10.04.2025

Kino und Wahrheit

The Vanishing Point
Vom Verschwinden der iranischen Heimat: The Vanishing Point
(Foto: Visions du Réel | Pensée sauvage)

Widerständige Filme auf dem 56. Dokumentarfilmfestival Visions du Réel in Nyon

Von Dunja Bialas

Aufbruch der Doku­men­tar­filme. Immer im Frühling trifft sich der harte Kern der Doku­men­tar­film-Afici­o­nados am Genfer See, oder Lac Léman, wie das riesige Gewässer auf Fran­zö­sisch heißt. Einen wesent­li­chen Teil des Festivals bean­sprucht die Branche. Es gibt das »Rough Cut Lab« für Projekte, die noch nicht abge­schlossen sind, und das VdR–Pitching als Co-Produk­tions- und Finan­zie­rungs­platt­form.

Wo die Dreh­scheiben der Branche in Betrieb gehalten werden, kommt oft die kritische Ausein­an­der­set­zung mit den Filmen zu kurz. Typisch ist dann die Würdigung der vorge­stellten Stoffe, die Doku­men­tar­filme oftmals erst zur handel­baren Ware machen. Das Auswahl­team von »Visions du Réel«, das sich um die künst­le­ri­sche Leiterin Émilie Bujès gruppiert, weiß von dieser Gefahr. So finden sich in den einzelnen Sektionen, im inter­na­tio­nalen, im Schweizer Wett­be­werb und vor allem in »Burning Lights«, immer wieder auch wider­s­tän­dige Filme, die sich der Doku­men­tar­film­kon­sum­tion verwei­gern.

Dazu gehört auch, sich der schönen Bilder zu enthalten, wie es einst das Credo des »Cinéma vérité« von Jean Rouch war, oder der großen Gesten, die starke Emotionen hervor­rufen oder betroffen machen. Auch die Prot­ago­nisten, die einen Doku­men­tar­film tragen dürfen, als seien es Spiel­filme, und zur Iden­ti­fi­ka­tion einladen, fehlen in diesem filmi­schen Wider­stand gegen die Einver­lei­bung der Bilder.

Die wider­s­tän­digen Filme zeichnen sich vielmehr durch einen bewussten Umgang mit der doku­men­ta­ri­schen Form aus. Man könnte sie deshalb auf einer Meta-Ebene auch intel­lek­tuell nennen, obgleich ihre Sujets oder ihre Heran­ge­hens­weise das keines­falls sein müssen. Diese Filme wollen Bilder nicht zur Darstel­lung von Zuständen oder Ereig­nissen. Sie sind Godards denkende Form, une forme qui pense, die über die gezeigten Bilder zu einer nicht schon thema­tisch in den Bildern angelegte Aussage gelangt. Das sind dann Doku­men­tar­filme, die über sich selbst – das Darge­stellte und die filmische Form – hinaus­weisen. Das wirkt auch deshalb anti-konsu­ma­to­risch, weil sich das Darge­stellte der schnellen Rezeption verwei­gert, weil die Filme sich erst zeigen müssen, während sie gesehen werden, weil sie nicht gleich das Sujet auf dem Silber­ta­blett präsen­tieren oder weil sich unter dem Darge­stellten viele Schichten verbergen. Die heraus­zu­ar­beiten man sich unbedingt die Mühe machen sollte.

Poetik und Politik: Ain’t I a Child?

Solch ein Werk ist zum Beispiel Sylvain Georges Nuit-Obscure-Trilogie. Der dritte, in Nyon in Welt­pre­miere gezeigte Teil – die anderen beiden Teile wurden in Locarno urauf­ge­führt – zeigt die Ankunft geflüch­teter Minder­jäh­riger aus Marokko in Paris, die George seit dem ersten Teil, der 2022 in Melilla begann, begleitet.

Melilla ist eine spanische Enklave in Marokko, ist die Land­grenze zwischen dem afri­ka­ni­schen Kontinent und Europa. Eine Puffer­zone, in der die europäi­sche Migra­ti­ons­po­litik, ihre Heraus­for­de­rungen und ihre Folgen zu sehen sind, in der die Migranten aus dem Maghreb zusam­men­kommen. Die Jugend­li­chen sind der Alptraum von Merz, Meloni und der AfD. Sie sind die Harragas, dieje­nigen, die illegal nach Europa kommen, die nicht einmal asyl­be­rech­tigt sind und die »ihre Papiere verbrennen«, so die Über­set­zung des arabi­schen Ausdrucks. Sie haben nichts mehr zu verlieren, außer ihr Leben. Wild Leaves (Feuillets sauvages) nannte Sylvain George sie im ersten Teil.

Sein Film­schaffen hat der 1968 in Lyon geborene Filme­ma­cher schon immer den Flücht­lingen gewidmet, hat ihre Lager gefilmt, ihr mise­ra­bles Leben an der Grenze ihrer Hoff­nungen und Wünsche. Aber noch nie war er so exzessiv, hat so viel Zeit mit ihnen verbracht wie jetzt in seiner Trilogie der Dunkel­heit. 265 Minuten, fast fünf Stunden lang ist der erste Teil, der vom langen Warten erzählt. Auch der zweite Teil Goodbye here, anywhere (Au revoir ici, n’importe où) verharrt vor den EU-Grenz­zäunen. Kein Fort­kommen, nur warten, warten, warten. Und sich die Zeit vertreiben.

Nuit obscure
(Foto: Visions du Réel | Sylvain George)

Im dritten Teil Ain’t I a Child? nun sind die Jugend­li­chen in Paris ange­kommen. Sie hängen am Trocadéro ab, der Eiffel­turm blinkt und hohn­leuchtet im Hinter­grund. Alle tragen Marken­kla­motten oder Fake, Adidas, Nike, schwere Uhren am Hand­ge­lenk, fancy Jogging­hosen, Käppis, gegessen werden Prin­zen­rolle, Oreokekse, Haupt­sache eine Marke steht auf den Verpa­ckungen. Ein Gitter ist ihr Treff­punkt und ihre Liege­statt, ein Schacht tut sich darunter auf wie ein Loch. Ihr Leben besteht aus Diebstahl & Drogen, der Film proble­ma­ti­siert nicht, schaut nur hin und doku­men­tiert, sieht zu, die Fragen stellt man sich selbst. Das ist traurig, erschüt­ternd, roh. Und lang. Lange, unge­schnit­tene Szenen, die sich entwi­ckeln, ohne dass sie selbst wüssten, wohin.

Sylvain George filmt in Schwarz­weiß, in groben, harten Kontrasten. Oft ist es bereits dämmrig, das Bild versinkt ins Graue hinein, oder es ist Nacht, dann leuchten die Logos wie Katzen­augen. George zeigt, er mischt sich nicht ein, er fragt nicht und hinter­fragt nicht. Wir sehen eine Sehnsucht nach dem Konsum, nach einer Parti­zi­pa­tion an der Warenwelt, die auch ratlos macht.

Georges Doku­men­tar­filme sind poetisch. Man könnte ihn auch einen poli­ti­schen Akti­visten nennen, keiner kommt den Geflüch­teten so nahe, wie er es tut, aber nichts ist zugleich so wenig an der Problem­lö­sung inter­es­siert wie seine Filme. Seine Filme blicken in die Seele der Jugend­li­chen. Diese sind einsam, fern von den Eltern, den Geschwis­tern, aber nie allein. Sie sprechen über die Foyers, bei denen sie Zuflucht finden können, sie wissen, dass sie als Minder­jäh­rige noch das bessere Los gezogen haben. Die Voll­jäh­rig­keit kommt näher. Ain’t I a Child?

Die Szenen laufen lang, im Stil des Direct Cinema, sich nicht einmi­schend, nur beob­ach­tend, es dauert, bis ein Schnitt und eine nächste Szene kommen. In einer Drama­turgie der Zeit­lo­sig­keit, die keinen Bildungs­roman kennt, kein Voran­kommen und auch kein Ende, treten die Ausweg­lo­sig­keit und die Zukunfts­lo­sig­keit hervor. Und natürlich stellen sich Fragen nach ihrer Existenz in Paris, und ob sie nicht ein besseres Leben in Marokko hätten. Dass sie so sehr die Welt des Konsums inter­es­siert und nicht die hehren Werte des Abend­landes wie etwa Bildung, provo­ziert den west­li­chen Zuschauer auch unter­schwellig. George will dieses Gefühl herauf­be­schwören, will zeigen, dass sich die Verhält­nisse ändern müssen, will die Ratlo­sig­keit auf beiden Seiten. Sylvain Georges Filme antworten nicht auf Fragen. Sie sind die Frage.

Material und Montage: The Vanishing Point

Die iranische Filme­ma­cherin und bildende Künst­lerin Bani Khosh­noudi filmt von einem völlig anderen Stand­punkt als Sylvain George. Sie beob­achtet nicht, sie ist Teil ihrer Erzäh­lungen und trotzdem nicht die Prot­ago­nistin ihrer sehr persön­li­chen Filme. Ihr Fixpunkt, Flucht­linie oder vanishing point, wie ihr jüngster Film heißt, der in Nyon ebenfalls Welt­pre­miere hatte und in der Sektion »Burning Lights« lief, ist die Geschichte ihrer Familie und der irani­schen Heimat, die sie kaum kennen­lernen konnte, weil ihre Eltern mit ihr schon 1979, zur Zeit der Isla­mi­schen Revo­lu­tion, aus Teheran in die USA migrierten. Der Rest der Familie, die Großel­tern, die Tante, die Cousine, blieben im Iran, sie hat sie immer wieder besucht.

The Vanishing Point
(Foto: Visions du Réel | Pensée sauvage)

The Vanishing Point bricht nun das jahr­zehn­te­lange Schweigen über das Schicksal ihrer Cousine, die während der soge­nannten »Säube­rungen« in den poli­ti­schen Gefäng­nissen hinge­richtet wurde. Mit ihrer 16mm-Kamera filmt Bani Khosh­noudi Fotos, Tücher, Koffer, kleine Gegen­s­tände, Nippes, viele rätsel­hafte Erin­ne­rungs­stücke der Familie und verknüpft sie mit den Aufnahmen von Fahrten durch Teheran, von den Blumen­ver­käu­fern am Straßen­rand, den Leucht­re­klamen, zeigt die Menschen in ihrem Alltag. In einem Epilog reiht sie schließ­lich Handy­auf­nahmen, Footage aus dem Internet, von Mädchen, die ihre Kopf­tücher in den Straßen schwenken, die ihre Haare zeigen, die von der Miliz über­wäl­tigt werden.

Khosh­noudi hat fünfzehn Jahre lang gefilmt, von 2000 bis 2014, bis sie wegen ihrer poli­ti­schen Bestands­auf­nahmen nicht mehr in den Iran zurück­kehren durfte. Sie habe »die ganze Zeit gefilmt«, erzählt sie in Nyon, unter­schiedslos: Straßen­szenen, Fami­li­en­szenen, die Stadt, die Tante, die verlas­sene Wohnung der verstor­benen Großel­tern, jedes kleine Detail, Unschein­bares. Wie in einer unbän­digen Sehnsucht nach dem Fest­halten ihrer Heimat, die ihr entgleitet, die sich ihr entzieht, die wenig später, als sie nicht mehr zurück­kehren darf, für immer verschwindet.

The Vanishing Point sei deshalb auch kein gedrehter Film, und auch kein Film »über«, etwa über ihre Cousine, sagt sie. The Vanishing Point ist ein Material- und Monta­ge­film, der unter der Hand von Claire Atherton entstanden ist. Die Editorin ist bekannt für die Filme, die sie für Chantal Akerman geschnitten hat, die Khosh­noudi wiederum als einen weiteren Fixpunkt ihres künst­le­ri­schen Schaffens nennt. In der reichen Mate­ri­al­an­samm­lung formu­liert Khosh­noudi zugleich ein Miss­trauen in die Bilder, wie sie auch die Zeugen­schaft der Bilder aufruft; in diesem Span­nungs­ver­hältnis ereignet sich die Bilder­flut ihres Films: Aber auch sie kann die Heimat nicht fest­halten, geschweige denn wieder­bringen.

»Ich bin heim­ge­sucht vom Verschwinden«, sagt sie, hanté, als wäre das Verschwinden ein Geist, der Besitz von ihr nimmt. Sie möchte ein Kino machen, das einen Grabstein setzt für all jene, die einfach weg sind, von einem Tag auf den anderen. Wie ihre Cousine, wie die jungen Demons­tran­tinnen aus den Straßen von Teheran, wie die Fotos aus dem Album, das sie mit ihrer Tante zu Beginn des Films durch­blät­tert.

Der Furor steckt in der Fülle der Bilder, die sie zusam­men­ge­tragen hat, in den Super-8-Aufnahmen der Home Movies ihrer Familie und im 16mm-Material, das sie selbst gefilmt hat. Das Filmkorn ist die letzte Mate­ria­lität, die ihr geblieben ist. Und der Film, ein flir­rendes, tage­buch­ar­tiges Monument der Erin­ne­rung und der Anklage.