12.12.2024

Der europäische Film ist ein Elitenprojekt geworden

Bird - Andrea Arnold
Einer der großen Verlierer des Europäischen Filmpreises 2024: Andrea Arnolds Bird...
(Foto: MFA+)

Wo sind die Stars? Wo ist die Seele? Europäisches Kino ist gesichtsloser denn je; es heißt längst nicht mehr künstlerische Identität, sondern Wirtschaftsstandort – Überlegungen aus Anlass der Europäischen Filmpreises

Von Rüdiger Suchsland

Viermal war er nominiert und alle vier Preise konnte er am Samstag gewinnen: Jacques Audiard und sein facet­ten­rei­cher, ziemlich breit geschätzter Film Emilia Pérez waren die großen Gewinner der 37. Verlei­hung der Europäi­schen Film­preise: Bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch und beste Haupt­dar­stel­lerin, mehr geht kaum. Dazu kam noch ein Preis für die beste Montage unter den tech­ni­schen Kate­go­rien, die leider anders vergeben werden und aus dem Preis eine Zwei­klas­sen­ge­sell­schaft machen, bei denen Kamera und Montage, also die Urgram­matik des Kinos, zu »ferner liefen« degra­diert werden.
Aber das nur nebenbei – es ist wirklich nicht das größte unter den vielen Problemen der Europäi­schen Film­preise.

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Man kann nicht sagen, dass das eine wirkliche Über­ra­schung war – allen­falls die Eindeu­tig­keit des Sieges von Emilia Pérez über­rascht.

Zu jedem großen Sieger gehört auch ein großer Verlierer. Der ist in diesem Fall der spanische Regisseur Pedro Almodóvar. Ebenfalls viermal nominiert, konnte er mit seinem Film The Room Next Door keinen einzigen Preis gewinnen.
Neben Emilia Pérez blieb auch sonst nicht mehr viel Platz. So gewannen auch Filme wie Das Mädchen mit der Nadel, Die Saat des heiligen Feigen­baums und Andrea Arnolds Bird trotz mehr­fa­cher Nomi­nie­rungen keinen einzigen Preis.

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Das Verfahren, das zu diesen Preisen führte, ist hyper­de­mo­kra­tisch: Über 5000 Mitglieder, die Mitglieder der Europäi­schen Film­aka­demie EFA mit Sitz in Berlin, können gleich­be­rech­tigt abstimmen bei der Verlei­hung der Europäi­schen Film­preise, egal, ob sie alle Filme gesehen haben, und egal, ob sie sie im Kino gesehen haben.
Die Verlei­hung findet jedes Jahr in einer anderen europäi­schen Stadt statt, am Samstag bereits zum 37. Mal und diesmal im Schweizer Ferienort Luzern.

Dort konnte das europäi­sche Kino am letzten Wochen­ende sich einmal mehr selbst feiern.

Die Feier selbst wurde aller­dings durch den Ablauf getrübt: Über fünf Stunden mussten die Gäste des Abends im Saal zubringen. Zunächst etwa zwei Stunden Wartezeit bis zum Beginn der eigent­li­chen Veran­stal­tung. Die dauerte dann nochmal gute drei Stunden, die mit entbehr­li­chen Inter­mezzi und vor allem mit über­langen Dankes­reden gefüllt waren, bei denen alle dreimal das Gleiche sagten und in jedem Fall nichts irgendwie Origi­nelles. Hinzu kam, dass alle seit spätes­tens 18 Uhr nichts gegessen hatten, also bis nach 23 Uhr hungrig im Saal zubringen mussten.

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Besonders emotional sind bei solchen Anlässen und auch diesmal die Ehren­preise: Ein Preis für sein Lebens­werk ging an den deutschen Filme­ma­cher Wim Wenders, den Mitbe­gründer der Europäi­schen Film­aka­demie und über 24 Jahre ihr Präsident – bei Wenders hatte man gedacht, er habe diesen Preis schon mehr als einmal bekommen. Oder gefühlt jedes Jahr aufs Neue einen anderen Preis.

Die Auszeich­nung für ihre Leis­tungen fürs Weltkino bekam die Schau­spie­lerin Isabella Rossel­lini – hoch­ver­dient und zugleich eine Erin­ne­rung an die echten Glanz­zeiten des europäi­schen Kinos. Denn Rossel­lini ist zwar längst eine Künst­lerin aus eigenem Recht, aber sie trägt auch den großen Namen ihres Vaters Roberto Rossel­lini, eines der bedeu­tendsten Regis­seure der Film­ge­schichte. Und wer sie sieht, wird immer auch an ihre Mutter denken: Die Schwedin Ingrid Bergman, eine der großen Ikonen des klas­si­schen Kinos.

Darüber, dass diese Glanz­zeiten vorerst vorbei sind, kann aber nun auch die gemüt­lichste Preis­ver­lei­hung nicht hinweg täuschen.

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Denn zunehmend sind die Kriterien des »Europäi­schen« frag­wür­diger, ist es schwerer zu sagen, was eigent­lich überhaupt »europäi­scher Film« heißt. Das europäi­sche Kino ist längst zu einer Art Welt-Kino und Schau der Welt­kul­turen geworden – wie die dies­jäh­rigen Filme perfekt illus­trierten: Sieger Emilia Pérez ist ein fran­zö­si­scher Film in spani­scher Sprache, der in Mexiko spielt, und zu einem Großteil US-ameri­ka­ni­sche Haupt­dar­steller hat; der ein bisschen Musical ist, ein bisschen Drogen-Gangster-Film und ein bisschen Trans­gender-Empower­ment.
Sein größter Konkur­rent war das Melodram eines spani­schen Regis­seurs, der mit einer US-ameri­ka­ni­schen und einer briti­schen Schau­spie­lerin in New York gedreht hat.
Der Doku­men­tar­film-Sieger No Other Land ist ein israe­lisch-arabi­scher Film, der europäisch nur durch die betei­ligten Produk­ti­ons­firmen wird, nicht aber durch sein Thema oder seine Prot­ago­nisten.

Europäi­sches Kino – das heißt also hier nicht künst­le­ri­sche Identität, sondern es heißt Wirt­schafts­standort. Genau dies ist aber die größte Belastung für die Zukunft des europäi­schen Films und seiner Europäi­schen Film­aka­demie. Denn im 37. Jahr ist das europäi­sche Kino und nicht nur die europäi­schen Film­preise gesichts­loser denn je geworden.

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Wo ist denn all das, was es einst gab: Europäi­sches Genre-Kino, also Science-Fiction-Filme, Gangs­ter­mo­vies und Horror aus Europa – Anlass dazu gäbe es schließ­lich genug?
Wo sind denn die Stars, die dem europäi­schen Kino jenseits der geschickten Kombi­na­tion von zehn europäi­schen Förder­töpfen aus acht Ländern auch eine Seele einhau­chen? Die das Potenzial haben, ganz Europa zu vereinen durch ihre Schönheit und ihr Charisma – so wie das einst ein Marcello Mastroi­anni, eine Romy Schneider oder eine Jeanne Moreau vermochten?

Das europäi­sche Kino hat auch zu den aktuellen Problemen und Sorgen von Europa recht wenig zu sagen. Ebenso wenig zu der Stellung Europas in der Welt. Zu einem Krieg wie in der Ukraine fällt ihm vor allem ein, dass dieser Krieg schreck­lich ist und die Menschen­rechte wichtiger denn je – fair enough, aber das genügt nicht.
Zur Causa der israe­lisch-arabi­schen Bezie­hungen, die wir uns angewöhnt haben »Nahost-Konflikt« zu nennen, schweigt man am besten, denn sonst würde man sich auch mit Freunden heftig streiten.
Zum breiten Anti­se­mi­tismus in der Kultur- und Wissen­schafts­szene Europas schweigt man erst recht aus ähnlichen Gründen. Filme, die beides ernsthaft anspre­chen, also jenseits der Selbst­ver­s­tänd­lich­keiten (Menschen­rechte und so) und der Wohl­fühl­n­ar­ra­tive der Gebil­deten gibt es kaum.
Beim Rechts­extre­mismus ist man klar dagegen – das ist dem europäi­schen Kino dann plötzlich ganz selbst­ver­s­tänd­lich. Aber es übersieht dabei, dass ein Zehntel, ein Viertel oder gar ein Drittel seines Publikums genau diese Rechts­extre­misten wählt. Es müsste also Filme geben, die diese poten­ti­ellen Wähler und Wutbürger adres­sieren, nicht nur die Gutmen­schen. Und die Wege finden, dass dieses Publikum nicht ins Streamer-Nirvana oder gleich an Quer­den­ker­por­tale verloren geht.

Die Sonn­tags­reden der europäi­schen Film­aka­demie helfen da nicht, sondern vers­tärken eher noch die Probleme.

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So droht die Europäi­sche Film-Akademie dem gleichen Schicksal zu verfallen, wie die Europäi­sche Union und so manches andere gut gemeinte Projekt: Man hebt ab, und richtet es sich gemütlich ein in seiner eigenen Blase.

Hart gesagt: Der europäi­sche Film ist gegen­wärtig ein Eliten­pro­jekt für eine kleine kunst­af­fine Schicht und für die Kultur­kauf­leute, bei dem es vor allem um Opti­mie­rung wirt­schaft­li­cher Abläufe geht, aber nicht um das, worum es tatsäch­lich gehen müsste – um Kultur. Also um Irri­ta­tion, Risiko, Mut und Neugier.