30.01.2025

Der blutige Biss der Postmoderne

Oh Schreck
Johanna Kappauf in der Paraderolle des Stummfilmhorrors
(Foto: Münchner Kammerspiele © Armin Smailovic)

Schon wieder »Nosferatu«: Jan-Christoph Gockel inszeniert an den Münchner Kammerspielen eine Variation des Stummfilmklassikers mit ganz viel Selbstbezug und noch mehr Klamauk

Von Benedikt Guntentaler

Vampire sind wieder in! Robert Eggers’ Neuin­ter­pre­ta­tion des Klas­si­kers von Murnau und Bram Stoker ist mit knapp einer halben Million Zuschauer ein durch­schla­gender Erfolg an den Kino­kassen. Über die Qualität herrschen gemischte Gefühle. Zu altbacken ist er vielen, andere stören sich an der (neuen) zombie­haften Darstel­lung des Grafen Orlok.

Jetzt kommt der Kino-Klassiker auch auf die Bühne: Jan-Christoph Gockel insze­niert an den Münchner Kammer­spielen unter dem Titel »Oh Schreck« – und nimmt einen anderen Weg. Ganz im Sinne der Post­dra­matik und -moderne legt er seine Variation als Spiel im Spiel an, als Reise durch die Popkultur, als große Feier: als Spektakel.

Das beginnt bereits mit dem anfäng­li­chen Gag, der Max Schreck, den Darsteller von F.W. Murnaus filmi­schem Ur-Nosferatu, höchst­selbst erneut in seine Vampir­rolle schlüpfen lässt. Der einstige Kammer­spiele-Schau­spieler ist noch immer am Haus tätig, so die auf das Theater gemünzte Legende, und ist, selbst ein Blut­sauger, zur Verkör­pe­rung der Rolle geworden, die ihn bekannt gemacht hat. Viele, viele Ebenen also: Eine Schau­spie­lerin (Johanna Kappauf), die einen Schau­spieler spielt (Max Schreck), der zu seiner Rolle geworden ist (Nosferatu). Jener spielt dann auch gleich wieder doppelt, das Stück »Oh Schreck!« (das wir sehen) ist die Darstel­lung der Proben zum Meta-Stück »Nosferatu«, das vor unseren Augen insze­niert wird. Der (gespielte) Regisseur hat noch dazu die zwei­fel­hafte Idee, den Stumm­film­klas­siker als stummes Theater zu insze­nieren.

Die Story hält noch mehr Wendungen und Abstrak­tionen bereit, verliert sich in immer neuen Abschwei­fungen und Ablen­kungen, vermeidet konse­quent, die eine Geschichte zu erzählen (welche sie auch immer sei).
Es gibt gespielte wie echte Vampire, der eigent­liche Kern (Nosferatu) rückt immer weiter in den Hinter­grund, Einzel­szenen domi­nieren den Abend. So wild und anar­chisch das klingen mag, umso mehr verliert es sich im banalen Klamauk.

Dabei fängt es gar nicht verkehrt an. Für kurze Zeit sehen wir, wie es wirklich aussiehen könnte, den Stummfilm auf die Bühne zu holen: Das Ensemble hat hand­ge­fer­tigte, elas­ti­sche, schwarze Puppen vor sich gespannt, die den eigenen Körper gewis­ser­maßen verlän­gern und doppeln, ihn glei­cher­maßen schwer­fäl­liger werden lassen. Wie in Trance bewegen sie sich über die Bühne, die unge­lenken, langsamen Bewe­gungen bekommen schnell etwas Tänze­ri­sches. Auf einer großen Leinwand, die nahezu die gesamte Bühne beherrscht (die gedreht werden kann, was einen Wechsel zwischen Projek­tions- und Spiel­fläche ermög­licht), werden die Dialoge und Hand­lungs­be­schrei­bungen digital einge­schrieben. Immer wieder gesellen sich (ebenfalls compu­ter­ge­nerierte) Hinter­gründe zu den Text­fel­dern, die an die verwin­kelten Kulissen des expres­sio­nis­ti­schen Stumm­films erinnern. Das mag eine einfache Idee sein, aber sie funk­tio­niert – gerade in Beglei­tung der Livemusik.

Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer, bereits nach wenigen Minuten kommt der (fiktio­nale) Regisseur auf die Bühne, die Illusion wird zerrissen und der (fiktio­nale) Alltag der Proben drängt sich auf. Ab hier wird das Stück zu einem Spiel der (Selbst-)Refe­renzen. Die Leinwand wird nun für Einspieler genutzt, in denen der Beset­zungs­stab von sich und den anderen erzählt, stilis­tisch nähern sich die State­ments den Kommen­taren irgend­wel­cher Promis, wie man sie aus »Die ulti­ma­tive Chartshow« oder ähnlichen B-Programmen kennt. Diese Kommen­tare sind bereits innerhalb jener Sendungen nicht besonders witzig, durch den schier unend­li­chen Zynismus des Internets haben es manche (oder besser noch: das allge­meine Konzept) dennoch zu zwei­fel­haftem Ruhm gebracht. Gockel übernimmt sie für seine Insze­nie­rung, nutzt sie als Kommentar auf das Geschehen, doch von Beginn an ist klar: Es ist nur Pose, es ist ein ausge­stellter Gag, über den man lediglich lacht, weil man schon so oft darüber gelacht hat, weil man den Aufbau kennt und bemerkt: Das ist ein Witz, das muss lustig sein, hier lache ich.

Die Sperenz­chen nehmen dann ihren Lauf. In zuge­ge­be­ner­maßen schicken Kostümen rasen die (allesamt talen­tierten, das muss gesagt sein) Schau­spieler*innen von Gag zu Gag, von Referenz zu Referenz. Die Video­pro­jek­tion wird immer domi­nanter, zum Teil ersetzt sie gar das eigent­liche Schau­spiel, fegt die Akteure von der Bühne. Es werden alle Register gezogen: Gesangs­ein­lagen, Stro­bo­licht, Nebel, Hebebühne und – natürlich – Zuschau­er­inter­ak­tionen, die größte Unart des modernen Theaters. Natürlich können sich die Vampire nicht den ganzen Abend lang gegen­seitig zerflei­schen, jemand aus dem Publikum muss herhalten. Nach einer kurzen Frage­runde, was es denn zum Abend­essen gegeben hat, entscheidet man sich. Ich hatte Glück: Es trifft die junge Dame links von mir (eine Mitar­bei­terin des Stücks), die in der Folge genüss­lich auf der Bühne zerlegt wird. Für sie sicher­lich nicht der spaßigste Moment, konnte ich immerhin mit einem größeren Komfort vorlieb nehmen.

Man könnte nun noch mehr Beispiele aufführen. Viel passiert nämlich schon in diesem Stück, und man kann es durchaus kreativ nennen. Nur greifen diese Momente nie inein­ander, begnügen sich mit sich selbst. Es finden sich keine Brüche, keine entge­gen­ge­setzten Stile, auch die ruhigen bis emotio­nalen Momente gegen Ende verblassen völlig. (Ein Baustrahler wird aufs Publikum gerichtet, wir erkennen: So müssen sich die Vampire fühlen, sind sie dem Sonnen­licht ausge­setzt…)
Ein Licht­blick ist die wie immer heraus­ra­gende Katharina Bach, die als laszive wie verwirrte Van-Helsing-Variation die besten Szenen hat. Es gibt einen sehr komischen Monolog, der sich stetig selbst wieder­holt, in Asso­zia­ti­ons­ketten verliert. Zwei­fels­ohne der beste Moment – zudem noch von Bach selbst geschrieben.

»Oh Schreck!« ist Theater als reines Event, ein Konglo­merat aus bereits Bekanntem und Gesehenem, das all dies noch einmal ausbreitet, sich noch einmal darüber lustig macht, es noch einmal abstrakter werden lässt, bis es eben gar nichts mehr ist außer dem Event. Ein Ausruhen auf sich selbst, auf den Strö­mungen, denen man im popkul­tu­rellen Leben und Alltag erliegt, und die man nun unter dem Thema »Vampir« einmal zusam­men­fügt. Darin liegt nichts Ernst­haftes, nichts Schönes, nichts Roman­ti­sches und nichts Erhel­lendes, glei­cher­maßen aber ebenso wenig Anar­chi­sches oder Parodis­ti­sches. Es ist ein Erliegen vor sich selbst, vor dem Theater und dem Erzählen, das traurige Einge­ständnis, dass ja wirklich schon alles gesagt wurde, wir nur in der Wieder­ho­lung der Wieder­ho­lung leben. Doch selbst, wenn das stimmen sollte (wovon keines­wegs auszu­gehen ist), dann wird hier nichts daraus gelernt.

Die viel­leicht tref­fendste Beschrei­bung der Post­mo­derne (diesem vagen Unwort, das doch irgendwo alles bedeuten kann) stammt von David Foster Wallace: »Viel­leicht ist es ja wirklich so, wie die Avant-Avant­gar­disten vor, ups!, erst 70 oder 80 Jahren argu­men­tiert haben, dass 'Selbst­be­zo­gen­heit' genauso wie alles andere etwas ist, das ein Genre, eine Szene, einen Ort und eine Zeit definiert – nur ein weiteres Fenster, dick und schmutzig, kugel­si­cher und paral­lak­tisch, wo deine Position dir vorgibt, was du gerade siehst, wo Sound und Gesten zersplit­tern, im Außen alles still ist und jeder allein und frei.«

Freies Theater, ja, doch in erster Linie eins der Isolation, des Allein­seins. Die große Party findet auf der Bühne statt, doch sie ist keine Befreiung, sie nimmt keinen Abstand, sie feiert nur sich selbst; ist kein Eska­pismus, ist keine Lupe, kein Brennglas, sondern reine Selbst­be­zo­gen­heit.
Natürlich darf jeder mitmachen, aber auch wirklich nur jeder für sich selbst. »Stell dir vor, es gibt eine Demo und jeder geht hin!« (Mark Fisher)
Zumindest vom Vorwurf des intel­lek­tu­ellen Elita­rismus ist dieses Theater weit entfernt.