Cinema Moralia – Folge 344
Der Sinn des Lebens auf der Leinwand |
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(Foto: Universal Pictures) |
Auf der Suche nach den schönsten Kultur- und Kunstmomenten des Jahres wurde ich soeben nach meinem gefragt – und musste nicht lange nachdenken. Denn auch für einen professionellen Filmkritiker kann es nicht nur um den Film selber gehen. Natürlich liebt unsereiner die Kinokunst als solche, freut sich auf neue Filme, und selbstverständlich genießt man auch gelegentlich die Situation, zu den Auserwählten zu gehören, die ein lang erwartetes Werk – hoffentlich ein Meisterwerk! – als allererste mit Publikum auf einem Filmfestival sehen können. Trotzdem...
Was noch den schönsten Kinofilm in den Schatten stellt, ist das Erlebnis eines perfekten Augenblicks, ein unwiederholbares Ereignis, die Einmaligkeit im Hier und Jetzt. Es ist das, woran man sich noch mehr, als nur an den Film selbst erinnert: Die Gesamtsituation, in der der Kinoraum, die Menschen, mit denen man einen Film sieht, die Atmosphäre zwischen den Menschen und natürlich der Film selbst in eins fallen. Nur dann entfaltet sich das Ungreifbare, die Aura eines Film-Moments, die letztlich den Zauber der Traumfabrik, und das Unvergleichliche eines solchen Kinoaugenblicks ausmacht, und seit jeher ausgemacht hat.
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Zu einem solchen perfekten Kino-Augenblick kam es im vergangenen Jahr in Wien auf der altehrwürdigen Viennale, einem der sowieso schon durch Tradition und großartige Filmauswahl besten unter allen Filmfestivals der Welt.
Zur Viennale fährt man nicht, um die allerneusten Filme zu sehen, sondern für die besten Filme. Sie werden hier in einer zuverlässigen Auswahl zusammengeführt.
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Es war Ende Oktober im Gartenbaukino an der Wiener Ringstraße. Dieses Kino ist für seine schöne zurückhaltend modernistische Architektur und die gepflegt bürgerliche Ausstattung ebenso berühmt, wie berüchtigt für seine geradezu irrwitzig perfekten Vorführer. Sie standen hier vor einer besonderen Herausforderung: An diesem Oktoberabend wurde The Brutalist von Brady Corbet gezeigt, einer der am meisten erwarteten Filme des Jahres. In Venedig hatte er seine Weltpremiere beim Festival, und den Regiepreis bekommen. Die Vorführungen am Lido ließen allerdings einiges zu wünschen übrig – auch weil dieser Film schwer vorzuführen ist im seltenen Format des 70mm-Zelluloid.
Das Kino war gefüllt bis auf den allerletzten Platz. Das Publikum war nicht zufällig da, sondern die Menschen wussten, was sie erwartete: Ein vierstündiges, dichtes Epos, Americana, ein Film wie ein dicker klassischer Roman, von Saul Bellow, John Dos Passos oder William Faulkner. Die 736 Plätze waren prall mit erwartungsvollen Cinephilen besetzt.
Schon vor dem Film kamen Unbekannte ins Gespräch wie Gläubige der gleichen Kirche. Spätestens in der Pause von genau einer Viertelstunde war klar: Man kannte hier die anderen zwei Filme von Brady Corbet, diesem jungen genialen Schauspieler, der mit diesem kleinen Werk zu einem der wichtigsten Regisseure der Welt geworden ist. Und man kannte und erkannte sich als gleichgesinnt, weil man jetzt hier war.
So muss Kino einmal gewesen sein, zur Hochzeit des Neorealismus oder der Nouvelle Vague – als man den Sinn des Lebens auf der Leinwand fand.
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Der Film hielt diesen Erwartungen stand: Ein großartiger Film, der an Citizen Kane erinnert, und an Filme von Paul Thomas Anderson und Christopher Nolan.
Ein Film, der vom Einwandern und dem Schicksal der Einwanderer erzählt, von Kunst und Vernichtung, Schönheit und Not.
Ein Film, der Ausdruck der Filmkunst ist und der ästhetischen Avantgarde unserer Gegenwart. Dieser Film selbst, der so heißt, weil er von einem Architekten des Brutalismus-Stil handelt, ist ein Brutalist; es ist wie Architektur brute, Filmemachen brute, rohe, modernistische Kunst und Feier des Nichteingängigen, Sperrigen – dies aber auf die eingängigste Weise, die möglich ist: unterhaltsam, sinnlich, ja: »konsumierbar«.
Nächste Woche kommt The Brutalist dann bei uns ins Kino.
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Man kann diesen Film nicht fassen. Jedenfalls nicht in einem Beitrag, nicht in einem Text. Es würde ein viel zu schlechter Text werden, wenn man versuchen würde, all die Aspekte, all die Ebenen und all die Facetten, die dieser Film enthält oder die er anreißt, in einen einzigen Text einzufügen. Oder es würde ein barock überladener, von zahlreichen Ornamenten bis zur Unlesbarkeit verschnörkelter Text werden – nicht dass ich so etwas nicht schon auch hier auf artechock geschrieben hätte, nicht dass ich mich vor so einem Text fürchten würde, denn die Fähigkeiten der Leser steigern sich mit ihren Aufgaben – aber mal sehen, was mir dann nächste Woche zu The Brutalist einfällt.
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Guy Pierce sei kein Philip Seymour Hoffmann und kein Daniel Day Lewis, schrieb ein US-Magazin nach der Premiere von The Brutalist. Gott sei Dank muss man sagen, Gott sei Dank ist Brady Corbet auch weder ein Paul Thomas Anderson noch ein Orson Welles. Weil seine Filme atmen und weil seine Filme ungemein persönlich sind, während Andersons Filme noch etwas mehr umgibt, und sein Kino schon seit
über zehn Jahren hat erstarren lassen, und seit 20 Jahren, direkt nach Magnolia eigentlich (und vielleicht ehrlicherweise schon vorher) ungemein bemüht wirken ließ.
Aber es ist zu früh, beide Filmemacher final einzuordnen, auch wenn manche US-Amerikaner jetzt schon den Terminus »Klassiker« für Anderson oder Corbet bemühen und damit glaube ich recht haben. Es ist auch zu früh, um The Brutalist mit einigen der genannten und vielen anderen Filmen letztlich ein für allemal zu vergleichen und im Verhältnis zu ihnen einzuordnen.
Nur sagen diese Vergleiche natürlich etwas aus. Wir machen uns klar, dass wir es hier mit einem Film zu tun haben, der alleine schon in seinem Anspruch – selbst dort wo er diesem Anspruch möglicherweise nicht genügt wird oder gar (Gott
bewahre!) scheitert – doch weit über das hinausgeht, was man so die Durchschnittsfilme des Kinos nennt, und auch weit über das hinaus, was man normalerweise bei Filmfestivals, auch bei sehr guten, geboten bekommt. Wir alle sehnen uns danach, hat Janick Nolting zu The Brutalist auf Kinozeit geschrieben, einen Film zu sehen, der es mit der Filmgeschichte und ihren Klassikern
aufnehmen kann. Dieser hier ist einer.