23.01.2025
Cinema Moralia – Folge 344

Der Sinn des Lebens auf der Leinwand

The Brutalist
(Foto: Universal Pictures)

So muss Kino einmal gewesen sein: Eine Erinnerung an den schönsten Kinomoment des letzten Jahres, die Viennale-Premiere von »The Brutalist« im Wiener Gartenbaukino und ein Vorausblick auf den Kinostart von Brady Corbets Meisterwerk – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 344. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Auf der Suche nach den schönsten Kultur- und Kunst­mo­menten des Jahres wurde ich soeben nach meinem gefragt – und musste nicht lange nach­denken. Denn auch für einen profes­sio­nellen Film­kri­tiker kann es nicht nur um den Film selber gehen. Natürlich liebt unser­einer die Kinokunst als solche, freut sich auf neue Filme, und selbst­ver­s­tänd­lich genießt man auch gele­gent­lich die Situation, zu den Auser­wählten zu gehören, die ein lang erwar­tetes Werk – hoffent­lich ein Meis­ter­werk! – als aller­erste mit Publikum auf einem Film­fes­tival sehen können. Trotzdem...

Was noch den schönsten Kinofilm in den Schatten stellt, ist das Erlebnis eines perfekten Augen­blicks, ein unwie­der­hol­bares Ereignis, die Einma­lig­keit im Hier und Jetzt. Es ist das, woran man sich noch mehr, als nur an den Film selbst erinnert: Die Gesamt­si­tua­tion, in der der Kinoraum, die Menschen, mit denen man einen Film sieht, die Atmo­sphäre zwischen den Menschen und natürlich der Film selbst in eins fallen. Nur dann entfaltet sich das Ungreif­bare, die Aura eines Film-Moments, die letztlich den Zauber der Traum­fa­brik, und das Unver­gleich­liche eines solchen Kino­au­gen­blicks ausmacht, und seit jeher ausge­macht hat.

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Zu einem solchen perfekten Kino-Augen­blick kam es im vergan­genen Jahr in Wien auf der altehr­wür­digen Viennale, einem der sowieso schon durch Tradition und groß­ar­tige Film­aus­wahl besten unter allen Film­fes­ti­vals der Welt.
Zur Viennale fährt man nicht, um die aller­neusten Filme zu sehen, sondern für die besten Filme. Sie werden hier in einer zuver­läs­sigen Auswahl zusam­men­ge­führt.

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Es war Ende Oktober im Garten­bau­kino an der Wiener Rings­traße. Dieses Kino ist für seine schöne zurück­hal­tend moder­nis­ti­sche Archi­tektur und die gepflegt bürger­liche Ausstat­tung ebenso berühmt, wie berüch­tigt für seine geradezu irrwitzig perfekten Vorführer. Sie standen hier vor einer beson­deren Heraus­for­de­rung: An diesem Okto­ber­abend wurde The Brutalist von Brady Corbet gezeigt, einer der am meisten erwar­teten Filme des Jahres. In Venedig hatte er seine Welt­pre­miere beim Festival, und den Regie­preis bekommen. Die Vorfüh­rungen am Lido ließen aller­dings einiges zu wünschen übrig – auch weil dieser Film schwer vorzu­führen ist im seltenen Format des 70mm-Zelluloid.

Das Kino war gefüllt bis auf den aller­letzten Platz. Das Publikum war nicht zufällig da, sondern die Menschen wussten, was sie erwartete: Ein vier­stün­diges, dichtes Epos, Americana, ein Film wie ein dicker klas­si­scher Roman, von Saul Bellow, John Dos Passos oder William Faulkner. Die 736 Plätze waren prall mit erwar­tungs­vollen Cine­philen besetzt.

Schon vor dem Film kamen Unbe­kannte ins Gespräch wie Gläubige der gleichen Kirche. Spätes­tens in der Pause von genau einer Vier­tel­stunde war klar: Man kannte hier die anderen zwei Filme von Brady Corbet, diesem jungen genialen Schau­spieler, der mit diesem kleinen Werk zu einem der wich­tigsten Regis­seure der Welt geworden ist. Und man kannte und erkannte sich als gleich­ge­sinnt, weil man jetzt hier war.

So muss Kino einmal gewesen sein, zur Hochzeit des Neorea­lismus oder der Nouvelle Vague – als man den Sinn des Lebens auf der Leinwand fand.

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Der Film hielt diesen Erwar­tungen stand: Ein groß­ar­tiger Film, der an Citizen Kane erinnert, und an Filme von Paul Thomas Anderson und Chris­to­pher Nolan.

Ein Film, der vom Einwan­dern und dem Schicksal der Einwan­derer erzählt, von Kunst und Vernich­tung, Schönheit und Not.

Ein Film, der Ausdruck der Filmkunst ist und der ästhe­ti­schen Avant­garde unserer Gegenwart. Dieser Film selbst, der so heißt, weil er von einem Archi­tekten des Bruta­lismus-Stil handelt, ist ein Brutalist; es ist wie Archi­tektur brute, Filme­ma­chen brute, rohe, moder­nis­ti­sche Kunst und Feier des Nicht­ein­gän­gigen, Sperrigen – dies aber auf die eingän­gigste Weise, die möglich ist: unter­haltsam, sinnlich, ja: »konsu­mierbar«.

Nächste Woche kommt The Brutalist dann bei uns ins Kino.

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Man kann diesen Film nicht fassen. Jeden­falls nicht in einem Beitrag, nicht in einem Text. Es würde ein viel zu schlechter Text werden, wenn man versuchen würde, all die Aspekte, all die Ebenen und all die Facetten, die dieser Film enthält oder die er anreißt, in einen einzigen Text einzu­fügen. Oder es würde ein barock über­la­dener, von zahl­rei­chen Orna­menten bis zur Unles­bar­keit verschnör­kelter Text werden – nicht dass ich so etwas nicht schon auch hier auf artechock geschrieben hätte, nicht dass ich mich vor so einem Text fürchten würde, denn die Fähig­keiten der Leser steigern sich mit ihren Aufgaben – aber mal sehen, was mir dann nächste Woche zu The Brutalist einfällt.

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Guy Pierce sei kein Philip Seymour Hoffmann und kein Daniel Day Lewis, schrieb ein US-Magazin nach der Premiere von The Brutalist. Gott sei Dank muss man sagen, Gott sei Dank ist Brady Corbet auch weder ein Paul Thomas Anderson noch ein Orson Welles. Weil seine Filme atmen und weil seine Filme ungemein persön­lich sind, während Andersons Filme noch etwas mehr umgibt, und sein Kino schon seit über zehn Jahren hat erstarren lassen, und seit 20 Jahren, direkt nach Magnolia eigent­lich (und viel­leicht ehrli­cher­weise schon vorher) ungemein bemüht wirken ließ.
Aber es ist zu früh, beide Filme­ma­cher final einzu­ordnen, auch wenn manche US-Ameri­kaner jetzt schon den Terminus »Klassiker« für Anderson oder Corbet bemühen und damit glaube ich recht haben. Es ist auch zu früh, um The Brutalist mit einigen der genannten und vielen anderen Filmen letztlich ein für allemal zu verglei­chen und im Verhältnis zu ihnen einzu­ordnen.
Nur sagen diese Vergleiche natürlich etwas aus. Wir machen uns klar, dass wir es hier mit einem Film zu tun haben, der alleine schon in seinem Anspruch – selbst dort wo er diesem Anspruch mögli­cher­weise nicht genügt wird oder gar (Gott bewahre!) scheitert – doch weit über das hinaus­geht, was man so die Durch­schnitts­filme des Kinos nennt, und auch weit über das hinaus, was man norma­ler­weise bei Film­fes­ti­vals, auch bei sehr guten, geboten bekommt. Wir alle sehnen uns danach, hat Janick Nolting zu The Brutalist auf Kinozeit geschrieben, einen Film zu sehen, der es mit der Film­ge­schichte und ihren Klas­si­kern aufnehmen kann. Dieser hier ist einer.