Kino und Wahrheit |
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Vom Verschwinden der iranischen Heimat: The Vanishing Point | ||
(Foto: Visions du Réel | Pensée sauvage) |
Von Dunja Bialas
Aufbruch der Dokumentarfilme. Immer im Frühling trifft sich der harte Kern der Dokumentarfilm-Aficionados am Genfer See, oder Lac Léman, wie das riesige Gewässer auf Französisch heißt. Einen wesentlichen Teil des Festivals beansprucht die Branche. Es gibt das »Rough Cut Lab« für Projekte, die noch nicht abgeschlossen sind, und das VdR–Pitching als Co-Produktions- und Finanzierungsplattform.
Wo die Drehscheiben der Branche in Betrieb gehalten werden, kommt oft die kritische Auseinandersetzung mit den Filmen zu kurz. Typisch ist dann die Würdigung der vorgestellten Stoffe, die Dokumentarfilme oftmals erst zur handelbaren Ware machen. Das Auswahlteam von »Visions du Réel«, das sich um die künstlerische Leiterin Émilie Bujès gruppiert, weiß von dieser Gefahr. So finden sich in den einzelnen Sektionen, im internationalen, im Schweizer Wettbewerb und vor allem in »Burning Lights«, immer wieder auch widerständige Filme, die sich der Dokumentarfilmkonsumtion verweigern.
Dazu gehört auch, sich der schönen Bilder zu enthalten, wie es einst das Credo des »Cinéma vérité« von Jean Rouch war, oder der großen Gesten, die starke Emotionen hervorrufen oder betroffen machen. Auch die Protagonisten, die einen Dokumentarfilm tragen dürfen, als seien es Spielfilme, und zur Identifikation einladen, fehlen in diesem filmischen Widerstand gegen die Einverleibung der Bilder.
Die widerständigen Filme zeichnen sich vielmehr durch einen bewussten Umgang mit der dokumentarischen Form aus. Man könnte sie deshalb auf einer Meta-Ebene auch intellektuell nennen, obgleich ihre Sujets oder ihre Herangehensweise das keinesfalls sein müssen. Diese Filme wollen Bilder nicht zur Darstellung von Zuständen oder Ereignissen. Sie sind Godards denkende Form, une forme qui pense, die über die gezeigten Bilder zu einer nicht schon thematisch in den Bildern angelegte Aussage gelangt. Das sind dann Dokumentarfilme, die über sich selbst – das Dargestellte und die filmische Form – hinausweisen. Das wirkt auch deshalb anti-konsumatorisch, weil sich das Dargestellte der schnellen Rezeption verweigert, weil die Filme sich erst zeigen müssen, während sie gesehen werden, weil sie nicht gleich das Sujet auf dem Silbertablett präsentieren oder weil sich unter dem Dargestellten viele Schichten verbergen. Die herauszuarbeiten man sich unbedingt die Mühe machen sollte.
Solch ein Werk ist zum Beispiel Sylvain Georges Nuit-Obscure-Trilogie. Der dritte, in Nyon in Weltpremiere gezeigte Teil – die anderen beiden Teile wurden in Locarno uraufgeführt – zeigt die Ankunft geflüchteter Minderjähriger aus Marokko in Paris, die George seit dem ersten Teil, der 2022 in Melilla begann, begleitet.
Melilla ist eine spanische Enklave in Marokko, ist die Landgrenze zwischen dem afrikanischen Kontinent und Europa. Eine Pufferzone, in der die europäische Migrationspolitik, ihre Herausforderungen und ihre Folgen zu sehen sind, in der die Migranten aus dem Maghreb zusammenkommen. Die Jugendlichen sind der Alptraum von Merz, Meloni und der AfD. Sie sind die Harragas, diejenigen, die illegal nach Europa kommen, die nicht einmal asylberechtigt sind und die »ihre Papiere verbrennen«, so die Übersetzung des arabischen Ausdrucks. Sie haben nichts mehr zu verlieren, außer ihr Leben. Wild Leaves (Feuillets sauvages) nannte Sylvain George sie im ersten Teil.
Sein Filmschaffen hat der 1968 in Lyon geborene Filmemacher schon immer den Flüchtlingen gewidmet, hat ihre Lager gefilmt, ihr miserables Leben an der Grenze ihrer Hoffnungen und Wünsche. Aber noch nie war er so exzessiv, hat so viel Zeit mit ihnen verbracht wie jetzt in seiner Trilogie der Dunkelheit. 265 Minuten, fast fünf Stunden lang ist der erste Teil, der vom langen Warten erzählt. Auch der zweite Teil Goodbye here, anywhere (Au revoir ici, n’importe où) verharrt vor den EU-Grenzzäunen. Kein Fortkommen, nur warten, warten, warten. Und sich die Zeit vertreiben.
Im dritten Teil Ain’t I a Child? nun sind die Jugendlichen in Paris angekommen. Sie hängen am Trocadéro ab, der Eiffelturm blinkt und hohnleuchtet im Hintergrund. Alle tragen Markenklamotten oder Fake, Adidas, Nike, schwere Uhren am Handgelenk, fancy Jogginghosen, Käppis, gegessen werden Prinzenrolle, Oreokekse, Hauptsache eine Marke steht auf den Verpackungen. Ein Gitter ist ihr Treffpunkt und ihre Liegestatt, ein Schacht tut sich darunter auf wie ein Loch. Ihr Leben besteht aus Diebstahl & Drogen, der Film problematisiert nicht, schaut nur hin und dokumentiert, sieht zu, die Fragen stellt man sich selbst. Das ist traurig, erschütternd, roh. Und lang. Lange, ungeschnittene Szenen, die sich entwickeln, ohne dass sie selbst wüssten, wohin.
Sylvain George filmt in Schwarzweiß, in groben, harten Kontrasten. Oft ist es bereits dämmrig, das Bild versinkt ins Graue hinein, oder es ist Nacht, dann leuchten die Logos wie Katzenaugen. George zeigt, er mischt sich nicht ein, er fragt nicht und hinterfragt nicht. Wir sehen eine Sehnsucht nach dem Konsum, nach einer Partizipation an der Warenwelt, die auch ratlos macht.
Georges Dokumentarfilme sind poetisch. Man könnte ihn auch einen politischen Aktivisten nennen, keiner kommt den Geflüchteten so nahe, wie er es tut, aber nichts ist zugleich so wenig an der Problemlösung interessiert wie seine Filme. Seine Filme blicken in die Seele der Jugendlichen. Diese sind einsam, fern von den Eltern, den Geschwistern, aber nie allein. Sie sprechen über die Foyers, bei denen sie Zuflucht finden können, sie wissen, dass sie als Minderjährige noch das bessere Los gezogen haben. Die Volljährigkeit kommt näher. Ain’t I a Child?
Die Szenen laufen lang, im Stil des Direct Cinema, sich nicht einmischend, nur beobachtend, es dauert, bis ein Schnitt und eine nächste Szene kommen. In einer Dramaturgie der Zeitlosigkeit, die keinen Bildungsroman kennt, kein Vorankommen und auch kein Ende, treten die Ausweglosigkeit und die Zukunftslosigkeit hervor. Und natürlich stellen sich Fragen nach ihrer Existenz in Paris, und ob sie nicht ein besseres Leben in Marokko hätten. Dass sie so sehr die Welt des Konsums interessiert und nicht die hehren Werte des Abendlandes wie etwa Bildung, provoziert den westlichen Zuschauer auch unterschwellig. George will dieses Gefühl heraufbeschwören, will zeigen, dass sich die Verhältnisse ändern müssen, will die Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Sylvain Georges Filme antworten nicht auf Fragen. Sie sind die Frage.
Die iranische Filmemacherin und bildende Künstlerin Bani Khoshnoudi filmt von einem völlig anderen Standpunkt als Sylvain George. Sie beobachtet nicht, sie ist Teil ihrer Erzählungen und trotzdem nicht die Protagonistin ihrer sehr persönlichen Filme. Ihr Fixpunkt, Fluchtlinie oder vanishing point, wie ihr jüngster Film heißt, der in Nyon ebenfalls Weltpremiere hatte und in der Sektion »Burning Lights« lief, ist die Geschichte ihrer Familie und der iranischen Heimat, die sie kaum kennenlernen konnte, weil ihre Eltern mit ihr schon 1979, zur Zeit der Islamischen Revolution, aus Teheran in die USA migrierten. Der Rest der Familie, die Großeltern, die Tante, die Cousine, blieben im Iran, sie hat sie immer wieder besucht.
The Vanishing Point bricht nun das jahrzehntelange Schweigen über das Schicksal ihrer Cousine, die während der sogenannten »Säuberungen« in den politischen Gefängnissen hingerichtet wurde. Mit ihrer 16mm-Kamera filmt Bani Khoshnoudi Fotos, Tücher, Koffer, kleine Gegenstände, Nippes, viele rätselhafte Erinnerungsstücke der Familie und verknüpft sie mit den Aufnahmen von Fahrten durch Teheran, von den Blumenverkäufern am Straßenrand, den Leuchtreklamen, zeigt die Menschen in ihrem Alltag. In einem Epilog reiht sie schließlich Handyaufnahmen, Footage aus dem Internet, von Mädchen, die ihre Kopftücher in den Straßen schwenken, die ihre Haare zeigen, die von der Miliz überwältigt werden.
Khoshnoudi hat fünfzehn Jahre lang gefilmt, von 2000 bis 2014, bis sie wegen ihrer politischen Bestandsaufnahmen nicht mehr in den Iran zurückkehren durfte. Sie habe »die ganze Zeit gefilmt«, erzählt sie in Nyon, unterschiedslos: Straßenszenen, Familienszenen, die Stadt, die Tante, die verlassene Wohnung der verstorbenen Großeltern, jedes kleine Detail, Unscheinbares. Wie in einer unbändigen Sehnsucht nach dem Festhalten ihrer Heimat, die ihr entgleitet, die sich ihr entzieht, die wenig später, als sie nicht mehr zurückkehren darf, für immer verschwindet.
The Vanishing Point sei deshalb auch kein gedrehter Film, und auch kein Film »über«, etwa über ihre Cousine, sagt sie. The Vanishing Point ist ein Material- und Montagefilm, der unter der Hand von Claire Atherton entstanden ist. Die Editorin ist bekannt für die Filme, die sie für Chantal Akerman geschnitten hat, die Khoshnoudi wiederum als einen weiteren Fixpunkt ihres künstlerischen Schaffens nennt. In der reichen Materialansammlung formuliert Khoshnoudi zugleich ein Misstrauen in die Bilder, wie sie auch die Zeugenschaft der Bilder aufruft; in diesem Spannungsverhältnis ereignet sich die Bilderflut ihres Films: Aber auch sie kann die Heimat nicht festhalten, geschweige denn wiederbringen.
»Ich bin heimgesucht vom Verschwinden«, sagt sie, hanté, als wäre das Verschwinden ein Geist, der Besitz von ihr nimmt. Sie möchte ein Kino machen, das einen Grabstein setzt für all jene, die einfach weg sind, von einem Tag auf den anderen. Wie ihre Cousine, wie die jungen Demonstrantinnen aus den Straßen von Teheran, wie die Fotos aus dem Album, das sie mit ihrer Tante zu Beginn des Films durchblättert.
Der Furor steckt in der Fülle der Bilder, die sie zusammengetragen hat, in den Super-8-Aufnahmen der Home Movies ihrer Familie und im 16mm-Material, das sie selbst gefilmt hat. Das Filmkorn ist die letzte Materialität, die ihr geblieben ist. Und der Film, ein flirrendes, tagebuchartiges Monument der Erinnerung und der Anklage.