung von „normierter“ Wissensgenerierung?
Keine Ahnung, kann man aber gut darüber nachdenken. Nachdenken konnte man auch gut über »In/direct Cinema: Positionen des beobachtenden Dokumentarfilms«. Offenbar gibt es die These, dass es immer weniger rein beobachtende Dokumentarfilme gibt. Gisela Tuchtenhagen und Jan Soldat haben sich darüber auf einem Panel unterhalten und besonders Soldat schien erst mal nicht so recht zu wissen, warum er da saß. Dabei war es eine großartige Besetzung, denn die beiden könnten nicht
unterschiedlicher sein, aber genau das kann zu einer fruchtbaren Diskussion führen, besonders, wenn man sich auf der menschlichen Ebene versteht.
Andockend an die Diskussionen, die schon seit den 1960er Jahre stattfinden, Stichworte: Direct Cinema und Cinéma vérité oder die Kreimaier-Wildenhan-Debatte in den 80ern, ging es wieder mal um nichts weniger als die Wirklichkeit. Aber erst einmal stand die Suche nach der Form im Vordergrund. Tuchtenhagen, die als Kamerafrau auch
mit Wildenhahn gedreht hat und Soldat, der sich alleine mit DV-Kamera auf den Weg macht, bildeten schon beim Ansehen der ersten Filmbeispiele einen Kontrast. So lief ein Ausschnitt von Tuchtenhagens Was ich von Maria weiß (1972 Regie, Kamera, Schnitt), in dem zwei junge Mädchen auf einer gemeinsamen Reise begleitet werden. Im Off werden dabei u.a. ihre ökonomischen Verhältnisse besprochen. Der zurückhaltenden Kamera von Tuchtenhagen folgt ein
Ausschnitt von Soldats Ein Wochenende in Deutschland (2013), zu sehen sind Manfred und Jürgen beim Sex, sich gegenseitig versohlen und im Internet nach einem „Spielgefährten“ suchend. Tuchtenhagen ganz ehrlich und direkt danach: „Oh Mann, was denke ich jetzt darüber?“ Aber wenn einem nicht alles klar ist, kommt man zu Fragen.
Das Gespräch drehte sich viel um Augenhöhe, Hierarchie, Distanz, aber auch um das Thema Recherche –
Tuchtenhagen recherchiert und diese Recherche fließt dann voll mit rein, Soldat recherchiert nicht, sondern wirft sich gleich selbst voll mit der Kamera rein. Einig ist man sich, dass Beobachtung eine Haltung ist, die aber natürlich oft durch strukturelle Bedingungen, z.B. im TV, unmöglich gemacht wird.
Ein bisschen mehr dieser scheinbaren „Konfrontationen“, „Kontraste“ oder „Widersprüche“ hätten auch der Filmauswahl der Duisburger Filmwoche gutgetan, die doch ein bisschen homogen erschien dieses Jahr, viel Beobachtung, Ruhe, Sensibilität, Verständnis, vielleicht auch nichts falsch machen wollen und deshalb auch wenig ausprobieren oder ein (formales) Risiko eingehen (Ausnahmen habe ich beschrieben). Aber Duisburg hat es wieder geschafft, einen oder mehrere offene Diskussionsräume zu schaffen, und einer ist immer noch offen.